RBOG 2008 Nr. 15
Örtliche Zuständigkeit für eine Klage gegen einen Verein mit "fliegendem" Sitz; Einlassung
Art. 3 Abs. 1 lit. b GestG, Art. 9 Abs. 3 GestG, Art. 10 GestG, Art. 56 ZGB
1. Im März 2007 fand die Delegiertenversammlung des Vereins statt. Dessen Präsident war dannzumal der im Kanton Thurgau wohnhafte X; an der Delegiertenversammlung wurde der in einem anderen Kanton wohnende Y zum neuen Präsidenten gewählt. Im April 2007 erhob das ebenfalls in einem anderen Kanton wohnhafte Vereinsmitglied (Rekurrent) im Kanton Thurgau Klage gegen den Verein und focht die Beschlüsse der Delegiertenversammlung an. Das Bezirksgericht verneinte seine Zuständigkeit und trat auf die Klage nicht ein.
2. Strittig ist die Zuständigkeit des Bezirksgerichts.
a) Gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. b GestG ist für Klagen gegen eine juristische Person und damit auch gegen einen Verein[1] das Gericht an dessen Sitz örtlich zuständig. Gemäss Art. 56 ZGB sind primär die Statuten massgebend. Fehlt in den Statuten eine Sitzangabe, befindet sich der Sitz am Ort, wo die Gesellschaft verwaltet wird[2]. Muss eine Sitzverlegung nicht im Handelsregister eingetragen werden, wie dies beim Verein der Fall ist, wird der neue Sitz mit der gültigen Beschlussfassung verbindlich[3].
b) Gemäss Art. 1 der Statuten des Vereins befindet sich sein Sitz am Wohnort des jeweiligen Zentralpräsidenten. Gemäss Art. 23 wird der Zentralvorstand, unter anderem bestehend aus dem Zentralpräsidenten, von der Delegiertenversammlung für eine Amtsdauer von zwei Jahren gewählt, wobei Wiederwahl zulässig ist.
c) X wohnt im Thurgau. Ist davon auszugehen, er sei im Zeitpunkt der Klageeinreichung durch den Rekurrenten noch Präsident des Vereins gewesen, ist für die Beurteilung der Streitsache das Bezirksgericht zuständig.
3. a) Die Vorinstanz ging davon aus, es sei unbestritten, dass X als Präsident des Vereins bereits per Ende 2006 habe zurücktreten wollen. Im Dezember 2006 sei eine ausserordentliche Delegiertenversammlung durchgeführt worden, welche im März 2007, wiederum unter dem Vorsitz von X, wiederholt worden sei. Dieser habe per Ende März 2007 definitiv seinen Rücktritt erklärt, was vom Rekurrenten offenbar auch anerkannt worden sei. Jedenfalls sei am 25. März 2007 Y als sein neuer Präsident gewählt worden; dass X dieses Amt weiterführen werde, sei nie zur Diskussion gestanden. Selbstverständlich müsse es einem Vereinspräsidenten frei stehen, zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt von seinem Amt zurückzutreten. Eine allenfalls ungültige Wahl eines neuen Präsidenten ändere an der Gültigkeit dieses Rücktritts nichts. Demgemäss sei gemäss Statuten ab 1. April 2007 der Sitz des Vereins nicht mehr im Thurgau gewesen, und dies völlig unabhängig davon, ob Y statutenkonform gewählt worden sei.
Die Vorgeschichte, die zur Wahl des neuen Präsidenten führte, geht aus den bei den Akten liegenden Unterlagen nirgends hervor; es ist anzunehmen, dass die Vorinstanz anlässlich der Hauptverhandlung zu diesen Informationen kam. Im Rekursverfahren sind sie aber offensichtlich unbestritten. Nach Auffassung des Rekurrenten ist das Bezirksgericht aber für die Beurteilung der Streitsache zuständig, weil X zum einen die Delegiertenversammlung im März 2007 noch als Präsident geleitet habe und exakt diese Beschlüsse angefochten seien; zum anderen vertritt er die Auffassung, die Vorinstanz habe, bevor sie über ihre Zuständigkeit befinde, vorfrageweise zu prüfen, ob die Wahl des neuen Präsidenten statutenkonform zustande gekommen sei.
b) Beide Auffassungen sind unzutreffend. In der Regel wird der Sitz eines Vereins in den Statuten mittels exakter Ortsangabe bezeichnet. Oft wird aber auch der jeweilige Wohnsitz oder Sitz einer bestimmten oder objektiv bestimmbaren natürlichen oder juristischen Person als Vereinssitz bezeichnet; man spricht alsdann von einem "fliegenden" Sitz[4]. Fehlt es an der Bezeichnung eines Sitzes, greift Art. 56 ZGB, wonach sich der Sitz der juristischen Person, wenn ihre Statuten es nicht anders bestimmen, an dem Ort befindet, an dem die Verwaltung (zur Hauptsache) geführt wird.
