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RBOG 2006 Nr. 7

Beweisrechtliche Folgen der Erfassung der Arbeitszeit durch Arbeitgeber in nicht korrekter Form


Art. 73 Abs. 1 lit. c ArGV 1, Art. 8 ZGB


1. Strittig ist die Forderung eines Kochs aus behaupteten Überstunden.

2. a) Gemäss unangefochtener Rechtsprechung und Lehre hat ein Arbeitnehmer, der Überstundenforderungen geltend macht, zu beweisen, dass er diese Stunden tatsächlich leistete. Diese Beweislastverteilung ergibt sich aus Art. 8 ZGB, wonach das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache von demjenigen zu beweisen ist, der daraus Rechte ableitet. Die Gerichtspraxis zeigt, dass Klagen auf Entschädigung von Überstunden dieser Beweislastverteilung wegen häufig zu Lasten des klagenden Arbeitnehmers ausgehen. Nicht zuletzt deswegen wurde in jüngerer Zeit die Frage aufgeworfen, ob nicht eine Umkehr der Beweislast zu erfolgen habe, wenn der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Dokumentation der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, wie sie in Art. 73 Abs. 1 Bst. c ArGV 1 beziehungsweise für den hier interessierenden Fall in Art. 15 Ziff. 7 L-GAV 98 für das Gastgewerbe festgeschrieben ist, nicht oder nur ungenügend nachkam, oder wenn er sich weigert, die an und für sich vorhandenen Unterlagen in einem Prozess vorzulegen. In den drei bislang zum L-GAV publizierten kantonalen Urteilen[1] wurde eine Beweislastumkehr ganz oder teilweise angenommen und deshalb dem Arbeitgeber der Beweis dafür auferlegt, dass die vom Arbeitnehmer behaupteten Überstunden nicht geleistet wurden; das Bundesgericht schützte diese Auffassung[2]. Indessen ist zu beachten, dass in all diesen Fällen der L-GAV in der Fassung von 1992 zur Anwendung kam, der in Art. 82 Ziff. 5 eine solche Beweislastumkehr ausdrücklich vorsah. Diese Regelung wurde von den Sozialpartnern nicht in den heute gültigen L-GAV aus dem Jahr 1998 übernommen: Neu hat das Unterlassen der Buchführungspflicht gemäss Art. 21 Ziff. 3 L-GAV 98 lediglich, aber immerhin noch zur Folge, dass eine Arbeitszeitkontrolle des Arbeitnehmers im Streitfall als Beweismittel zugelassen wird. Es bleibt damit die Frage offen, wie die Präjudizien entschieden worden wären, wenn die kollektivrechtliche Abrede einer Beweislastumkehr gefehlt hätte. Insbesondere die Erwägungen im Tessiner Entscheid lassen darauf schliessen, dass eine Beweislastumkehr allein schon wegen der in Art. 73 Abs. 1 lit. c ArGV 1 beziehungsweise Art. 15 Ziff. 7 L‑GAV 98 vorgeschriebenen Verletzung der Dokumentationspflicht Platz greifen soll[3].

Dogmatisch liesse sich eine Beweislastumkehr nur damit begründen, dass in der unterlassenen oder ungenügenden Arbeitszeiterfassung eine Beweisvereitelung zu erkennen wäre. Allerdings ist in der Literatur umstritten, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Beweisvereitelung überhaupt zu einer Beweislastumverteilung führt, oder ob solches Verhalten stattdessen in die richterliche Beweiswürdigung einzufliessen hat, indem der beweisbelasteten Partei durch eine Senkung des Beweismasses Beweiserleichterungen gewährt werden. Gemäss der differenzierenden Auffassung[4] lässt sich eine Beweislastumkehr mit der blossen Beweisnot des Beweisbelasteten grundsätzlich nie rechtfertigen. Es bleibt demnach auch bei Beweisnot, selbst wenn diese im Verhalten des Beweisgegners begründet ist, im Regelfall bei der Beweislastverteilung nach Art. 8 ZGB. Eine Umkehr der Beweislast wäre nur vertretbar, wenn der Beweisgegner die einzigen und nicht ersetzbaren Beweismittel vernichtete, obschon er sich ihrer Bedeutung bewusst war. In diesem Fall lässt sich die Beweislastumkehr direkt aus Art. 8 i.V.m. Art. 2 ZGB herleiten, ohne dass eine materiellrechtliche Aufbewahrungspflicht bestehen müsste[5].

