RBOG 2003 Nr. 30
"Bockigkeit" eines Untersuchungshäftlings als verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten?
1. a) X arbeitete als Betreuer in einem Wohn- und Werkheim. Im November 1999 meldete er der Polizei den Todesfall der Heiminsassin Y. Am gleichen Tag sowie zwei Wochen später wurde X polizeilich befragt. Nach jener Befragung wurde er drei Wochen in Untersuchungshaft gesetzt. Im April 2002 stellte die Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung ein, nahm die Verfahrenskosten auf die Staatskasse und entschädigte den Verteidiger.
b) Im August 2002 verlangte X eine Haftentschädigung seitens des Staates von rund Fr. 21'000.-- und eine Genugtuung von mindestens Fr. 8'000.--.
2. Bei Einstellung der Untersuchung und bei gerichtlichem Freispruch kann die angeschuldigte Person gemäss § 65 Abs. 1 StPO gegenüber dem Staat Schadenersatz und gegebenenfalls Genugtuung beanspruchen, wenn sie infolge des Strafverfahrens ungesetzlich oder unverschuldet ernstliche Nachteile, insbesondere einen Freiheitsentzug erlitt. Keinen solchen Anspruch besitzt die angeschuldigte Person, wenn sie durch verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten begründeten Anlass zum Strafverfahren oder zu den schädigenden Massnahmen gab (§ 65 Abs. 2 StPO).
Nicht nur ungesetzlich oder unverschuldet erlittene Untersuchungshaft, sondern auch andere Nachteile können eine Entschädigungspflicht des Staates auslösen (RBOG 1989 Nr. 41). Keinen solchen Anspruch besitzt, wer durch verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten begründeten Anlass zum Strafverfahren oder zu den schädigenden Massnahmen gab. Sträflich und leichtfertig ist eine an sich nicht rechtswidrige Handlung auch dann, wenn sie gegen Treu und Glauben oder gegen Sitte und Anstand verstösst und auf der Grenze zwischen strafbarer Handlung und Immoralität liegt, bzw. wenn der Verstoss mit Wissen und Willen oder aus grober Nachlässigkeit begangen wurde. Der Unterschied zwischen Leichtfertigkeit und Verwerflichkeit ist dabei lediglich quantitativer und nicht qualitativer Art (vgl. RBOG 1998 Nr. 34).
3. a) Die Staatsanwaltschaft lastete dem Beschwerdeführer an, er habe sich in der Einvernahme von Anfang Dezember 1999 und vermehrt noch in denjenigen von Mitte Dezember 1999 "bockig" verhalten und keine Fragen mehr beantworten wollen. Seine Kooperationsbereitschaft sei damals nicht mehr vorhanden gewesen. Hinzu komme, dass er immer wieder Erinnerungslücken für die Zeit vor dem Entdecken der Toten geltend gemacht habe, wobei weder seine Ex-Frau noch der Heimleiter je festgestellt hätten, dass er solche Erinnerungslücken immer wieder einmal gehabt habe. Selbstverschuldet habe er also auch dadurch den dringenden Tatverdacht gesteigert und so seine Untersuchungshaft verlängert.
b) Nach Auffassung des Obergerichts muss der Vorwurf der angeblichen "Bockigkeit" nicht unwesentlich relativiert werden. Die erste polizeiliche Befragung fand rund eine Stunde, nachdem X die Heiminsassin Y tot aufgefunden hatte, statt. Als Ende November 1999 die Hausdurchsuchung durchgeführt wurde, war auch vorgesehen gewesen, den Beschwerdeführer nochmals eingehend polizeilich zu befragen. Es stellte sich jedoch heraus, dass er Ferien bezog. Die Kantonspolizei versuchte mehrfach, ihn telefonisch zu erreichen. Als dies Ende November 1999 gelang, wurde er in Unkenntnis darüber, dass es sich bei Z um einen Polizeibeamten handelte in ein Restaurant bestellt und nach seinem Erscheinen zum Kantonspolizeiposten geführt. Nach kurzer Befragung habe sich der Tatverdacht gegen ihn erhärtet. Da er zudem nicht mehr bereit gewesen sei, weitere Aussagen zu machen, und sich geweigert habe, das Befragungsprotokoll zu unterschreiben, sei er inhaftiert worden.
