RBOG 2002 Nr. 8
Bei der Berechnung des Versorgungsschadens ist auf den Nettoverdienst abzustellen
1. Im Rahmen einer Auseinandersetzung fügte X dem Y tödliche Verletzungen zu. Die Ehefrau des Verstorbenen macht u.a. einen Versorgungsschaden geltend.
2. Gestützt auf Art. 45 Abs. 3 OR hat der Schädiger denjenigen Personen, die durch die Tötung ihren Versorger verlieren, Ersatz für entgangenen Unterhalt zu leisten. Dieser Schadenersatz wird als Versorgungsschaden bezeichnet (Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, AT, Bd. I, 5.A., § 6 N 260; Keller, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, 2.A., S. 79 f.; Schaetzle/Weber, Kapitalisierung, 5.A., N 3.344). Der Versorgungsschaden ist eine besondere Art von Reflexschaden bzw. indirektem Schaden, der im Wegfall der Unterhaltsleistung des verstorbenen Versorgers unter Berücksichtigung der für ihn nicht mehr erforderlichen Aufwendungen besteht. Wie bei jeder Schadenersatzberechnung ist die wirtschaftliche Situation der Versorgungsgemeinschaft vor dem Ausfall des Versorgers mit der ökonomischen Lage nach dessen Ausfall zu vergleichen. Der um den ausgefallenen Versorger verminderte Haushalt soll mit dem Versorgungsschaden, der eine Bedürftigkeit vermeiden soll, im Wesentlichen den bisherigen Lebensstandard weiterführen können. Der Ansprecher soll nicht den ganzen Schaden ersetzt bekommen, sondern nur denjenigen, der durch den Wegfall der benötigten Versorgung entsteht (BGE vom 20. Juli 2001, 5C.7/2001, Erw. 8b mit Hinweisen).
Erfolgt die Versorgung aus dem Erwerbseinkommen, ist der jährliche Versorgungsausfall zu bestimmen, den die versorgte Person in Zukunft erleidet. Zunächst ist die Höhe des wegfallenden Verdienstes des Verstorbenen zu schätzen. Ausgangspunkt bildet in der Regel das Einkommen, das der Verstorbene zur Zeit des Unfalls erzielte; sodann sind Schätzungen über die wahrscheinliche Einkommensentwicklung vorzunehmen (Schaetzle/Weber, N 3.352). Die Höhe des zukünftigen Erwerbs ist weitgehend Tatfrage, wobei das Ermessen eine wesentliche Rolle spielt (Brehm, Berner Kommentar, Vorbem. zu Art. 45 und 46 OR N 11). Weil die Lebenskosten für eine alleinstehende Person regelmässig grösser sind als für eine in einer Gemeinschaft lebende Person, sind die Gesamtaufwendungen in fixe Kosten und variable, personenabhängige Ausgaben aufzuschlüsseln, damit die versorgte Person ihren Lebensstandard auch nach dem Tod des Versorgers beibehalten kann. Insoweit die Fixkosten der hinterbliebenen Person auch nach dem Tod des Versorgers anfallen, sind sie von dessen Einkommen vorweg abzuziehen. Vom Restbetrag ist der prozentuale Anteil abzuschätzen, den der Versorger für den Unterhalt der versorgten Person aufgewendet hätte. Anschliessend sind die subtrahierten Fixkosten wiederum zu addieren. Daraus resultiert der massgebende Versorgungsausfall (Schaetzle/Weber, N 3.356 mit Hinweisen; BGE 108 II 436 ff.). Nach der Schätzung des zukünftigen Schadens in seinem jährlichen Ausmass ist die mutmassliche Dauer des Ausfalls festzulegen (Brehm, Vorbem. zu Art. 45 und 46 N 27 mit Hinweisen). Alsdann hat - wie im gesamten Haftpflichtrecht üblich - eine Vorteilsanrechnung zu erfolgen (vgl. Keller, S. 96), und es sind aufgrund des Regressrechts der Sozialversicherer die Leistungen von Sozialversicherungen und Pensionskassen abzuziehen (Art. 48ter AHVG, Art. 41 ff. UVG, Art. 26 BVG).
Dem Grundsatz nach ist diese Schadensberechnung nicht bestritten. Uneinigkeit herrscht hingegen mit Bezug auf diverse Einzelfragen.
a) Bezüglich des massgeblichen Einkommens des Verstorbenen stellte die Vorinstanz auf den Bruttoverdienst zuzüglich der Arbeitgeberbeiträge für die erste und zweite Säule ab und folgte damit der bisherigen Praxis des Bundesgerichts (vgl. BGE 113 II 349 f.; Brehm, Vorbem. zu Art. 45 und 46 OR N 25 mit Hinweisen; Keller, S. 88). Begründet wurde dies damit, nur eine angemessene Berücksichtigung der Sozialversicherungsprämien gewähre einen umfassenden Schadenersatz, wobei in BGE 116 II 298 präzisiert wurde, dass Sozialversicherungsbeiträge nicht voll, sondern bloss insofern einzubeziehen seien, als sie eine rentenbildende Funktion hätten.