Zusammengefasst heisst dies, dass eine Beweislastumverteilung in den Ausnahmefällen einer qualifizierten Beweisvereitelung angenommen werden kann. Im hier interessierenden Zusammenhang wäre dies also etwa der Fall, wenn der Arbeitgeber die vorhandenen Arbeitszeitunterlagen vorsätzlich und im Hinblick auf den anstehenden Zivilprozess vernichtete, um so dem Arbeitnehmer den Nachweis geleisteter Überstunden zu verunmöglichen. Das Verhalten des Arbeitgebers wäre in diesem Fall als rechtsmissbräuchlich im Sinn von Art. 2 ZGB zu werten, so dass sich ein ausnahmsweises Abrücken von Art. 8 ZGB rechtfertigen liesse. In allen anderen Fällen, insbesondere wenn keine Dokumentation angelegt oder diese nur lückenhaft geführt wurde, ist die Schwelle des Rechtsmissbrauchs nach Art. 2 ZGB noch nicht erreicht. Hier bleibt es dabei, dass die Beweislast für den Nachweis der behaupteten Überstundenarbeit weiterhin beim Arbeitnehmer liegt. Hingegen können und sollen solche Pflichtverletzungen in die Beweiswürdigung durch den Richter einfliessen. Dieser wird im Einzelfall zu prüfen haben, worin genau die Pflichtverletzung besteht. So wird ein Unterlassen der Aufzeichnungspflicht aus glaubhaft gemachter, blosser Unwissenheit weit weniger ins Gewicht fallen als etwa das Verweigern der Aktenedition im Prozess, wenn die Existenz der Unterlagen an sich unbestritten ist. Die - für das Arbeitsvertragsrecht in Art. 343 Abs. 4 OR besonders verankerte - freie Beweiswürdigung ermöglicht es, die Anforderungen an das Beweismass je nach Lage der Dinge zu reduzieren. Ein Rückgriff auf das dogmatisch schwer begründbare und umstrittene Institut der Beweislastumkehr bei Beweisvereitelung ist dazu nicht nötig[6].

