RBOG 2001 Nr. 34
Unentgeltliche Prozessführung: Berücksichtigung des effektiven oder eines hypothetischen Einkommens?
1. Natürlichen Personen, denen die Mittel fehlen, um neben dem Lebensunterhalt für sich und ihre Familie die Gerichts- und Anwaltskosten aufzubringen, wird auf Gesuch die unentgeltliche Prozessführung bewilligt, sofern der Prozess nicht als aussichtslos erscheint (§ 80 Abs. 1 ZPO).
2. a) Bei der Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung geht es nicht um die Gewährung einer Rechtswohltat, sondern um die Prüfung eines verfassungsrechtlichen Anspruchs (Art. 29 Abs. 3 BV). Das Bundesgericht hielt bereits in BGE 58 I 292 (bestätigt in BGE 108 Ia 109 f., 99 Ia 442) fest, einem Gesuchsteller dürfe die unentgeltliche Prozessführung nicht deshalb verweigert werden, weil er die Armut selbst verschuldet habe. Eine derartige Benachteiligung widerspreche der Rechtsgleichheit. Auch diejenige Person, die ihre Mittellosigkeit verschuldet habe, müsse ihre Rechte auf prozessualem Weg durchsetzen oder verteidigen können. Es komme grundsätzlich auf die augenblicklichen Verhältnisse des Gesuchstellers an. Es dürfe ihm nicht entgegengehalten werden, in seinem Berufsstand seien freie Stellen vorhanden und würden Löhne ausbezahlt, welche die Begleichung der Prozesskosten gestatteten. Allerdings bestehe die Möglichkeit, die unentgeltliche Prozessführung wegen Rechtsmissbrauchs zu verweigern. Diese sei aber auf Fälle beschränkt, in denen der Gesuchsteller gerade im Hinblick auf den zu führenden Prozess eine Arbeitsstelle aufgegeben oder eine andere nicht angetreten habe (BGE 104 Ia 34).
b) Gestützt auf diese Bundesgerichtsentscheide geht insbesondere die neuere Praxis davon aus, abzustellen sei - unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs - auf das effektive Einkommen der gesuchstellenden Person und nicht auf dasjenige, das sie an sich erzielen könnte, wenn sie sich ihren Möglichkeiten entsprechend bemühen würde (Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3.A., S. 550; Bühler, Die Prozessarmut, in: Schöbi [Hrsg.], Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, Bern 2001, S. 138; Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5.A., Art. 77 N 4a; Leuenberger/Uffer-Tobler, Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen, Bern 1999, Art. 281 N 5; Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A., § 84 N 14a; Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 125 N 9, 11; Studer/Rüegg/Eiholzer, Der Luzerner Zivilprozess, Luzern 1994, § 130 N 3; Staehelin/Sutter, Zivilprozessrecht, Zürich 1992, § 15 N 21; Erläuterungen zum Kreisschreiben Nr. 18 des Appellationshofs und des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, in: ZBJV 136, 2000, S. 594; Kley-Struller, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, in: AJP 1995 S. 181). In Konsequenz davon wird jede hypothetische Einkommens- oder Vermögensaufrechnung verneint.
