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RBOG 2005 Nr. 30

Dargestellte Gewalt ("Nackt unter Kannibalen") und Gewaltdarstellungen; Anklagegrundsatz und Substantiierung der Anklage


Art. 135 StGB, § 21 StPO, § 151 StPO, § 153 StPO


1. Der Berufungskläger beabsichtigte, einen Video-Shop aufzubauen. Über das Internet bestellte er bei einem Anbieter aus Deutschland den Film "Nackt unter Kannibalen", der vom Zollinspektorat beschlagnahmt wurde. Bei der im Anschluss durchgeführten Hausdurchsuchung wurden 35 DVDs wegen Gewaltdarstellungen beschlagnahmt. Die Bezirksgerichtliche Kommission verurteilte den Berufungskläger wegen Gewaltdarstellungen zu einer Busse von Fr. 1'200.-- und zog die beschlagnahmten DVDs ein.

2. a) Der Berufungskläger beantragte, der Film "Nackt unter Kannibalen" sei von den Richtern anzuschauen.

aa) Es ist Aufgabe des Staates, dem Beschuldigten alle eine Strafbarkeit begründenden Umstände nachzuweisen (§ 151 Abs. 1 StPO). Eine Verurteilung darf nur erfolgen, wenn die Schuld des Angeklagten mit hinreichender Sicherheit erwiesen ist, wenn mithin rechtsgenügliche Beweise dafür vorliegen, dass der Angeklagte mit seinem Verhalten objektiv und subjektiv den ihm in der Anklageschrift zur Last gelegten Straftatbestand verwirklichte (Zweidler, Die Praxis zur thurgauischen Strafprozessordnung, Bern 2005, § 151 StPO N 3). Gemäss § 151 Abs. 2 StPO hat das Gericht das Beweisergebnis nach seiner freien Überzeugung aufgrund der Akten und der Beweiserhebungen zu würdigen.

Bezieht sich der Vorwurf verbotener Darstellungen sei es im Sinn von Art. 135 StGB (Gewaltdarstellungen), sei es mit Bezug auf Art. 197 StGB (Pornografie) auf die Veröffentlichung in Filmen, kann das Gericht den objektiven Tatbestand nur beurteilen, wenn es Kenntnis vom Inhalt des Filmmaterials jedenfalls der in Frage stehenden Stellen erlangt. Dies kann dadurch geschehen, dass einzelne aussagekräftige Bilder in den Akten als Ausdrucke vorhanden sind und die Identität der Prints zum fraglichen Film unbestritten beziehungsweise rechtsgenüglich nachgewiesen ist. Allenfalls kann es auch genügen, lediglich eine kurze Inhaltsangabe der Szenen - unter der Angabe, an welcher Stelle des Films sich diese finden - in die Akten aufzunehmen. Voraussetzung ist allerdings stets, dass auf diese Weise hinreichend zum Ausdruck kommt, welche Darstellungen als verbotswidrig zu betrachten sind. Sind keine solchen Akten vorhanden, kommt der Richter nicht umhin, den fraglichen Film gesamthaft zu sichten. Inwieweit das Gericht im Zusammenhang mit verbotenen Darstellungen auf andere Entscheide (vgl. Zweidler, § 151 StPO N 34) oder Verbotslisten und Indexe abstellen kann, ohne den Inhalt eines Films selbst gesehen zu haben, kann hier offen bleiben. Das gilt umso mehr, als es mit Bezug auf Brutalo-Filme offenbar keinen gesamtschweizerischen Index (mehr) gibt und selbst die von den Untersuchungsbehörden beigezogene Verbotsliste der Stadtpolizei Bern angeblich nur einen der beschlagnahmten Titel erwähnt, was von der Staatsanwaltschaft nicht widerlegt wurde.