Der (beklagte) Verein verfügt über einen "fliegenden" Sitz: In seinen Statuten wird als Vereinssitz der jeweilige Wohnsitz des Präsidenten genannt. Wie es sich verhält, wenn der Präsident seinen Rücktritt erklärt, ohne dass ein neuer gewählt wird, oder wenn er unerwartet stirbt, regeln die Statuten nicht. In einem solchen Fall würde folglich Art. 56 ZGB Platz greifen: Der Sitz des Vereins befände sich alsdann an demjenigen Ort, an dem die laufenden Verwaltungsgeschäfte geführt werden. Der Rekurrent weist somit zu Recht darauf hin, bei solchen Gegebenheiten könne es nicht sein, dass sich der Verein "plötzlich im Niemandsland befindet"; auch bei diesen Gegebenheiten kann sofort eruiert werden, wo sich der Vereinssitz befindet. Vorliegend steht jedoch nicht ein solcher Fall zur Diskussion; vielmehr gab X sein Amt fast im selben Zeitpunkt ab, in dem Y als neuer Präsident des Vereins gewählt wurde: Am 25. März 2007 fand die Neuwahl statt, und per Ende März 2007 hatte X definitiv seinen Rücktritt erklärt. In diesem Fall gelangt somit die Statutenregelung zur Anwendung, wonach bei Wahl eines neuen Präsidenten der Sitz des Vereins mit dem Wohnsitz des neuen Präsidenten gleichzusetzen ist. Der Rekurrent irrt, wenn er annimmt, der Vereinssitz sei so lange mit dem Wohnsitz eines Präsidenten identisch, bis die Beschlüsse einer von diesem geleiteten Delegiertenversammlung in Rechtskraft erwachsen seien beziehungsweise das Gericht deren Statutenkonformität festgestellt habe. Diese seinerseitige Auffassung findet weder im Gesetz noch in den Statuten eine Grundlage; den Vereinssitz von nicht klar im Voraus bestimmbaren Fakten abhängig zu machen, wäre denn auch mit der Rechtssicherheit nicht vereinbar. Es trifft ausserdem eben gerade nicht zu, dass bei den Regelungen, die hier ausschlaggebend sind, die 30 Tage, innert welchen ein Vereinsbeschluss beim Gericht angefochten werden muss, nicht ausreichen, um den Vereinssitz zu eruieren: Ob und welcher Vereinspräsident gewählt ist, ist innert kürzester Frist feststellbar.
c) Der Rekurrent reichte der Vorinstanz im April 2007 seine Klage ein. Zu diesem Zeitpunkt war X nicht mehr Präsident des Vereins; bereits am 25. März 2007 war ein neuer Vereinspräsident mit Wohnsitz in einem anderen Kanton gewählt worden. Demgemäss ist das Bezirksgericht für die Beurteilung der Streitsache nicht zuständig.
4. a) Der Verein hatte in seiner Klageantwort die Zuständigkeit des Bezirksgerichts nicht bestritten. Die Vorinstanz wies beide Parteien nochmals darauf hin, sie behalte sich ausdrücklich vor, ihre Zuständigkeit mangels örtlichem und/oder sachlichem Bezug zum Gerichtsstand abzulehnen. Der Verein erhob auch an der Hauptverhandlung keine Unzuständigkeitseinrede. Zu prüfen ist somit, ob die Vorinstanz berechtigt war, ihre Zuständigkeit abzulehnen. Dies trifft zu, wenn die Streitigkeit keinen genügenden örtlichen oder sachlichen Bezug zum vereinbarten Gerichtsstand aufweist[5]. Dass ein Gericht hiezu berechtigt ist, obwohl sich beide Parteien auf die Streitsache einlassen[6], wird in der Lehre kritisiert: Diese Regelung sei mit Blick auf die internationale Rechtsentwicklung unverständlich und stelle einen schwerwiegenden Eingriff in die Parteiautonomie dar[7]. Dieser Problematik kann zumindest teilweise dadurch begegnet werden, dass nicht ohne Not von ungenügendem sachlichem Bezug zum angerufenen Gerichtsstand ausgegangen wird. So folgt denn bereits aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GestG, dass das prorogierte Gericht seine Zuständigkeit nicht ablehnen darf beziehungsweise verpflichtet ist, das Verfahren anhand zu nehmen, sobald ein genügender Bezug vorliegt. Aus der Formulierung als Kann-Vorschrift folgt sodann, dass es ermächtigt ist, die prorogierte Streitsache auch dann anzunehmen, wenn kein näherer sachlicher Bezug zum vereinbarten Gerichtsstand vorliegt[8]. Welche Gegebenheiten beispielsweise einen ausreichenden Bezug begründen, legte die Vorinstanz dar. Zu ergänzen ist, dass der Entscheid darüber, ob der Bezug ausreichend ist, einen Ermessensentscheid darstellt[9].
