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RBOG 2006 Nr. 30

Fehlende Zuständigkeit des Friedensrichters bei BVG-Beitragsforderungen


Art. 73 BVG, § 1 ZPO, § 114 ZPO


1. a) Die X AG erhob gegen die BVG-Sammelstiftung Klage betreffend Aberkennung einer Forderung. Das Friedensrichteramt lud die Parteien darauf zum Vermittlungsvorstand vor. Die BVG-Sammel­stiftung teilte mit, sie halte an ihrer Forderung fest, werde aber an der Verhandlung nicht erscheinen. Das Friedensrichteramt wies sie in der Folge darauf hin, das persönliche Erscheinen sei zwingend vorgeschrieben. Bleibe eine Partei dem Vermittlungsvorstand fern, werde eine zweite Verhandlung (peremtorisch) angesetzt, wobei die erschienene Partei für die Umtriebe zu entschädigen sei. Eine Bussenverfügung im Sinn von § 118 ZPO bleibe ausdrücklich vorbehalten. Darauf setzte die BVG-Sammelstiftung das Friedensrichteramt davon in Kenntnis, dass es sich um eine Streitigkeit zwischen Vorsorgeeinrichtung und Arbeitgeber betreffend BVG-Beiträge und damit um ein Verfahren nach Art. 73 BVG handle. Hier sei keine Friedensrichterverhandlung vorgesehen; die sachliche Zuständigkeit liege beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau. Das Friedensrichteramt teilte der BVG-Sammelstiftung hierauf telefonisch mit, es erachte sich als korrekte Anlaufstelle und halte an der Durchführung des Vermittlungsvorstands fest. Die BVG-Sammelstiftung blieb der Verhandlung fern. Das Friedensrichteramt lud die Parteien, die BVG-Sammelstiftung peremtorisch, zur zweiten Verhandlung vor. Der BVG-Sammelstiftung auferlegte es wegen unentschuldigten Fernbleibens eine Ordnungsbusse von Fr. 100.00 und verpflichtete sie zur Zahlung einer Entschädigung sowie einer Verfahrensgebühr.

b) Die BVG-Sammelstiftung reichte gegen die Verfügung des Friedensrichters sowohl beim Obergericht als auch beim Vizegerichtspräsidium fristgemäss Rekurs ein; gegen den vom Vizegerichtspräsidium gefällten Entscheid erhob sie anschliessend Aufsichtsbeschwerde beim Obergericht. In sämtlichen Verfahren machte sie geltend, für Streitigkeiten über BVG-Beitragsforderungen sei gemäss Art. 73 BVG das Verwaltungsgericht zuständig.

2. a) Wer einen zivilrechtlichen Rechtsstreit i.S.v. § 1 ZPO anheben will, hat dem zuständigen Friedensrichter den Gegenstand der Klage und die Person, gegen die sie sich richtet, namhaft zu machen und die Anordnung eines Vermittlungsvorstands zu begehren, sofern ein solcher stattzufinden hat, § 113 i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Der Friedensrichter lädt laut § 114 ZPO unverzüglich zum Vermittlungsvorstand ein. Das Gerichtspräsidium prüft nach Eingang der Klage, ob das angerufene Gericht zuständig ist. Fehlt einem Begehren offensichtlich eine Prozessvoraussetzung, ist es durch den Gerichtspräsidenten gestützt auf § 134 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 2 ZPO ohne weiteres zurückzuweisen. Die Prozessvoraussetzungen, namentlich ihre Zuständigkeit, haben die Gerichte nach § 94 ZPO von Amtes wegen zu prüfen. Der Friedensrichter hat somit eine Klage ungeachtet der Frage, ob die Prozessvoraussetzungen, z.B. die Zuständigkeit, gegeben sind, an die Hand zu nehmen. Jene Prüfung obliegt dem Gericht beziehungsweise dem Gerichtspräsidenten; der Friedensrichter darf sich nicht als unzuständig erklären. Dies heisst jedoch nicht, dass er sich um die Frage der Zuständigkeit überhaupt nicht kümmern müsste: Vielmehr hat er nach § 43 Abs. 1 Satz 2 ZPO seine örtliche und sachliche Zuständigkeit ebenso zu prüfen wie die Frage, ob die Klage allenfalls unmittelbar beim erkennenden Gericht einzureichen ist. Verneint er seine Zuständigkeit, hat er der klagenden Partei entsprechende Vorhaltungen zu machen ‑ einerseits, um unnütze prozessuale Vorkehren zu vermeiden, andererseits, um den Grundsatz der Fairness im Prozess zu wahren[1]. Sofern die klagende Partei auf dem Vermittlungsvorstand beharrt, hat er diesen indessen auch dann abzuhalten und eine Weisung auszustellen, wenn er sich für unzuständig hält[2]. Stellt der Gerichtspräsident sodann fest, dass eine Prozessvoraussetzung offensichtlich fehlt, und ist der Mangel nicht heilbar, wird die Klage nicht eingeschrieben, das Begehren vielmehr form- und kostenlos zurückgewiesen[3].