bb) In den Akten finden sich keine Ausdrucke oder aussagekräftige Inhaltsangaben vom Film "Nackt unter Kannibalen". Eine Verurteilung wegen verbotener Gewaltdarstellungen kommt daher von vornherein nur in Betracht, wenn der Richter diesen Film sichtet. Das gilt namentlich auch für die Berufungsinstanz, da die Rechtsanwendung Sache des Gerichts ist und das Obergericht zu prüfen hat, ob der objektive Tatbestand von Art. 135 Abs. 1 StGB erfüllt ist. Daran ändern die Hinweise der Vorinstanz und der Staatsanwaltschaft nichts, der Berufungskläger sei bezüglich des objektiven Tatbestands geständig. Einerseits dürfen allgemein gehaltene Zugeständnisse des Angeklagten nicht unbesehen hingenommen, sondern müssen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden (Zweidler, § 151 StPO N 45). Andererseits sind sogenannte "Rechtsgeständnisse" für den Richter unverbindlich oder von geringem Belang (Zweidler, § 151 StPO N 44). Das gilt hier umso mehr, als weder die Akten noch die Anklageschrift aussagekräftige Hinweise auf die zur Anklage gebrachten Gewaltdarstellungen enthalten, auf die sich ein Geständnis konkret hätte beziehen können (und müssen).

b) Dem Antrag des Berufungsklägers, es sei eine von der Verteidigung ausgewählte Anzahl Filme von Amtes wegen vom Gericht zu sichten, braucht nicht stattgegeben zu werden. Dieser Antrag steht im Zusammenhang mit dem vom Berufungskläger geltend gemachten Rechts beziehungsweise Sachverhaltsirrtum. Ein Rechts oder Sachverhaltsirrtum steht indessen nicht zur Diskussion, weil es bereits am objektiven Tatbestand von Art. 135 StGB fehlt.

c) Einer Grundlage entbehrt der Beweisergänzungsantrag des Berufungsklägers, die Staatsanwaltschaft habe eine Gesetzesgrundlage bekannt zu geben, aus der für jedermann ersichtlich sei, dass der Staat versuche, dem Gewaltdarstellungsverbot Nachachtung zu verschaffen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen verbotener Gewaltdarstellungen. Die entsprechende gesetzliche Grundlage findet sich in Art. 135 StGB. Nicht zutreffend ist die Auffassung des Berufungsklägers, Art. 135 StGB sei eine "lex imperfecta". Diese Bestimmung enthält keine Lücke. Vielmehr ist sie nach den gleichen Regeln wie in den übrigen Rechtsgebieten auszulegen (BGE 128 IV 274, 76 IV 214). Der in Art. 1 StGB enthaltene Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" verbietet bloss, über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen, also neue Straftatbestände zu schaffen oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt ist (BGE 127 IV 200).

Wenn der Berufungskläger in diesem Zusammenhang geltend macht, es werde gegen andere Personen im Zusammenhang mit Brutalo-Filmen keine Strafuntersuchung durchgeführt, beruft er sich sinngemäss auf den "Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht". Dieser Anspruch wird ausnahmsweise anerkannt, wenn eine ständige gesetzwidrige Praxis einer rechtsanwendenden Behörde vorliegt und die Behörde zu erkennen gibt, dass sie auch in Zukunft nicht von dieser Praxis abzuweichen gedenke (BGE 127 I 2 f., 122 II 451 f.). Dass die Staatsanwaltschaft bestrebt ist, Art. 135 StGB Nachachtung zu verschaffen, belegt zwar dieses Verfahren. Zumindest mit Bezug auf gewisse beschlagnahmte Filme, die beispielsweise im Fernsehen gezeigt werden (Mad Max) oder im Handel erhältlich sind, könnte sich aber die Frage der "Gleichbehandlung im Unrecht" schon stellen, nachdem jedenfalls nicht nachgewiesen ist, dass auch gegen entsprechende Fernsehanstalten und Anbieter eine Strafuntersuchung eröffnet wurde. Die Frage kann hier aber offen gelassen werden, weil der Berufungskläger ohnehin freizusprechen ist. Im Übrigen müsste das Gebot der Gleichbehandlung beziehungsweise das Verbot der Ungleichbehandlung allenfalls bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden (vgl. Wiprächtiger, Basler Kommentar, Art. 63 StGB N 130, 132).