Hingegen vertraten das Obergericht des Kantons Zürich (ZR 87, 1988, Nr. 114), die Justizkommission des Kantons Luzern (LGVE 1995 I Nr. 33) sowie das aargauische Obergericht (Ries, Die unentgeltliche Rechtspflege nach der aargauischen Zivilprozessordnung, Diss. Zürich 1990, S. 87 Anm.78) die Auffassung, bei der Berechnung des zivilprozessualen Notbedarfs sei ein mögliches, aus selbst zu vertretenden Gründen aber nicht realisiertes Einkommen anzurechnen. Auch das Obergericht des Kantons Thurgau (bzw. dessen Rekurskommission) entschied wiederholt, die unentgeltliche Prozessführung werde nicht bewilligt, wenn die gesuchstellende Person in der Lage wäre, sich die nötigen Mittel für den Prozess durch Arbeit zu beschaffen (RBOG 1985 Nr. 15), bzw. es sei grundsätzlich nicht massgebend, ob die finanzielle Notlage selbstverschuldeter Natur sei oder nicht, solange der Gesuchsteller sich um eine ihm nach Ausmass und Art zumutbare Tätigkeit bemühe (RBOG 1994 Nr. 24 S. 141, 1992 Nr. 27 S. 118; vgl. Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, Bern 2000, § 80 N 7b, 9b). Begründet wurde diese Auffassung insbesondere damit, die unentgeltliche Prozessführung sei ein Spezialfall staatlicher Sozialhilfe, weshalb § 8b Sozialhilfegesetz (Pflicht zur Arbeitsaufnahme bzw. Kürzung oder Einstellung der Unterstützung bei Weigerung) zumindest analog anwendbar sei. Allerdings setzte das Bundesgericht den Kantonen im Bereich des allgemeinen Sozialhilferechts praktisch (noch) keine durch Konkretisierung der verfassungsmässig garantierten Grundrechte entwickelte Leitplanken bzw. entschied in BGE 122 II 199 im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Existenzsicherung sogar, es sei zulässig, ein Verschulden des Leistungsansprechers oder eine mangelnde Kooperation mit den Behörden bei der Bemessung der Unterstützung zu berücksichtigen (vgl. dazu die Kritik bei Müller, S. 178 Anm. 51). Im Bereich der unentgeltlichen Prozessführung indessen konkretisierte das Bundesgericht (BGE 104 Ia 34) den verfassungsmässig garantierten Anspruch und stellte insbesondere verbindlich fest, abgesehen von Fällen des Rechtsmissbrauchs dürfe ein Selbstverschulden des Gesuchstellers an seiner Mittellosigkeit nicht berücksichtigt werden. Das schliesst in aller Regel auch aus, dem Gesuchsteller bei mangelhafter Ausschöpfung seiner Arbeitskraft ein hypothetisches Einkommen anzurechnen, ausser er verringere nachweislich sein Einkommen gerade im Hinblick auf einen zu führenden Prozess oder erhöhe seine Arbeitsleistung nicht, obwohl ihm dies zuzumuten wäre. Dieser Nachweis dürfte in der Praxis allerdings schwer zu führen sein. Dabei wird nicht verkannt, dass auf diese Weise Personen in den Genuss von Sozialleistungen kommen können, die sie eigentlich (zumindest moralisch) nicht verdient hätten. Mit Blick auf die Bedeutung des Grundsatzes des freien Zugangs zu den Gerichten und der Rechtsgleichheit sind diese Nachteile allerdings in Kauf zu nehmen.
c) Wurde einer Person, die bei gutem Willen mehr verdienen könnte, die unentgeltliche Prozessführung bewilligt, stellt sich indessen mit Blick auf §§ 84 und 81 Abs. 2 ZPO die Frage, ob sie nicht angehalten werden kann, innert angemessener Frist die ihr zumutbare Arbeitskraft auszuschöpfen mit der Konsequenz, dass im Unterlassungsfall die Bewilligung ab diesem Zeitpunkt entzogen und der Offizialanwalt abbestellt werden könnte. Dies wäre wohl dann zu bejahen, wenn der Gesuchsteller nachweislich mutwillig seine Leistungsfähigkeit trotz entsprechender Möglichkeiten nicht erhöhte bzw. keine entsprechenden Anstrengungen unternahm. Alsdann müsste der Bedürftige sich vorwerfen lassen, gerade im Hinblick auf die Weiterführung eines Prozesses die (zumutbare) Leistungsfähigkeit nicht gesteigert zu haben, was - auch gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung - rechtsmissbräuchlich sein könnte. In diesem Sinn bleibt die Feststellung in RBOG 1994 Nr. 24 (S. 142) weiterhin richtig, der Gedanke, dass ein Verschulden keine Rolle spiele, sei retrospektiv gerichtet, während die Voraussetzung einer Arbeitsaufnahme für die Zukunft gelte.
Obergericht, 13. August 2001, ZR.2001.69