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RBOG 2007 Nr. 38

Ursprünglich korrekt erhobene Beweise können nicht aufgrund einer Gesetzesänderung mangelhaft werden


Art. 31 Abs. 2 BV, § 86 StPO, § 233 StPO, Art. 39 VStrR


1. a) In den frühen Neunzigerjahren schloss der Schweizer Landwirt A mit mehreren in Deutschland lebenden Landwirten Pachtverträge ab. Diese berechtigten ihn, gegen einen Pachtzins landwirtschaftliche Pachtflächen in Deutschland zu bewirtschaften. Mit den Pachtverträgen erlangte A beim Zollamt die abgaben- und bewilligungsfreie Einfuhr der aus den Pachtgrundstücken stammenden Ernteerträge.

b) Im Frühjahr 1997 leitete der Untersuchungsdienst der Zollkreisdirektion gegen A und die deutschen Landwirte eine Untersuchung ein und warf ihnen vor, fingierte Pachtverträge abgeschlossen zu haben. A habe den "Verpächtern" nicht den schriftlich vereinbarten Pachtzins bezahlt, sondern ein Entgelt, das von der Art und Menge der geernteten und von ihm übernommenen Produkte abhängig gewesen sei. Zudem hätten die "Verpächter" das "verpachtete" Land weiterhin mitbestellt und namhaften Einfluss auf die Bewirtschaftung ausgeübt. Damit seien die Bedingungen für den zollfreien Warenverkehr nicht erfüllt gewesen, und die Beschuldigten hätten gegen das Zollgesetz, die Verordnung über die Mehrwertsteuer und das Getreidegesetz verstossen.

2. a) Es ist unbestritten und erstellt, dass die Beschuldigten im Rahmen der verwaltungsstrafrechtlichen Untersuchung nicht über ihr Aussageverweigerungsrecht belehrt wurden. Die Vorinstanz erwog, unter Berücksichtigung von § 86 Abs. 4 StPO sei mit der Missachtung des Aussageverweigerungsrechts derart in das Persönlichkeitsrecht der Angeschuldigten eingegriffen worden, dass gestützt auf die Einvernahmen kein Schuldspruch erfolgen könne. Darüber hinaus lägen keine genügenden Beweise für die Schuld der Angeklagten vor, weshalb diese gestützt auf den Grundsatz "in dubio pro reo" freizusprechen seien.

b) Die Oberzolldirektion stützte sich anlässlich der Berufungsverhandlung nicht mehr auf die Einvernahmen, sondern machte geltend, das Verschulden ergebe sich auch aus den anderen Untersuchungsakten. Zur Verwirklichung des Gebots der Erforschung der materiellen Wahrheit hat die Berufungsinstanz jedoch von Amtes wegen die Pflicht, Fehler im angefochtenen Urteil zu beheben[1]. Es ist somit vorab zu prüfen, ob die Vorinstanz die Einvernahmen der Angeschuldigten zu Recht nicht berücksichtigte.

3. a) Beweise sind nach dem jeweils gültigen Prozessrecht zu erheben[2]; ursprünglich korrekt erhobene Beweise können nicht aufgrund einer Gesetzesänderung mangelhaft werden[3].

b) Die Einvernahmen erfolgten durch den Untersuchungsdienst der Zollkreisdirektion, welcher der Eidgenössischen Zollverwaltung untersteht. Ist die Verfolgung von Widerhandlungen einer Verwaltungsbehörde des Bundes übertragen, so sind primär die Bestimmungen des VStrR[4], nicht diejenigen der kantonalen Strafprozessordnung anzuwenden[5]. Gemäss Art. 39 Abs. 4 VStrR ist aktenkundig zu machen, wenn sich der Beschuldigte weigert, auszusagen. Es besteht somit nach dem Gesetz ein Aussageverweigerungsrecht, nicht jedoch eine Pflicht der Behörden, den Angeschuldigten ausdrücklich auf sein Recht aufmerksam zu machen[6]. Eine solche Pflicht war auch in den damals einschlägigen Vorschriften der thurgauischen StPO nicht enthalten und auch nicht durch die Rechtsprechung anerkannt. § 86 Abs. 1 StPO in der heutigen Fassung trat erst am 1. Januar 2000 in Kraft[7]; § 86 Abs. 1 Satz 1 StPO enthielt vorher auch in der Fassung vom 5. November 1991 nur den Hinweis, der Angeschuldigte sei zur Wahrheit zu ermahnen. Es ist jedoch zusätzlich zu prüfen, ob sich im massgebenden Zeitpunkt die Pflicht zum Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht aus anderen (übergeordneten) Rechtsquellen ergab.

c) Gestützt auf Art. 31 Abs. 2 BV hat jede Person, der die Freiheit entzogen wird, unter anderem Anspruch darauf, unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache über ihre Rechte unterrichtet zu werden; sie muss die Möglichkeit haben, ihre Rechte geltend zu machen. Dazu gehört auch das Schweige- und Aussageverweigerungsrecht[8]. Diese Bestimmung trat jedoch erst am 1. Januar 2000 in Kraft und kann damit für die im Jahr 1997 durchgeführten Einvernahmen nicht massgebend sein.