b) aa) Die Vorinstanz auferlegte den Beweis, dass der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Nachzahlung für Überstunden habe, oder aber, dass die vom Arbeitnehmer hiefür geltend gemachten Lohnnachforderungen für Überstunden zu hoch sei, in Abweichung von der üblichen Beweislastverteilung dem Arbeitgeber. Die Überlegungen, welche die Vorinstanz zu dieser Umverteilung der Beweislast bewogen, sind im angefochtenen Urteil nicht dargelegt, so dass es dem Obergericht verwehrt ist, diese auf ihre Durchschlagskraft hin zu überprüfen. Es kann daher nur das Ergebnis des Denkvorgangs der Vorinstanz geprüft werden. Dieses aber scheint vor dem Hintergrund des hier massgebenden L‑GAV aus dem Jahr 1998, der anders als die Fassung aus dem Jahr 1992 eine Beweislastumverteilung bei Unterlassen der Buchführung durch den Arbeitgeber gerade nicht mehr vorsieht, sowie der allgemeinen Zivilprozessrechtslehre als unzutreffend: Eine qualifizierte Beweisvereitelung, die allein eine Beweislastumverteilung bewirken könnte, ist nicht ersichtlich, denn der Arbeitgeber liess die vom Küchenchef geführten, von den Arbeitnehmern entgegen Art. 15 Ziff. 7 L-GAV 98 indessen nicht unterschriebenen Aufschriebe über deren Arbeitszeit nicht verschwinden, sondern reichte sie im Gegenteil an der Hauptverhandlung aus freien Stücken ein. Soweit der Arbeitnehmer im Berufungsverfahren behauptete, er habe die "auf der Arbeit geführten Stundenpläne unterschrieben", und dem Arbeitgeber mit dem Hinweis, diese nicht einzureichen, sinngemäss eine qualifizierte Beweisvereitelung vorwarf, ist festzustellen, dass es sich bei den vom Arbeitnehmer genannten Stundenplänen um am Arbeitsplatz vorgenommene persönliche Aufschriebe des Arbeitnehmers und nicht um solche des Arbeitgebers im Sinn von Art. 15 Ziff. 7 L-GAV 98 handeln muss beziehungsweise kann. Vor der Vorinstanz legte der Arbeitnehmer nämlich noch dar, dass er seine Überstunden selber aufgezeichnet und auch unterschrieben habe, und weil die von ihm ins Recht gelegten Stundenaufschriebe weder von ihm selber erstellt wurden (darauf wird zurückgekommen) noch von ihm unterschrieben sind, muss es sich bei den vom Arbeitnehmer erwähnten unterschriebenen Stundenplänen um selber verfasste handeln. Diese hätte er bei der Beendigung der Arbeit beim Arbeitgeber ohne weiteres mitnehmen und selber einreichen können. Dass er dies nicht tat, schadet ihm allerdings nicht, denn die zuhause erstellten und in diesem Verfahren eingereichten Stundenaufschriebe sollen gemäss den Darlegungen des Arbeitnehmers mit den von ihm am Arbeitsplatz erstellten Plänen übereinstimmen. Wenn der Arbeitgeber aber diese vom Arbeitnehmer erstellten Stundenpläne nicht einreicht, hat dies mit einer Beweisvereitelung, geschweige denn mit einer qualifizierten, nichts zu tun, denn zum einen ist der Arbeitnehmer aufgrund der zuhause ebenfalls notierten Überstunden nicht in Beweisnot, und zum anderen stellen die Aufschriebe des Arbeitnehmers ohnehin keine solchen gemäss Art. 15 Ziff. 7 L‑GAV 98 dar.