3. Die Staatsanwaltschaft erhob gegen den Berufungskläger Anklage wegen verbotener Gewaltdarstellungen gemäss Art. 135 Abs. 1 StGB. Sie bezog sich dabei einerseits konkret auf den Film "Nackt unter Kannibalen", andererseits auf 35 weitere beschlagnahmte, namentlich erwähnte DVDs.

a) Eine gerichtliche Verurteilung kann gemäss § 21 StPO nur Personen und strafbare Handlungen erfassen, auf die sich die Anklage bezieht. Das Gericht ist gemäss § 153 Abs. 1 StPO an die rechtliche Würdigung des Tatbestands durch die Staatsanwaltschaft und an deren Strafanträge nicht gebunden. Gemäss § 153 Abs. 2 StPO ist für die gerichtliche Beurteilung der Tatbestand massgebend, der sich aus den Akten und dem Beweisverfahren ergibt. Werden Tatumstände oder weitere strafbare Handlungen des Angeklagten festgestellt, die nicht Gegenstand der Anklage bilden, sind die Parteien hiezu besonders anzuhören. Sie können die Ergänzung der Untersuchung beantragen.

Die Garantie von §§ 21 und 153 Abs. 2 StPO ist Ausfluss des Anklagegrundsatzes und bedeutet, dass das Gericht an den zur Beurteilung stehenden Sachverhalt gebunden ist, damit der Angeklagte seine Verteidigung vorbereiten kann. Die Anklage bestimmt das Prozessthema. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens können nur Sachverhalte sein, die dem Angeklagten in der Anklageschrift vorgeworfen werden. Diese muss die Person des Angeklagten sowie die ihm zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzis umschreiben, dass die Vorwürfe im objektiven und subjektiven Bereich genügend konkretisiert sind (BGE vom 5. März 2003, 6P.151/2002 bzw. 6S.440/2002, Erw. 2; Zweidler, § 21 StPO N 1 und 4 sowie § 153 StPO N 3 und 8). In der Anklageschrift sind dem Angeklagten nicht nur die Tatsachen bekannt zu geben, auf die sich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe stützen, sondern er muss auch erfahren, wie die Behörde die ihm zur Last gelegten Handlungen rechtlich qualifiziert (§ 142 Abs. 2 Ziff. 4 StPO). Die Anklageschrift hat den Sachverhalt zwar kurz, aber vollständig, objektiv, sachlich und genau aktenmässig darzustellen. Es muss daraus hervorgehen, welcher Lebensvorgang, welche Handlung oder Unterlassung des Angeklagten Gegenstand der Beurteilung bilden soll, und welches Delikt, welcher strafrechtliche Tatbestand in diesem Verhalten zu sehen ist. In der Anklageschrift sind die Beweismittel präzise zu bezeichnen, um dem Angeklagten zu ermöglichen, Einwände gegen diese Beweise oder gegen deren Qualität geltend zu machen. Die Anklage enthält somit die Umschreibung eines bestimmten Lebensvorgangs, der in seinen für die Beurteilung der Strafsache wichtigen Teilen präzise sein muss, so dass die Vorwürfe im objektiven und subjektiven Bereich genügend konkretisiert sind. Die Anklageschrift muss mithin all jene Angaben enthalten, die dem Angeklagten die Feststellung ermöglichen, welche Handlungen ihm im Einzelnen vorgeworfen werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die strafbare Handlung zahlen- oder mengenmässig klar eingegrenzt sein muss (Zweidler, § 142 StPO N 3 f). Die schriftliche Anklagebegründung im Sinn von § 142 Abs. 3 StPO umfasst die notwendigen Ausführungen der Staatsanwaltschaft zum Sachverhalt und zur rechtlichen Würdigung; es handelt sich faktisch um einen schriftlichen Parteivortrag (Zweidler, § 142 StPO N 8).

b) Im Zusammenhang mit Anklagen, die sich auf Filme mit verbotenen Inhalten (Gewaltdarstellungen, Pornografie) beziehen, stellt sich die Frage, wie detailliert die Staatsanwaltschaft die einzelnen Vorwürfe zu begründen hat. Die Beantwortung dieser Frage hängt einerseits von der Anzahl der zur Anklage gebrachten Datenträger und andererseits von den Akten ab. Enthalten die Akten selbst Ausdrucke oder Angaben zu den Fundstellen, kann sich die Staatsanwaltschaft damit begnügen, unter Bezugnahme auf die Akten zu begründen, dass und weshalb diese Sequenzen gegen Art. 135 StGB (oder Art. 197 StGB) verstossen. Alsdann können auch der Angeklagte und das Gericht ohne weiteres feststellen, welche Sachverhalte die Staatsanwaltschaft zur Anklage bringen will. Es wäre eine Überdehnung der Begründungspflicht, von der Staatsanwaltschaft unter solchen Umständen zu verlangen, dass sie in jedem Detail erläutert, welche Szene eines jeden Films sie für verboten hält.