b) Das Obergericht kommt mit der Vorinstanz zum Schluss, der Streitsache fehle der Bezug zum Bezirk. Dieser ist an sich einzig darin zu sehen, dass der Vertreter des Vereins, dessen ehemaliger Präsident, im Bezirk wohnt. Dies ist aber kein ausreichender Grund, um das Bezirksgericht zu verpflichten, die Streitsache zu behandeln, würde doch andernfalls jeder beliebige Vertreter, wo auch immer er wohnt, einen Gerichtsstand begründen. Dass der Verein schwergewichtig im Bereich Ostschweiz tätig ist, macht der Rekurrent nicht geltend; eine solche Behauptung träfe denn auch offensichtlich nicht zu. Des Weitern fand die Delegiertenversammlung vom 25. März 2007 nicht im Bezirk, sondern in einem anderen Kanton statt. Aus den Vereinsstatuten ergibt sich schliesslich, dass der Zentralpräsident, der Zentralsekretär, der Zentralkassier und der Ringwart der Zentralsektion das Büro bilden. Keine dieser Personen hat im Kanton Thurgau Wohnsitz. Der Rekurrent wohnt ebenfalls in einem anderen Kanton. Als "Bezug" zum Bezirksgericht verbleibt somit einzig die Tatsache, dass das Bezirksgericht diverse vom Rekurrenten gegen den Vertreter des Rekursgegners anhängig gemachte Ehrverletzungsklagen zu beurteilen hat. In diese Verfahren sind X und der Rekurrent jedoch als Privatpersonen involviert; der Verein hat damit nichts zu tun. Hinsichtlich der hier zu beurteilenden Klage fehlt somit der Bezug zum Bezirksgericht. Demgemäss war die Vorinstanz berechtigt, ihre Zuständigkeit trotz Einlassung durch den Verein abzulehnen.
5. a) Zu Recht beanstandet der Rekurrent hingegen, dass die Vorinstanz ihren Nichteintretensentscheid erst nach stattgefundener Hauptverhandlung fällte. Über die Annahme oder Ablehnung der Prorogation im Sinn von Art. 9 Abs. 3 GestG hat das Gericht von Amtes wegen zu entscheiden. Über den Zeitpunkt, an dem es sein Nichteintreten bekannt zu geben hat, sagt das Gesetz nichts aus. Der Entscheid ist indessen frühzeitig, "mit tunlichster Beförderung im Anfangsstadium des Prozesses"[10], zu erlassen. Um den Parteien – und auch dem Gericht – unnötigen Aufwand und vermeidbare Kosten zu ersparen, sollte der Nichteintretensentscheid bereits nach Eingang der Klageschrift ergehen, sofern schon daraus das Fehlen eines genügenden Bezugs erkennbar ist, andernfalls unverzüglich nach diesem Zeitpunkt, in jedem Fall aber vor einem Eintreten auf die Sache in der Hauptverhandlung[11].
b) Die Vorinstanz wies bereits nach Erhalt der Klageschrift beide Parteien darauf hin, ihres Erachtens sei die örtliche Zuständigkeit nicht mehr gegeben. Ab diesem Zeitpunkt durften weder der Rekurrent noch der Verein von einer stillschweigenden Annahme der Prorogation ausgehen. Der Rekurrent hielt in seiner Stellungnahme an seiner Auffassung, der Sitz des Vereins sei weiterhin im Bezirk und demgemäss das Bezirksgericht für die Beurteilung der Streitsache zuständig, fest. Der Vertreter des Vereins äusserte sich nicht zur Zuständigkeitsfrage, sondern erstattete die Klageantwort. In der Folge wies die Vorinstanz nochmals auf die ihres Erachtens fehlende Zuständigkeit hin. Trotzdem wurde zur Hauptverhandlung vorgeladen. Zur Vermeidung unnötiger Umtriebe wäre es jedoch sowohl möglich als auch sachgerecht gewesen, nach Erhalt der Stellungnahme des Vereins, d.h. nach Kenntnisnahme, dass sich letzterer auf die Klage einliess, den Nichteintretensentscheid zu fällen; weitere Vorkehren erübrigten sich offensichtlich. Bei diesen Gegebenheiten erscheint es angebracht, die von der Vorinstanz auf Fr. 1'500.00 festgesetzte Verfahrensgebühr auf Fr. 1'000.00 zu reduzieren. Dies rechtfertigt sich nicht zuletzt auch, weil über die Klage angesichts des maximalen Streitwerts von Fr. 5'000.00 nicht in Fünferbesetzung zu befinden gewesen wäre[12].
Obergericht, 14. Januar 2008, ZR.2007.124
[1] Dasser, in: Gerichtsstandsgesetz (Hrsg.: Müller/Wirth), Zürich 2001, Art. 3 N 35
[2] Dasser, Art. 3 GestG N 40
[3] Dasser, Art. 3 GestG N 43
[4] Riemer, Berner Kommentar, Systematischer Teil N 379g
[5] Art. 9 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 GestG
[6] Art. 10 Abs. 1 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 GestG
[7] Reetz, in: Bundesgesetz über den Gerichtsstand in Zivilsachen (Hrsg.: Spühler/Tenchio/Infanger), Basel 2001, Art. 9 N 20 f.
[8] Wirth, in: Gerichtsstandsgesetz (Hrsg.: Müller/Wirth), Zürich 2001, Art. 9 N 114
[9] Wirth, Art. 9 GestG N 122
[10] ZR 82, 1983, Nr. 58
[11] Wirth, Art. 9 GestG N 127
[12] Vgl. §§ 45 ff. ZPO