Aus dem Protokoll von Ende November 1999 ergibt sich, dass die Befragung vorerst ruhig und geordnet verlief; die ihm gestellten Fragen beantwortete der Beschwerdeführer, soweit er sich an die Einzelheiten noch erinnern konnte. 40 Minuten nach Beginn der Befragung wurde er offenbar ungeduldig; er wollte "endlich wissen, weshalb ich hier bin. Muss ich einen Anwalt beiziehen. Ich unterschreibe nichts, bevor ich mit meinem Anwalt gesprochen habe". In der Folge telefonierte er mit seinem Handy. Die Polizei war der Meinung, er sei mit seinem Anwalt verbunden; als sie merkte, dass der Beschwerdeführer den Heimleiter angerufen hatte, wurde ihm das Telefon weggenommen. Es folgten Diskussionen darüber, ob der Beschwerdeführer sich nun wieder zur Sache äussere, bzw. ob er sich hinsichtlich seiner dahingehenden Verpflichtung zuerst mit einem Anwalt besprechen dürfe. Insbesondere wolle er fragen, ob seine Aussagen gegen ihn verwendet werden könnten. "Ich weiss doch nun auch nicht mehr, wie genau alles abgelaufen ist". Z wies ihn darauf hin, alle seine Aussagen könnten gegen ihn verwendet werden. Damit er sich die Sache nochmals genau überlegen könne, werde die Befragung unterbrochen. In der Folge weigerte sich der Beschwerdeführer, das Protokoll zu unterschreiben; er wolle vorher mit seinem Anwalt sprechen, damit man ihm nicht einen Strick aus seinen Aussagen drehen könne. Anfang Dezember 1999 erfolgten weitere Befragungen. Der Beschwerdeführer verhielt sich kooperativ. Dass er renitent war, geht aus den Protokollen nicht hervor; er protestierte lediglich gegen die Art der Fragestellung, beschwerte sich darüber, dass sich das Ganze nur noch in Vermutungen verstricke, und dass er den ganzen Tag keine Zigaretten bekommen habe. "Unter solchen Bedingungen arbeite ich nicht mehr mit". Mitte Dezember 1999 verliefen die Befragungen sodann nicht mehr sehr erfolgreich. Der Beschwerdeführer gab zu Protokoll, seiner Auffassung nach gehe es bei den gestellten Fragen nicht um Aufklärung im eigentlichen Sinn, sondern darum, ihn zu belasten. In der Folge verweigerte er die Aussage, und zwar sowohl hinsichtlich der Umstände zum Tod von Y als auch in Bezug auf die ihm unterstellten Drogenprobleme. In der dritten Woche Dezember 1999 äusserte er sich dahingehend, er habe nur zwei Sachen zu sagen: Zum einen habe er Y die Überdosis nicht verabreicht; zum anderen wäre er froh, wenn die Sache endlich aufgeklärt werden könne und der richtige Täter von der Polizei ermittelt würde. Weitere Angaben verweigerte er. Auch einen Tag danach schüttelte er jeweils nur den Kopf, verschränkte die Arme und schaute ins Leere. Gleichentags um 15.00 Uhr beantwortete er zu Beginn die ihm gestellten Fragen; als er sich dann aber falsch zitiert fühlte, äusserte er sich nicht mehr. Zwei Tage später gab er noch immer keinerlei Antworten; am dritten Tag wurde er dann aber zunehmend gesprächig.
c) Es ist somit festzustellen, dass der Beschwerdeführer nicht von vornherein nicht bereit war, das ihm Mögliche zur Todesursache von Y beizutragen. Es war die spezielle Situation in der Untersuchungshaft, die ihn mit der Zeit dazu brachte, zu schweigen anstatt zu antworten. Er musste auf den gewohnten Zigarettenkonsum verzichten, sah sich mit Zusammenfassungen konfrontiert, die seinen Angaben nicht entsprachen, und fühlte sich nicht ganz zu Unrecht dadurch, dass er immer wieder dasselbe gefragt wurde, zweifellos in die Enge getrieben. Wenn er eine Antwort gab, war er aber offensichtlich bemüht, die Frage korrekt zu beantworten. Er verweigerte zwar ab einem gewissen Zeitpunkt für mehrere Tage jegliche Auskünfte und Angaben; bei den gegebenen Verhältnissen kann dies aber nicht zur Folge haben, dass sein grundsätzlich gegebener Anspruch auf Schadenersatz und Genugtuung als verwirkt zu bezeichnen ist. Es gilt im Zusammenhang mit § 65 StPO indessen entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht generell der Grundsatz, die Tatsache, dass der Verdächtigte die Aussagen verweigert habe, müsse unbeachtlich bleiben. Dieses Prinzip gelangt lediglich im strafprozessualen Verfahren zur Anwendung: Gemäss § 86 Abs. 1 StPO ist der Angeschuldigte zwar zur Wahrheit zu ermahnen, gleichzeitig aber auch ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass er die Aussage verweigern kann. Ob bei Einstellung der Untersuchung und bei gerichtlichem Freispruch eine Entschädigung geschuldet ist, bestimmt sich hingegen ausschliesslich nach §§ 65 ff. StPO. In diesem Zusammenhang kann es fahrlässig sein, unwahre oder keine Angaben zu machen: Derartiges Verhalten kann dazu führen, dass die Bedingung des unverschuldeten ernstlichen Nachteils nicht mehr erfüllt ist (§ 65 Abs. 1 StPO). So kann die Verweigerung der Aussage ohne weiteres dazu führen, dass sich die Untersuchungshaft verlängert; in einem solchen Fall hat es sich der Ansprecher selbst zuzuschreiben, dass er nicht bereits in einem früheren Zeitpunkt wieder in Freiheit gesetzt wurde. Wo die Grenze zwischen vorwerfbarem Verhalten und blosser Immoralität liegt, lässt sich nicht generell umschreiben, sondern ist im Einzelfall zu entscheiden.