Je weniger Hinweise die Akten enthalten und je mehr Datenträger zur Diskussion stehen, desto detaillierter wird indessen die Anklage auf die verbotenen Darstellungen Bezug nehmen müssen. Unterlässt sie dies, kann und darf sich das Gericht darauf beschränken, sich nur mit den Szenen in den Filmen näher auseinander zu setzen, auf welche die Staatsanwaltschaft Bezug nimmt. Der Strafrichter ist nicht gehalten, sich mit den weiteren Filmen beziehungsweise Sequenzen zu befassen. Er kann zwar auch die übrigen Datenträger auf verbotene Darstellungen hin prüfen, darf sich dabei aber auf eine summarische Prüfung beschränken. Ob er alsdann dem Angeklagten mit Bezug auf die nicht in der Anklageschrift erwähnten Szenen einen Vorhalt im Sinn von § 153 Abs. 2 StPO machen muss, braucht hier nicht entschieden zu werden.

c) Neben dem am Zoll Basel hängen gebliebenen Film "Nackt unter Kannibalen" liess der Untersuchungsrichter am 13. Mai 2004 DVDs mit folgenden Titeln beschlagnahmen: "Hellraiser", "Hellraiser III", "Masters of Horror I IV", "Woodoo", "Return of living Dead II", "Cannibal Terror", "Tanz der Teufel", "Tanz der Teufel II", "Bones", "Blutmesse für Teufel", "Mad Max, der Vollstrecker", "Lord of the Dead", "La notte dei mortiviventi", "God's Army" und "Sleepless". In der Anklageschrift erwähnte die Staatsanwaltschaft diese insgesamt 35 DVDs namentlich und führte aus, sie seien wegen Gewaltdarstellungen beschlagnahmt worden. In der schriftlichen Anklagebegründung führte die Staatsanwaltschaft aus, der Berufungskläger habe bei sich zu Hause noch weiteres Filmmaterial, gespeichert auf 35 DVDs, vorrätig, die ebenfalls den Gewaltdarstellungen nach Art. 135 Abs. 1 StGB zuzuordnen seien. Dabei wird auf den Polizeirapport hingewiesen, in dem festgehalten wurde, die gesichteten DVDs würden Sequenzen enthalten, bei denen Körperteile abgetrennt oder Menschen brutal umgebracht würden; bei den DVDs seien zwei Stichproben vorgenommen worden.

Mit dem Hinweis auf den Polizeirapport und darauf, die beschlagnahmten DVDs (35 Datenträger) würden Gewaltdarstellungen enthalten, genügte die Staatsanwaltschaft ihrer Begründungspflicht nicht. Sie beschrieb keine einzige Szene, nannte keine Fundstellen und legte insbesondere nicht dar, inwiefern welche Szenen der beschlagnahmten Filme den objektiven Tatbestand von Art. 135 Abs. 1 StGB erfüllen. Das konnte sie im Grunde genommen auch gar nicht, weil offensichtlich auch während der Strafuntersuchung lediglich bei zwei DVDs Stichproben gemacht wurden, wobei nicht einmal bekannt ist, um welche beiden Filme es sich dabei handelte. Mithin sichteten offensichtlich auch die Strafuntersuchungsbehörden die beschlagnahmten Filme nicht.

Mit Bezug auf die beschlagnahmten 35 DVDs liegt somit keine rechtsgenügliche Anklageschrift vor. Dieser Mangel kann auch nicht dadurch geheilt werden, dass das Obergericht die fraglichen Filme sichtet, weil der Berufungskläger nach wie vor keine Kenntnis von den konkret gegen ihn angehobenen Vorwürfen hätte. Ferner ist es nicht die Aufgabe der Berufungsinstanz, mögliche, unter Art. 135 Abs. 1 StGB fallende Filmsequenzen aus 35 Datenträgern herauszusuchen (vgl. Zweidler, § 208 StPO N 3) und dem Berufungskläger einen entsprechenden Vorhalt im Sinn von § 153 Abs. 2 StPO zu machen. Damit kommt eine Verurteilung des Berufungsklägers gestützt auf die 35 beschlagnahmten Filme von vornherein nicht in Betracht.