Eine Pflicht zum ausdrücklichen Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht ergab sich vor dem 1. Januar 2000 auch nicht aus übergeordnetem Recht[9], da sich Art. 31 Abs. 2 BV anders als die übrigen Verfahrensgarantien gar nicht an die EMRK oder an den UNO-Pakt II und die geltende Rechtssprechung dazu oder an Art. 4 aBV anlehnt, sondern auf frühere Vorentwürfe zur Totalrevision der Bundesverfassung zurückgeht[10]. Im Übrigen ist nicht zu verkennen, dass auch der deutsche Bundesgerichtshof ein Verwertungsverbot im Zusammenhang mit unterlassenen Hinweisen auf das Aussageverweigerungsrecht seinerseits ebenfalls erst in einem Grundsatzentscheid vom 27. Februar 1992 statuierte[11]; noch 1995 hielt der Bundesgerichtshof fest, bei einer rechtshilfeweisen Einvernahme des Angeschuldigten für ein deutsches Gericht durch eine schweizerische Behörde verstosse die unterlassene Belehrung (aus deutscher Sicht) nicht gegen den ordre public[12].

Da nach dem massgebenden Prozessrecht korrekt erhobene Beweise durch eine später erfolgende Gesetzesänderung nicht mangelhaft werden können, unterscheidet sich der Fall denn auch massgeblich von BGE 130 I 126 ff., in welchem Einvernahmen zu beurteilen waren, welche nach dem Inkrafttreten von Art. 31 BV durchgeführt worden waren.

Die Einvernahmen wurden somit nicht unter Verletzung von Verfahrensgarantien durchgeführt und sind grundsätzlich verwertbar.

d) Selbst wenn sich das Strafgericht für die Frage der Verwertbarkeit der Aussagen am heute geltenden Recht orientieren müsste, wäre deren Verwertung nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Art. 31 Abs. 2 BV gewährt den Anspruch auf Unterrichtung über das Aussageverweigerungsrecht - anders als (mittlerweile) verschiedene kantonale Strafprozessordnungen - nur festgenommenen Beschuldigten[13]. Von den fünf Beschuldigten wurde jedoch nur A festgenommen. Die Einvernahmen der deutschen Landwirte sind somit ohne weiteres verwertbar. Die Frage, ob ein mit einem formellen Mangel behaftetes Einvernahmeprotokoll als Beweismittel verwertbar ist, muss zudem gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung vom Sachrichter im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung beantwortet werden. Er hat darüber zu befinden, ob die in Frage stehenden Aussagen als Beweismittel erheblich sind, und - gegebenenfalls - die notwendige Interessenabwägung vorzunehmen; ein absolutes Verwertungsverbot besteht entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht[14]. Auch § 86 Abs. 4 StPO steht der Verwertung der Aussagen nicht entgegen, denn aus dieser Bestimmung folgt keine absolute Unverwertbarkeit der Aussagen wegen einer unterlassenen Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht; vielmehr ist gemäss bundesgerichtlicher Rechtssprechung im Rahmen einer Interessenabwägung abzuklären, ob ein Ausnahmefall vorliegt[15].

e) Zusammengefasst sind die Einvernahmeprotokolle verwertbar. Da sich die Vorinstanz bisher nur mit formellen Fragen auseinandersetzte, ist die Sache zur materiellen Beurteilung und zu neuem Entscheid zurückzuweisen.

Obergericht, 8. Mai 2007, SBR.2006.38


[1] Zweidler, Die Praxis zur thurgauischen Strafprozessordnung, Bern 2005, § 209 N 18

[2] Vgl. BGE vom 12. Februar 2007, 6P.216/2006, Erw. 4.1

[3] Zweidler, § 233 StPO N 4

[4] Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht, SR 313.0

[5] Art. 1 VStrR; BBl 1971 I 1025; § 23 StPO

[6] Hauri, Verwaltungsstrafrecht, Bern 1998, S. 103; zur heutigen Rechtslage vgl. allerdings Hauser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6.A., S. 154

[7] Zur Zielsetzung jener Änderung: Vorschläge für eine umfassende Justizreform im Kanton Thurgau, Schriftenreihe der Staatskanzlei des Kantons Thurgau, Bd. 11, Frauenfeld 1995, S. 320 ff.

[8] BGE vom 14. März 2001, 8G.55/2000, Erw. 3

[9] In der 1999 erschienenen 4. Auflage von Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, wird ausdrücklich aufgeführt, eine Pflicht zum Hinweis auf das Schweigerecht des Angeschuldigten bestehe in der Schweiz ebenso wenig wie ein Verwertungsverbot bei unterbliebener Belehrung, unter Hinweis auf gegenläufige Ansätze in den Kantonen Zürich, Bern und Freiburg (S. 142).

[10] BGE vom 14. März 2001, 8G.55/2000, Erw. 3b.bb

[11] BGHSt 38, 214

[12] Hauser/Schweri/Hartmann, S. 155

[13] Vgl. aber ZR 102, 2003, Nr. 34

[14] BGE vom 14. März 2001, 8G.55/2000, Erw. 3c; BGE 131 I 278 f., 130 I 131 f.

[15] Vgl. Zweidler, § 86 StPO N 6; vgl. Hauser/Schweri/Hartmann, S. 155

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