d) X kann sein mehrtägiges Stillschweigen nicht in dem Sinn zum Vorwurf gemacht werden, dass er nun gegenüber dem Staat keinerlei finanziellen Ansprüche geltend machen kann. Nebst den bereits erwähnten, ihn belastenden Umständen wie Zigarettenentzug und permanent gleiche Fragestellungen ist auch seine besondere Persönlichkeitsstruktur zu berücksichtigen. Er scheint ein Einzelgänger zu sein und wohnt in einem Wohnmobil. Seine geschiedene Frau wies darauf hin, er sei eher inaktiv und habe es gerne, wenn man ihn in Ruhe lasse. Sie glaube nicht, dass er an Gedächtnislücken leide, habe jedoch festgestellt, dass er Sachen anders als andere wahrnehme. Er selektioniere Wichtiges und Unwichtiges anders. Im Übrigen sei er grundehrlich und sage immer gerade hinaus, was er denke. Er provoziere die Leute gerne; das mache das Leben mit ihm so schwierig. Oft äussere er sich in Gesprächen auf unverständliche Art. Mit der Polizei oder den Behörden verstehe er sich sowieso nicht gut. Er sei in einer naiven Art ehrlich.
e) Nicht nur seiner Art entsprach es aber somit offensichtlich, dass er gelegentlich mit den Worten der Staatsanwaltschaft "bockig" wurde; es ist auch objektiv betrachtet nicht ganz verständlich, weshalb es zur Untersuchungshaft von immerhin 14 Tagen kam. Die Anklagekammer bejahte noch in ihrem Entscheid die Zulässigkeit der Untersuchungshaft bis zum Vorliegen des Berichts des IRM; nachher werde darüber zu entscheiden sein, ob die Haft weiterhin als rechtmässig beurteilt werden könne.
Ebenfalls von Anfang Dezember 1999 stammt das Gutachten des IRM. Die Anklagekammer sandte es fünf Tage später dem Verteidiger zur Stellungnahme. In ihrer Verfügung, mit der X aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, wies sie darauf hin, nachdem das Gutachten des IRM vorgelegen habe, sei erstellt gewesen, dass der Tod von Y nicht durch eine Fremdeinwirkung eingetreten sei. Unter diesen Umständen könne nicht mehr gesagt werden, Y sei vorsätzlich getötet worden, und der dringende Tatverdacht für ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt lasse sich nicht mehr weiter aufrechterhalten. Es sei jedoch auf die Eingabe von X von Mitte Dezember 1999 zu verweisen, in welcher er beantrage, die Haft bis zur Durchführung der entsprechenden Befragungen zu begrenzen, was bedeute, dass er selbst davon ausgehe, dass Kollusionsgefahr gegeben sei.
Aus dieser Zusammenfassung ergibt sich zweierlei: Zum einen ist nicht nachvollziehbar, weshalb nach Erhalt des Gutachtens des IRM, das den Beschwerdeführer entlastete, noch rund 12 Tage vergingen, bis die Beendigung der Untersuchungshaft angeordnet wurde; zum anderen ist der Schluss, X selber sei davon ausgegangen, es bestehe Kollusionsgefahr, nicht haltbar. Die Eingabe, in welcher diese Feststellung enthalten sein soll, liegt zwar nicht bei den Akten; allein schon aus den in den Unterlagen enthaltenen Schreiben des Verteidigers des Beschwerdeführers sowie aus dem Verhalten von diesem selbst ergibt sich jedoch ganz klar, dass nie das Einverständnis des Angeschuldigten zu den doch recht eingreifenden untersuchungsrichterlichen Massnahmen vorgelegen hatte.
Obergericht, 2. Juni 2003, SW.2003.3