Eine andere Auffassung geht dahin, auf den Nettolohn abzustellen und anstelle der Sozialversicherungsbeiträge die Auswirkungen des Erwerbsausfalls auf die Altersrenten zu berücksichtigen. Zur Begründung wird angeführt, der Arbeitnehmer erhalte nur den Nettolohn zur freien Verfügung; nur in Bezug auf ihn entgehe ihm (bei voller Erwerbsunfähigkeit) die Dispositionsfreiheit, weshalb es nahe liege, der Berechnung des Invaliditätsschadens den Nettolohn zugrunde zu legen (Oftinger/Stark, § 6 N 144). Auch im Zusammenhang mit dem Versorgungsschaden sei das Einkommen massgebend, das dem Erwerbstätigen ausbezahlt werde, denn mit diesem Geldbetrag könne er seine Familie unterhalten (Oftinger/Stark, § 6 N 283 und Anm. 455). Werde der geschädigten Person der Nettolohn ersetzt, erhalte sie für die Aktivphase, das heisst die Zeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, den Schaden vollumfänglich ersetzt (Schaetzle/Weber, N 3.440). Hinter diesem Vorgehen stehe - so Schaetzle/Weber - auch die Überlegung, dass für die Beeinträchtigung künftiger Sozialversicherungsleistungen, die das Bundesgericht nebst dem Erwerbseinkommen ausgleichen wolle, nicht die Sozialversicherungsbeträge massgebend seien, sondern die dadurch bewirkten Leistungskürzungen bzw. der nicht finanzierte Anteil der hypothetischen Altersrenten. Die Erwerbsunfähigkeit führe zu einem Unterbruch der Finanzierung der Altersvorsorge. Die haftpflichtige Person habe nicht nur für den Erwerbsausfall im engeren Sinn, sondern auch für die Lücke einzustehen, die der Erwerbsausfall in der Finanzierung der Altersvorsorge hinterlasse. Es bestünden Anzeichen, dass sich das Bundesgericht mit der bisherigen Praxis bei sich bietender Gelegenheit auseinandersetzen werde. Eine Praxisänderung dränge sich umso mehr auf, als dem UVG-Versicherer (gestützt auf BGE 126 III 41 ff.) ein Regressrecht für die Leistungen nach der Pensionierung eingeräumt worden und eine sinnvolle Koordination nur mit einem Methodenwechsel zu erreichen sei (Schaetzle/Weber, N 3.441 f. mit Hinweisen, 4.51, 4.54, vgl. auch N 3.493 ff.).
b) Die Überlegungen von Schaetzle/Weber und Oftinger/Stark überzeugen, weshalb das Obergericht bezüglich des massgebenden Einkommens auf den Nettoverdienst abstellt. Zwar trifft der Einwand von Brehm (Vorbem. zu Art. 45 und 46 OR N 24) grundsätzlich zu, dass die mit den Abzügen finanzierten Versicherungen der Vorsorge für die Fälle, in denen der Geschädigte unabhängig vom betreffenden Haftpflichtfall einen Erwerbsausfall erleidet, dienen, und dass AHV- und BVG-Beiträge (wenn auch nur teilweise) die spätere Pensionierung finanzieren, von welcher auch normalerweise kein Erwerbsausfall mehr zu kapitalisieren ist. Wird indessen auf das Nettoeinkommen abgestellt, ist konsequenterweise zu prüfen, ob die Hinterbliebenen neben einem Versorgungsausfall aus Erwerb auch einen solchen aus den Altersrenten hinzunehmen haben. Mithin ist stets auch zu untersuchen, ob die geschädigte Person einen Rentenschaden erleidet. Unter dem Renten- bzw. Rentenkürzungsschaden ist der Verlust an Altersrenten zu verstehen, der durch die Einkommensverminderung als Folge der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit verursacht wird (BGE 126 III 46; Schaetzle/Weber, N 3.491, These 11). Gegen die zweiphasige Berechnung des Versorgungsschadens (Versorgungsausfall aus Erwerb und Versorgungsausfall aus Altersrenten) könnte eingewendet werden, diese Berechnungsmethode sei komplizierter. Auf den ersten Blick mag dieser Einwand zutreffen. Allerdings entsteht ein Renten-Direktschaden in der Regel nur, wenn sich das Einkommen künftig noch wesentlich erhöht hätte. Zudem gilt als Faustregel, dass, sofern ein UVG-Versicherer beteiligt ist, dies nur bei jüngeren Geschädigten und solchen in höheren Einkommensklassen zutrifft (vgl. Schaetzle/Weber, N 4.62, 3.445). Mithin resultiert infolge der recht hohen Sozialversicherungsleistungen in der Regel kein oder nur ein geringer Renten-Direktschaden. Auch angesichts der Regressbeträge mag es sich fragen, ob der Rentenschaden überhaupt zu berücksichtigen ist (vgl. Schaetzle/Weber, N 2.620, 3.553, 2.615).
Obergericht, 8. August 2002, SBO.2002.2