bb) Somit hat der Arbeitnehmer den Beweis, dass und wie viele Überstunden er leistete, zu erbringen, wobei dem Umstand, dass der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit nicht in korrekter Form nachkam, durch eine Senkung des Beweismasses Rechnung zu tragen ist. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Gründe dafür, dass die Stundenaufschriebe des Küchenchefs von den Arbeitnehmern nicht unterzeichnet wurden, ausgesprochen dürftig sind: Es wurde offenbar einzig deswegen auf die Unterzeichnung verzichtet, weil das vom L-GAV geforderte Vorgehen angesichts der etwa 30 Angestellten des Arbeitgebers mit zuviel Aufwand verbunden gewesen sein soll. Nachdem der Arbeitgeber aber selber zugestand, dass seine Arbeitnehmer beim Aufschreiben der Stunden durch den Küchenchef teilweise zugegen waren, leuchtet nicht ein, weshalb diese die Aufschriebe nicht gleichzeitig auch mit ihrer Unterschrift hätten bestätigen können. Nach einem Urteil des Gewerblichen Schiedsgerichts Basel-Stadt müssen Stunden­aufschriebe eines Arbeitnehmers im Fall, dass der Arbeitgeber seine Buchführungspflicht verletzt, glaubhaft und unverdächtig erscheinen, um den Beweis erbringen zu können[7]. Werden die Stundenaufschriebe des Arbeitnehmers auf ihre Glaubhaftigkeit und Unverdächtigkeit hin überprüft, so ist zunächst festzustellen, dass diese für sich betrachtet eher verdächtig und unglaubhaft erscheinen: Zum einen sind sie nicht durch den Arbeitnehmer persönlich erstellt worden. Die Schrift, mit der die Stundenaufschriebe verfasst wurden, ist ganz offensichtlich nicht diejenige des Arbeitnehmers, sondern es handelt sich augenscheinlich um diejenige seiner damaligen Freundin. Zum anderen wecken die vom Arbeitnehmer eingereichten Stunden­aufschriebe auch inhaltlich Bedenken: In der vierten Juni-Woche 2004 waren am Montag zuerst Arbeitszeiten von 09.00 bis 15.15 Uhr/17.00 bis 23.00 Uhr (21. Juni) und am Dienstag von 09.00 bis 15.00/17.00 bis 22.30 Uhr (22. Juni) eingetragen. Diese Einträge wurden anschliessend durchgestrichen und die beiden Tage als "Frei" bezeichnet. Bei den auf den 22. Juni 2004 folgenden beiden Tagen sind exakt die gleichen Arbeitszeiten eingetragen, wie sie ursprünglich am 21. und 22. Juni 2004 notiert waren. Wären die Stundenaufschriebe ‑ was ihnen fraglos Glaubhaftigkeit verleihen würde ‑ Tag für Tag vorgenommen worden, wäre ein solcher Verschrieb ausgeschlossen, denn am 21. und 22. Juni 2004 konnte dem Arbeitnehmer unmöglich bereits bekannt sein, wie viele Stunden er nach seinen Freitagen am 21. und 22. Juni am 23. und 24. Juni exakt würde arbeiten müssen. Indessen vermochte der Arbeitnehmer im zweitinstanzlichen Verfahren für diese beiden Auffälligkeiten plausible Erklärungen abzugeben: So räumte er auf eine entsprechende, offen formulierte Frage ohne weiteres ein, dass die Aufschriebe von seiner damaligen Freundin vorgenommen worden seien; er habe seine Arbeitszeiten jeweils auf kleine Zettelchen, wie sie vom Servicepersonal verwendet würden, notiert und nach Hause genommen, wo sie später von seiner Freundin in die eingereichte Aufstellung übertragen worden seien. Damit sind beide Punkte, die den Verdacht auf im Nachhinein zu Prozesszwecken erstellten Aufschriebe hatten aufkommen lassen, entkräftet; insbesondere entpuppen sich die ursprünglich fehlerhaften Angaben vom 21. und 22. Juni 2004 als blosse Verschriebe beim nachträglichen Übertragen der vom Berufungsbeklagten täglich notierten Stundenzahlen. Vor dem Hintergrund der Erläuterungen des Berufungsbeklagten vermag schliesslich auch der Umstand, dass die von ihm eingereichten Aufschriebe offensichtlich mit nur einem einzigen Schreibstift vorgenommen wurden und wie aus einem Guss erscheinen und insofern den Eindruck entstehen lassen könnten, es seien nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gleichsam wahllos Überstunden notiert worden, keinen ernsthaften Zweifel an der Glaubhaftigkeit mehr aufkommen zu lassen: Das regelmässige Erscheinungsbild der Aufschriebe ist zwanglos damit erklärbar, dass die Freundin des Berufungsbeklagten die Stundenübersicht zwar wohl nur in wenigen Malen, aber eben gestützt auf die täglichen Notizen des Berufungsbeklagten niederschrieb. Somit vermag der Berufungsbeklagte den Beweis für die geleisteten Überstunden mit seinen Aufschrieben zu erbringen.

Obergericht, 30. März 2006, ZBR.2005.89


[1] Tessin: JAR 2002 S. 160 ff.; St. Gallen: JAR 2002 S. 155 ff.; Wallis: SARB 1998 Nr. 55

[2] SARB 2000 Nr. 155

[3] Rudolph, in: Arbeitsgesetz (Hrsg.: Geiser/von Kaenel/Wyler), Bern 2005, Art. 46 N 15 ff.

[4] Kummer, Berner Kommentar, Art. 8 ZGB N 183 ff., 190 f.; Schmid, Basler Kommentar, Art. 8 ZGB N 71; Deschenaux, Schweiz. Privatrecht, II, Basel/Stuttgart 1967, S. 259 f.; Beglinger, Beweislast und Beweisvereitelung im Zivilprozess, in: ZSR 115 I, 1996, S. 479 ff.

[5] Rudolph, Art. 46 ArG N 17

[6] Rudolph, Art. 46 ArG N 18

[7] Bericht des Gewerblichen Schiedsgerichts Basel-Stadt über die Rechtsprechung in den Jahren 2000-2002, S. 10 (www.gerichte.bs.ch; Zivilgericht; Dokumente; Rechtsprechung; Bericht über die Rechtsprechung des Gewerblichen Schiedsgerichts in den Jahren 2000-2002)

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