b) Das Friedensrichteramt war somit allein gestützt auf die Einrede der fehlenden Zuständigkeit durch die beklagte Partei nicht berechtigt, den Vermittlungsvorstand abzusagen und auf die Klage nicht einzutreten. Den Entscheid darüber, ob das Bezirksgericht zur Beurteilung der anhängig gemachten Klage zuständig sei, musste es dem Gericht beziehungsweise dessen Präsidenten überlassen, nachdem die X AG an der Durchführung des Vermittlungsvorstands festhielt. Ebenso zu Recht wies das Friedensrichteramt die Rekurrentin darauf hin, sie habe zum angesetzten Termin persönlich zu erscheinen, andernfalls sie mit einer Busse sowie Kosten- und Entschädigungsfolgen zu rechnen habe. Nachdem die Rekurrentin dem Vermittlungsvorstand trotzdem ferngeblieben war, hatte das Friedensrichteramt gar keine andere Wahl, als einen zweiten Vermittlungsvorstand gestützt auf § 64 Abs. 1 ZPO anzusetzen und die Rekurrentin dazu peremtorisch vorzuladen.

Dies bedeutet jedoch nicht auch, eine beklagte Partei sei unter allen Umständen verpflichtet, dem Ruf des Friedensrichters Folge zu leisten. Sie ist durchaus berechtigt, sich überhaupt nicht auf den Prozess einzulassen und einem Vermittlungsvorstand, der von einem unzuständigen Friedensrichteramt angesetzt wurde, fernzubleiben. Die Erscheinungspflicht der Partei zum Vermittlungsvorstand hat keinen Selbstzweck in dem Sinn, dass sie selbst bei Unzuständigkeit bestehen und bei Nichterscheinen ohne weiteres zu einer Busse und zu Kostenfolgen führen würde. Die Auferlegung einer Busse und die Überbindung der Kosten bedingt zum einen eine korrekte Vorladung und zum anderen die Zuständigkeit des Friedensrichters. Es ist deshalb sinnvoll, dass letzterer, bevor er eine Bussenverfügung wegen unentschuldigten Nichterscheinens zum Vermittlungsvorstand erlässt, bei unklaren beziehungsweise bestrittenen Verhältnissen hinsichtlich der Prozessvoraussetzungen den Entscheid des zuständigen Gerichts abwartet[4].

c) In der zu beurteilenden Streitsache war dem Friedensrichteramt lediglich bekannt, dass die X AG gegen die BVG-Sammelstiftung eine Klage betreffend Aberkennung einer Forderung anhängig machen wollte. Worum es konkret und im Einzelnen ging, wusste es nicht; auch die Rekurrentin hatte bislang stets nur darauf hingewiesen, es handle sich um ein Verfahren nach Art. 73 BVG (Streitigkeit zwischen Vorsorgeeinrichtung und Arbeitgeber betreffend BVG-Beiträgen). Nunmehr herrscht über den Streitgegenstand Klarheit: Die BVG-Sammelstiftung betrieb die X AG für Fr. 9'102.35 nebst Zins. Grund der Forderung seien Beiträge und Zinsen bis zur Vertragsauflösung. Die Rekursgegnerin erhob Rechtsvorschlag. Das Vizegerichtspräsidium erteilte für die in Betreibung gesetzte Summe provisorische Rechtsöffnung. In der Folge reichte die Rekursgegnerin beim Friedensrichteramt Aberkennungsklage ein.