Nur der Vollständigkeit ist darauf hinzuweisen, dass ohnehin nicht leichthin davon ausgegangen werden könnte, die genannten Filme enthielten ohne weiteres verbotene Gewaltdarstellungen. Zwar wurde einerseits ein Teil dieser Filme in Deutschland tatsächlich verboten (beziehungsweise es wurden nur deutlich gekürzte Versionen zugelassen), doch hielten diese Verbote einer vertiefteren richterlichen Überprüfung schliesslich doch nicht stand, wie etwa beim Film "Tanz der Teufel", der vom deutschen Bundesverfassungsgericht schon am 20. Oktober 1992 freigegeben wurde. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass einzelne dieser Filme - mindestens in gewissen Kreisen - Kultstatus geniessen und durchaus auch von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ausgestrahlt werden, wie etwa die "Mad Max"-Trilogie.

d) Bezüglich des Films "Nackt unter Kannibalen" führte die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift aus, Kannibalen würden einer Frau unter anderem die Brustwarzen abschneiden und essen. In der Anklagebegründung hielt die Staatsanwaltschaft fest, eine Sichtung des Datenträgers habe ergeben, was insoweit in der Anklageschrift festgehalten worden sei. Hingewiesen wird sodann auf den Polizeirapport, gemäss dem der fragliche Datenträger Brutalo-Szenen enthalte; Frauen würden an einen Pfosten gebunden, und Kannibalen würden einer Frau die Brustwarzen wegschneiden und essen.

Hinsichtlich des Films "Nackt unter Kannibalen" ist der Anklageschrift somit zu entnehmen, welche konkrete Szene die Staatsanwaltschaft unter anderem als verbotene Gewaltdarstellung im Sinn von Art.135 Abs. 1 StGB erachtet (Abschneiden und Essen einer Brustwarze). Mit dieser Sequenz hat sich der Strafrichter somit konkret auseinander zu setzen. Zudem ist das Gericht frei, den Film auch auf mögliche weitere verbotene Gewaltdarstellungen hin zu überprüfen. Es kann sich dabei allerdings auf eine summarische Prüfung beschränken.

4. Gemäss Art. 135 Abs. 1 StGB wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer Ton oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegenstände oder Vorführungen, die, ohne schutzwürdigen kulturellen oder wissenschaftlichen Wert zu haben, grausame Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Tiere eindringlich darstellen und dabei die elementare Würde des Menschen in schwerer Weise verletzen, herstellt, einführt, lagert, in Verkehr bringt, anpreist, ausstellt, anbietet, zeigt, überlässt oder zugänglich macht.

a) Art. 135 StGB (in Kraft seit 1. Januar 1990) war die am meisten umstrittene Bestimmung der Revision von 1989 (Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2.A., Art. 135 N 1; Aebersold, Basler Kommentar, Art. 135 StGB N 1). Bereits vorher hatten die Hälfte der Kantone meist in ihren Einführungsgesetzen zum Strafgesetzbuch oder in Filmerlassen Strafnormen geschaffen, die nur oder auch Gewaltdarstellungen im Rahmen der jeweiligen gesetzlichen Umschreibung verboten und Verstösse mit Übertretungsstrafen belegten (Riklin, Sinn und Problematik einer "Brutalo-Norm" im Strafgesetzbuch, in: Das Menschenbild im Recht, Festgabe der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 100-Jahr-Feier der Universität Freiburg, Freiburg 1990, S. 407 f.). In zahlreichen dieser Kantone (Zürich, Bern, Luzern, Schwyz, Glarus, Zug, Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Land, Appenzell Innerrhoden, St. Gallen, Graubünden und Genf) wurde die kantonale "Brutalo-Norm" kaum je einmal angewandt (Riklin, S. 409).

