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RBOG 2006 Nr. 28

Die Missachtung des Rotlichts ist nicht zwingend eine grobe Verkehrsregelverletzung


Art. 90 Abs. 2 SVG


1. Der Berufungsbeklagte missachtete ein Rotlichtsignal. Das zu beachtende Lichtsignal sichert einen Fussgängerstreifen, der Teil des Schulwegs zum naheliegenden Schulhaus bildet. Die betreffende Stelle präsentiert sich grundsätzlich übersichtlich, und es gibt dort keine Verzweigungen. Ferner herrschten klare Sichtverhältnisse. Der Berufungsbeklagte hatte vor der Ampel ordnungsgemäss angehalten und angeblich während dieser Zeit mit seiner Hand am Armaturenbrett den Lüftungsstrom der Heizung kontrolliert. In der Folge fuhr er los, während die Ampel noch auf rot geschaltet war.

2. Wer Verkehrsregeln des SVG oder der entsprechenden Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt, wird gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG mit Haft oder Busse bestraft. Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit Anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird laut Art. 90 Ziff. 2 SVG mit Gefängnis oder mit Busse bestraft.

a) Subjektiv erfordert der Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG nach der Rechtsprechung ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit. Diese ist zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber auch vorliegen, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht gezogen, also unbewusst fahrlässig gehandelt hat. In solchen Fällen ist grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen[1].

b) Auf den Fotografien ist zu erkennen, dass eine kleine Gruppe von Fussgängern sowie ein Velofahrer den Fussgängerstreifen bereits vollständig überquert hatten, als der Berufungskläger bei Rot losfuhr. Sie befanden sich - in der Fahrtrichtung des Berufungsklägers gesehen - bereits vollständig auf dem rechten Trottoir, als dieser die Haltelinie überfuhr und die erste Fotografie auslöste. Der Velofahrer befand sich ‑ noch fahrend ‑ auf der gegen die Strasse zugewandten Hälfte des Trottoirs. Auf dem 1,69 Sekunden später geschossenen Bild sind die Fussgänger noch immer am gleichen Ort; der Velofahrer ist gerade dabei, von seinem Mountain-Bike abzusteigen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite befanden sich weder zum Zeitpunkt der Wegfahrt noch 1,69 Sekunden später irgendwelche Fussgänger. Der linke Trottoirbereich war bei beiden Aufnahmen völlig frei. Damit ist erstellt, dass der Berufungsbeklagte erst losfuhr, als sich sämtliche im Bereich des Fussgängerstreifens aufhaltenden Personen in Sicherheit befanden.

Der Berufungsbeklagte sagte gegenüber der Polizei aus, er habe gesehen, wie die Kinder auf der linken Strassenseite den Knopf betätigt hätten. Anschliessend habe das Lichtsignal auf rot umgeschaltet. Er habe direkt vor dem Fussgängerstreifen angehalten, und die Kinder hätten diesen passiert. Die Sonne habe stark geblendet. Mit einer Hand habe er in dem Moment nach dem Luftstrom der defekten Heizung des Fahrzeugs gefühlt und zugleich auf die nicht gut sichtbare Ampel geschaut. Die Kinder hätten die andere Strassenseite erreicht. Er habe dann gesehen, wie etwas an der Ampel umgeschaltet habe. Er sei losgefahren, worauf es im nächsten Moment geblitzt habe. Er habe angehalten, um die Kinder über die Strasse zu lassen. Die Akten stützen somit den Schluss der Staatsanwaltschaft nicht, der Berufungsbeklagte sei generell unaufmerksam gewesen. Er war es lediglich mit Bezug auf das Lichtsignal selbst, nicht aber hinsichtlich der übrigen Verkehrssituation. Er beobachtete den Verkehr und widmete seine Aufmerksamkeit insbesondere den Kindern und dem Velofahrer. Dass er gleichzeitig mit der Hand den Luftstrom der Heizung kontrollierte, schmälerte seine Aufmerksamkeit nicht zwingend. Die Staatsanwaltschaft legte zwar zutreffend dar, dass die Ampel für die Fussgänger entgegen der Behauptung des Berufungsbeklagten noch nicht von grün auf rot umgeschaltet hatte, als der Berufungsbeklagte losfuhr. Auf Grund der konkreten Situation musste der Berufungsbeklagte aber nicht mit weiteren Kindern rechnen, welche den Fussgängerstreifen noch überqueren wollten, weil sich zum Zeitpunkt der Wegfahrt und der Fotografien keine weiteren Fussgänger in der Nähe des Zebrastreifens aufhielten. Dass der Berufungsbeklagte in dieser Hinsicht nicht genügend Aufmerksamkeit hätte walten lassen, lässt sich nicht rechtsgenüglich nachweisen. Indem er bei Rotlicht losfuhr, verletzte er zwar eine wesentliche Verkehrsregel, handelte auf Grund der konkreten Umstände aber nicht grobfahrlässig oder rücksichtslos. Zu Recht schloss daher die Vorinstanz, der subjektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung sei nicht erfüllt.

Obergericht, 21. September 2006, SBR.2006.16


[1] BGE 131 IV 136 mit Hinweisen. Zur Kritik an dieser Umschreibung des subjektiven Tatbestands: Weissenberger, Tatort Strasse: Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Strassenverkehrsstrafrecht im Jahre 2004, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2005 (Hrsg.: Schaffhauser), St. Gallen 2005, S. 257 ff.; Weissenberger, Die verkehrsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 2003 und im 129. Band, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2004 (Hrsg.: Schaffhauser), St. Gallen 2004, S. 231 ff.

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