Dessen Gegenstand ist somit eine Beitragsstreitigkeit zwischen einer Vorsorgeeinrichtung und dem Arbeitgeber. Wer über Streitigkeiten dieser Art zu entscheiden hat, wird in Art. 73 Abs. 1 BVG i.V.m. § 69a Abs. 1 Ziff. 5 VRG geregelt: Es ist dies im Kanton Thurgau das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht. Die Zuständigkeitsordnung nach Art. 73 BVG ist zwingend[5]. Dass der Streit über die Beitragsforderungen im Rahmen einer Aberkennungsklage ausgefochten wird, ändert an der sachlichen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nichts; soweit nicht kantonalrechtliche Spezialvorschriften bestehen, ist dasjenige Gericht zur Behandlung der Aberkennungsklage sachlich zuständig, welches für eine entsprechende normale materielle Klage zuständig wäre[6]. Das Friedensrichteramt weist zwar zu Recht darauf hin, die Aberkennungsklage sei gemäss Art. 83 Abs. 2 SchKG beim Gericht des Betrei­bungsorts einzureichen; dieser Hinweis betrifft aber einzig die örtliche und nicht die sachliche Zuständigkeit, und es kann keinem Zweifel unterliegen, dass in örtlicher Hinsicht das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau für die Beurteilung der Streitsache zuständig ist.

d) Die Rekurrentin berief sich somit zu Recht auf Unzuständigkeit des Bezirksgerichts und des Friedensrichteramts. Funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sind ‑ von Ausnahmen meist prozessökonomischer Art abgesehen[7] ‑ Nichtigkeitsgründe[8]. Die Nichtigkeit eines Entscheids ist jederzeit und von sämtlichen rechtsanwendenden Behörden von Amtes wegen zu beachten[9]. Nachdem das Friedensrichteramt offensichtlich unzuständig war, sowohl einen Friedensrichtervorstand anzusetzen ‑ das Verwaltungsrechtspflegegesetz sieht kein dem Hauptverfahren vorgeschaltetes Vermittlungsverfahren vor ‑ als auch die als Folge des Nichterscheinens der Rekurrentin sodann ergangene Verfügung zu erlassen, hat das Obergericht nun die Nichtigkeit aller dieser Entscheide, die Verfügung des Vizegerichtspräsidiums eingeschlossen, festzustellen und sie aufzuheben. Gleichzeitig wird das Friedensrichteramt angewiesen, das Aberkennungsverfahren an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau weiterzuleiten. Dass die thurgauische Zivilprozessordnung das Institut der Prozessüberweisung nicht kennt[10], steht dem nicht entgegen, bezieht sich diese Vorschrift doch lediglich auf das Vorgehen bei örtlicher Unzuständigkeit. Zumindest im innerkantonalen Bereich muss die Weiterleitungspflicht[11] hingegen bei fehlender sachlicher und funktioneller Zuständigkeit auf jeden Fall gelten[12].

3. Sowohl der Rekurs als auch die Aufsichtsbeschwerde sind somit zu schützen.

Obergericht, 16. Januar 2006, ZR.2005.108/AJR.2005.9


[1] RBOG 2000 Nr. 19 S. 111

[2] Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, Bern 2000, § 114 N 4

[3] Merz, § 134 ZPO N 2

[4] RBOG 2000 Nr. 19 S. 112

[5] Vgl. Riemer, Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, Bern 1985, S. 131

[6] Staehelin, Basler Kommentar, Art. 83 SchKG N 39

[7] Vgl. Zweidler, Die Praxis zur thurgauischen Strafprozessordnung, Bern 2005, § 205 N 17 a.E.

[8] BGE 129 I 364

[9] BGE 129 I 363

[10] Vgl. Merz, § 94 ZPO N 2a

[11] Merz, § 68 ZPO N 6

[12] BGE 118 Ia 243 f.

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