In der Lehre wird der Tatbestand von Art. 135 StGB als missglückt angesehen. Die neue, mangelhaft vorbereitete Bestimmung trage "nur allzu deutlich den Stempel einer wenig durchdachten, durch spontane Eingriffe in der parlamentarischen Beratung noch zusätzlich belasteten Gelegenheitsgesetzgebung" (Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, BT I, 5.A., § 4 N 90). Angesichts der bestehenden Unsicherheiten wird eine restriktive Anwendung gefordert (Aebersold, Art. 135 StGB N 2). Bereits das geschützte Rechtsgut ist schwierig zu bestimmen. Wohl steht der Jugendschutz im Vordergrund. Beabsichtigt sein mag auch die Unterbindung der kommerziellen Ausbeutung niederster Instinkte, der Lust an fremder Qual. Auch könnten Gewaltdarstellungen beim Betrachter die Bereitschaft erhöhen, die Gewalttätigkeit anderer gleichgültig hinzunehmen oder selbst gewalttätig zu agieren (vgl. Stratenwerth, § 4 N 91; Trechsel, Art. 135 StGB N 2 f.; Aebersold, Art. 135 StGB N 3 f.; Rehberg/Schmid/Donatsch, Strafrecht III, 8.A., S. 64; vgl. BGE 124 IV 112). Bezüglich letzterem ist allerdings bereits höchst umstritten, auf welche Weise die Wirkungen von Gewaltdarstellungen in den Medien auf die Zuschauer wissenschaftlich fundiert gemessen werden können (vgl. Kunczik, Gewalt und Medien, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 273 ff.). Es sei auch daran erinnert, dass beispielsweise Goethes "Die Leiden des jungen Werther" und "Die Wahlverwandtschaften" für Nachahmungstaten (zum Beispiel die Doppelselbsttötung von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel) verantwortlich gemacht und teilweise verboten wurden (Kunczik, S. 23); eine solche Zensur wäre heute indiskutabel.

Gewalttätigkeiten sind feindliche Angriffe auf den Körper durch Schläge, Schnitte, Stiche, Chemikalien, elektrische Stösse. Blosse psychische Einwirkungen sind keine Gewalttätigkeiten, jedenfalls solange das Opfer nicht veranlasst wird, sich selbst körperliche Leiden zuzufügen (Trechsel, Art. 135 StGB N 4; Gerny, Zweckmässigkeit und Problematik eines Gewaltdarstellungsverbots im Schweizerischen Strafrecht, Diss. Basel 1994, S. 119). Grausam sind Gewalttätigkeiten, wenn sie gerade auf die Zufügung von Schmerz und Leiden abzielen, die nach ihrer Intensität, Dauer oder Wiederholung als besonders schwer erscheinen (ZR 96, 1997, Nr. 5 S. 23; Gerny, S. 122; Stratenwerth, § 4 N 100). Die Darstellung muss eindringlich sein, das heisst, sie muss auf das Publikum suggestiv und realistisch wirken und daher in das Bewusstsein eindringen (ZR 96, 1997, Nr. 5 S. 23). Eindringlichkeit bedeutet nicht, dass die Gewalt wiederholt oder während einer längeren Zeit gezeigt werden müsste. Eine einzige Gewaltdarstellung genügt, wenn sie das geforderte Mass der Intensität erreicht. Als Massstab kann das besondere Mass an Gefühlskälte gelten, das nötig ist, um eine solche Darstellung zu ertragen (Stratenwerth, § 4 N 100; Trechsel, Art. 135 StGB N 7). Unerheblich ist, ob die gezeigten Szenen bloss gespielt sind, und ob die Darstellenden freiwillig daran teilgenommen haben (Aebersold, Art. 135 StGB N 16). Die Gewaltdarstellung muss schliesslich die elementare Würde des Menschen in schwerer Weise verletzen. Allerdings erleichtert diese Umschreibung die Anwendung von Art. 135 StGB nicht. Offen ist bereits, ob es dabei um die Würde des Betrachters oder der Darsteller oder der Menschheit als solcher geht (vgl. Stratenwerth, § 4 N 102). Ebenso schwierig zu bestimmen ist die Abgrenzung zwischen einer schweren Verletzung dieser Würde von einer weniger schweren (vgl. Gerny, S. 135). Aebersold (Art. 135 StGB N 20) fordert daher, aus der zugrundeliegenden Absicht müsse der Schluss abgeleitet werden, bei Zweifeln über die Schwere der Verletzung sei freizusprechen. Ob diese Umschreibung den Tatbestand allerdings einschränkt, ist zweifelhaft (ZR 96, 1997, Nr. 5 S. 23).

