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RBOG 2006 Nr. 1

Natürliche Vermutung für eine Solidarhaftung: Beweisrechtliche Fragen


Art. 143 OR, Art. 8 ZGB, § 187 ZPO


1. Dem Berufungsbeklagten wurde für Fr. 26'800.00 provisorische Rechtsöffnung erteilt. Darauf erhob der Berufungskläger Aberkennungsklage. Er und sein Schwager hätten im Jahr 2000 vom Berufungsbeklagten ein Darlehen in der Höhe von Fr. 18'000.00 aufgenommen. Sein Schwager habe vom Berufungsbeklagten bereits im Jahr 1998 zwei Darlehen in der Höhe von Fr. 14'000.00 und Fr. 1'400.00 erhalten. Der Berufungsbeklagte habe verlangt, dass der Erhalt des Darlehens quittiert werde. Dazu habe er alle drei Darlehen auf einem Blatt Papier aufgeführt, worauf der Schwager für die bereits erhaltenen sowie den neu ausbezahlten Betrag und der Berufungskläger nur für das neue Darlehen von Fr. 18'000.00 unterzeichnet hätten.

2. Die Vorinstanz auferlegte dem Berufungskläger den Beweis dafür, dass im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Darlehensvertrags allen drei Vertragsparteien klar gewesen sei, dass der Berufungskläger nur für das neue Darlehen mithafte und die anderen beiden Darlehen allein von seinem Schwager zurückzuzahlen gewesen seien. Der Berufungskläger rügt die Beweislastverteilung der Vorinstanz: Als Beklagter im Aberkennungsprozess hätte der Berufungsbeklagte die Anspruchsgrundlage beweisen müssen, nämlich, dass der Berufungskläger für die Darlehensrestanzen seines Schwagers habe haften wollen.

a) Gemäss Art. 8 ZGB hat, wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet. Diese allgemeine Beweislastregel bedarf der Konkretisierung: Rechtsbegründende Tatsachen (z.B. den Abschluss eines Darlehensvertrags) hat zu beweisen, wer im Prozess daraus ein Recht oder Rechtsverhältnis geltend macht; rechtshindernde Tatsachen (z.B. die Rückzahlung des Darlehens) hat zu beweisen, wer sie behauptet[1]. Nicht die Frage der Beweislastverteilung beschlagen tatsächliche (natürliche) Vermutungen: Bei solchen schliesst ‑ anders als bei den gesetzlichen Vermutungen[2] ‑ nicht eine abstrakte Gesetzesregel, sondern richterliche Denktätigkeit im konkreten Einzelfall von Bekanntem (Vermutungsbasis) auf Unbekanntes (Vermutungsfolge). Die natürliche Vermutung ist immer nur eine Wahrscheinlichkeitsfolgerung, aus Lebenserfahrung und Wissen gewonnen, die der Richter aufgrund der individuellen Gegebenheiten des Einzelfalls glaubt ziehen zu können: Er erachtet dies, was bewiesen ist, als tauglich, für einen weiteren, direkt nicht bewiesenen Sachumstand schlüssig zu zeugen. Die Vermutung wirkt sich also nur in der Beweiswürdigung aus, weil das Abwägen, ob eine Sachbehauptung durch bewiesene, umliegende Sachumstände so wahrscheinlich gemacht ist, dass sie sich zur richterlichen Überzeugung verdichtet, eine blosse beweiswürdigende Tätigkeit ist. Eine natürliche Vermutung weicht deshalb schon blossem Gegenbeweis und muss ‑ anders als die gesetzliche Vermutung ‑ nicht durch den Beweis des Gegenteils widerlegt werden[3]. Mit anderen Worten kann die natürliche Vermutung zugunsten der Sachdarstellung des Beweisbelasteten durch den Beweisgegner bereits erschüttert und zu Fall gebracht werden, indem beim Richter Zweifel an der Vermutungsbasis geweckt oder an der Vermutungsfolge wach gehalten werden; einer Überzeugung des Richters, dass die Darstellung des Beweisgegners richtig ist, bedarf es ‑ anders als beim Beweis des Gegenteils ‑ nicht[4]. Eine unterzeichnete Schuldanerkennung oder Quittung schafft nicht eine Vermutung der Richtigkeit des Inhalts in dem Sinn, dass der Unterzeichner deren Unrichtigkeit, mithin das Gegenteil, beweisen müsste. Das unverdächtige Aktenstück begründet aber in aller Regel eine natürliche Vermutung, die zur richterlichen Überzeugung ausreicht[5]. Weil die natürliche Vermutung die Beweislastverteilung nicht beeinflusst, befreit sie den Beweisbelasteten nicht vom Beweis seiner Sachdarstellung; er muss zumindest die Vermutungsbasis dartun[6].

b) Der allgemeinen Beweislastregel von Art. 8 ZGB zufolge trägt der Berufungsbeklagte die Beweislast für die Hingabe des Darlehens und die Rückzahlungsverpflichtung des Darlehensnehmers, denn das Bestehen eines Darlehensvertrags und eine Rückzahlungsverpflichtung stellen rechtsbegründende Tatsachen dar, welche zu beweisen hat, wer daraus Rechte ableitet. Das Bestehen eines Darlehensvertrags wird auch vom Berufungskläger nicht bestritten, so dass der Berufungsbeklagte gemäss § 180 Abs. 1 ZPO insofern von der Beweisführung entbunden ist. Hingegen bestreitet der Berufungskläger seine solidarische Haftbarkeit bezüglich der beiden im Jahr 1998 vom Berufungsbeklagten seinem Schwager gewährten Darlehen. Aufgrund des Umstands, dass einerseits im Zeitpunkt, als der Berufungskläger und sein Schwager den Berufungsbeklagten um die Gewährung eines (weiteren) Darlehens angingen, der Schwager des Berufungsklägers unbestrittenermassen noch zwei aus dem Jahr 1998 stammende Darlehensverträge im Gesamtbetrag von Fr. 15'400.00 laufen hatte, und dass andererseits der Berufungskläger die alle drei Darlehen aufführende Quittung unstrittig unterschrieb (Vermutungsbasis; vom Berufungskläger nicht bestritten und vom Berufungsbeklagten daher nicht zu beweisen), liegt es nahe, dass der Berufungsbeklagte nur gegen eine Sicherheit für die noch nicht zurückbezahlten Darlehen bereit war, ein weiteres Darlehen zu gewähren. Dies gilt insbesondere, weil dem Berufungsbeklagten für die früheren Darlehen noch keinerlei Sicherheiten bestellt waren und in dieser Situation ein neues Darlehen typischerweise nur gewährt wird, wenn entweder die früheren zurückbezahlt sind oder aber neu Sicherheiten bestellt werden. Es spricht also eine natürliche Vermutung für die solidarische Mithaftung des Berufungsklägers für die früheren Darlehen (Vermutungsfolge). Vor diesem Hintergrund obliegt es dem Berufungskläger, den Gegenbeweis zu führen und Zweifel bezüglich der vom Richter gewonnenen natürlichen Vermutung wachzuhalten.

Obergericht, 14. März 2006, ZBR.2005.57


[1] Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 8.A., 10. Kap. N 35 f.

[2] Vgl. Kummer, Berner Kommentar, Art. 8 ZGB N 317 ff.

[3] Kummer, Art. 8 ZGB N 362 f., 338

[4] Kummer, Art. 8 ZGB N 107 f.

[5] Kummer, Art. 8 ZGB N 367

[6] Kummer, Art. 8 ZGB N 366

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