b) aa) Vorauszuschicken ist, dass der auf der DVD enthaltene Film "Nackt unter Kannibalen" eine eher schlechte Bildqualität aufweist. Dementsprechend wurde in act. 13 festgestellt, es hätten keine Prints erstellt werden können. Der Betrachter muss sich mit anderen Worten bereits erheblich anstrengen, um bei gewissen Szenen überhaupt wahrnehmen zu können, was im Detail geschieht. Das vermindert die Eindringlichkeit der dargestellten Handlung. Allen Sequenzen mit Elementen von Kannibalismus ist zudem gemeinsam, dass sie häufig durch Kameraschwenks "unterbrochen" werden. Im Gegensatz zu den nachfolgenden Inhaltsangaben ist der Zuschauer daher nicht über die ganze Dauer einer Szene unablässig mit den geschilderten Grausamkeiten konfrontiert.

bb) Der Film handelt von einer Journalistin, die in einer Klinik Zeugin wird, wie eine junge Frau einer Krankenschwester die Brust abbeisst. Eine Tätowierung des kannibalisch veranlagten Mädchens weist auf ein Volk im Amazonas hin. Die Journalistin sowie ihr Kollege begeben sich in den Urwald, um gemeinsam mit weiteren Expeditionsteilnehmern dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Dabei werden einige Mitglieder der Gruppe von Eingeborenen gefangen genommen und getötet. Die Übrigen beobachten diese Szenen.

In der ersten Szene beisst eine junge Insassin einer Klinik einer Krankenschwester deren Brust ab, worauf diese schreiend und mit blutüberströmter (unbedeckter) Brust das Zimmer verlässt und den Gang hinunter rennt. In der nächsten Einstellung wird das junge Mädchen gezeigt, das in einer Ecke ihres Zimmers kauert und auf etwas Undefinierbarem herumkaut (Beginn bei Min. 1:50; Dauer ca. 30 Sek.). Die Anklageschrift bezog sich indessen offensichtlich nicht auf diese Szene, weil darin keine Kannibalen vorkommen. In einer nächsten Einstellung betrachten die beiden Hauptdarsteller einen (angeblich authentischen) Dokumentarfilm über einen Stamm aus Tansania, der ein "blutiges Sühneopfer" darbringt. Die Sequenz ist schwarz-weiss, ohne Ton und von sehr schlechter Bildqualität. Einer Ehebrecherin wird der Kopf mit einer Machete abgeschlagen, und Eingeborene essen die Augen; dem Ehebrecher wird der Penis abgeschnitten und verspeist (Beginn bei Min. 10:50; Dauer ca. 1 Min.).

Die Szene, auf welche die Staatsanwaltschaft Bezug nahm, beginnt etwa bei Min. 57:00. Irgendwo in einem Urwald in Südamerika fesseln Kannibalen eine Frau an einen Pfosten. In der Folge wird ihr die rechte Brustwarze abgeschnitten. Es fliesst Blut, und man meint Brustgewebe zu erkennen. Die gefesselte Frau schreit markdurchdringend. Einige Männer verspeisen die Brustwarze. Etwas später wird der Frau der Bauch aufgeschlitzt, und Kannibalen essen ihre Eingeweide. Die Szene dauert insgesamt rund zwei Minuten.

In einer weiteren Szene (Beginn bei Std. 1:15 ) wird eine Frau in aufrechtstehender Haltung an den Handgelenken zwischen zwei Holzpfosten gefesselt. Ein Eingeborener sticht ihr mit dem Messer in die Scham, öffnet ihren Unterleib und reisst die Eingeweide heraus. Diese werden gegessen. Anschliessend wird ein Mann zwischen die Pfosten gefesselt. Die Kannibalen schlingen einen Draht um seine Hüfte und ziehen an beiden Enden, bis der Unterleib vom Oberleib abgetrennt wird. Die ganze Szene dauert rund zwei Minuten. In einer letzten kurzen Szene (Std. 1:18) wird eine nackte bewusstlose Frau im Beisein des ganzen Stammes von einigen Männern vergewaltigt, wobei keine Details und abgesehen vom erzwungenen Geschlechtsverkehr keine Gewalttätigkeiten gezeigt werden.

cc) Der gesamte Film dauert rund 87 Minuten. Im Vergleich dazu nehmen die beschriebenen Sequenzen einen eher geringen und unbedeutenden Platz ein. Anders als bei den AGVE 1997 Nr. 36 und ZR 96, 1997, Nr. 5 ("Blutgeil") zugrunde liegenden Filmen kann hier nicht von einer Anhäufung grausamster und brutalster Szenen gesprochen werden, in denen "fast unaushaltbar eindringliche Schlachtereien" oder "in Grossaufnahme und teilweise über einen längeren Zeitraum hinweg blutige Gewaltakte" gezeigt werden, die auch "beim nervenstarken Zuschauer nachhaltig wirken" und in ihrer "bestialischen Rohheit" kaum mehr zu überbieten sind. Die von der Staatsanwaltschaft beschriebene Szene wird immer wieder durch Kameraschwenks in die Baumkronen oder auf die die Handlung beobachtenden Darsteller unterbrochen. Die entscheidende, Gewalt darstellende Szene das Abschneiden und Verspeisen der Brust sowie das Aufschlitzen des Bauchs und das Essen der Eingeweide wird jeweils durch Schnitte unterbrochen und ist daher bei normaler Laufgeschwindigkeit nur kurz und teilweise schlecht oder fast nicht erkennbar zu sehen. Zudem ist zumindest fraglich, ob das Essen der Brust und der Eingeweide, die als solche gar nicht zu erkennen sind, für sich allein genommen überhaupt als grausame Gewalttätigkeit im Sinn von Art. 135 Abs. 1 StGB zu qualifizieren ist. Die ganze Sequenz ist zwar ekelerregend und wirkt auf normale Betrachter abstossend. Diese Wirkung beruht aber nicht zuletzt auf den begleitenden Geräuschen und insbesondere darauf, was sich der Betrachter möglicherweise in seiner Phantasie selbst ausmalt. Das, was in dieser Szene tatsächlich gezeigt wird, ist indessen aufgrund der kurzen Einstellungen, der Kameraschwenks und der schlechten Bildqualität keine eindringliche Gewaltdarstellung. Diese spielt sich vielmehr wie etwa im Film "Das Schweigen der Lämmer" (Regie: Jonathan Demme; USA 1991) in der Phantasie des Zuschauers ab. Auch in jenem Film geht es um Kannibalismus. Der Unterschied liegt abgesehen von der Qualität der Schauspieler und des Films an sich lediglich darin, dass im "Das Schweigen der Lämmer" die kannibalische Handlung an sich nicht gezeigt wird. Vielmehr wird es der Phantasie des Betrachters überlassen, sich auszumalen, auf welche Weise Dr. Hannibal Lecter seine Opfer (zum Beispiel den gehäuteten Polizeibeamten) tötet.

Auch die anderen Szenen mit kannibalischen Elementen enthalten kurze Einstellungen und Schnitte und sind überwiegend von schlechter Bildqualität. Auch sie sind höchst abstossend, erreichen aber das geforderte Mass einer intensiven und eindringlichen Gewaltdarstellung nicht. Die Staatsanwaltschaft nahm denn auch auf diese Szenen in ihrer Anklageschrift und im Berufungsverfahren überhaupt nicht Bezug.

c) Zusammenfassend erscheinen die von der Staatsanwaltschaft erwähnte Szene und der Film als Ganzes zwar als abstossend und ekelhaft. Die Darstellung der Gewalttätigkeiten ist aber inhaltlich zu wenig bestimmend und zu wenig eindringlich. Zumindest bleiben in dieser Hinsicht erhebliche Zweifel. Der Berufungskläger ist daher vom Vorwurf der Gewaltdarstellungen auch mit Bezug auf den Film "Nackt unter Kannibalen" freizusprechen.

5. Nachdem die Staatsanwaltschaft nicht darlegte, dass und inwiefern die 35 beschlagnahmten DVDs sowie der Film "Nackt unter Kannibalen" verbotene Gewaltdarstellungen im Sinn von Art. 135 StGB enthalten, sind sie dem Berufungskläger herauszugeben.

Obergericht, 14. Juni 2005, SBR.2005.9


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