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RBOG 2009 Nr. 27

Parteientschädigung bei fürsorgerischer Freiheitsentziehung; Präzisierung von RBOG 1994 Nr. 19


Art. 397 f (Fassung 1907) ZGB, § 75 Abs. 1 ZPO, § 255 ZPO


1. Am 31. Juli 2008 ordnete die Vormundschaftsbehörde auf Antrag der Psychiatrischen Klinik die fürsorgerische Freiheitsentziehung von X an. X ersuchte am 14. August 2008 um gerichtliche Beurteilung. Am 22. August 2008 wurde er vom Gerichtspräsidenten angehört. Am 27. August 2008 hob die Vormundschaftsbehörde die fürsorgerische Freiheitsentziehung per sofort auf. Mit Verfügung vom 2. Oktober 2008 schrieb das Gerichtspräsidium das Verfahren betreffend Anfechtung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung zufolge Gegenstandslosigkeit als erledigt ab. Gerichtskosten wurden keine er­hoben; hingegen habe die Vormundschaftsbehörde X mit Fr. 1'802.70 zu entschädigen. Die Vormundschaftsbehörde reichte Rekurs ein mit dem Antrag, die Parteikosten seien wettzuschlagen. Zur Begründung machte sie im Wesentlichen geltend, sie habe nur vordergründig die Gegenstandslosigkeit des Verfahrens verursacht. Eigentlicher Grund der Abschreibung sei zum einen, dass sich der Zustand von X gebessert und die Entlassung erlaubt habe; zum anderen habe dessen mangelnder Kooperationswille weitere Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten vereitelt oder diesen zumindest enge Grenzen gesetzt.

2. Strittig ist, ob die Vormundschaftsbehörde X für das Verfahren vor dem Gerichtspräsidium zu entschädigen hat. Die Vorinstanz bejahte dies unter Hinweis auf § 255 ZPO. Die Voraussetzungen für die fürsorgerische Freiheitsentziehung seien im Zeitpunkt von deren Anordnung aller Wahrscheinlichkeit nach erfüllt gewesen. Für die Kostentragung sei jedoch einzig massgebend, ob diese Bedingungen auch im Zeitpunkt der Entscheidfällung noch erfüllt gewesen seien. Die Vormundschaftsbehörde habe die Massnahme nach der Anhörung vom 22. August 2008 aus verständlichen Gründen aufgehoben und dadurch das von X gestellte Rechtsbegehren anerkannt, d.h. die Gegenstandslosigkeit des Gerichtsverfahrens verursacht. Als Folge davon habe sie X angemessen zu entschädigen.

3. Die Parteien können jederzeit durch Rückzug oder Anerkennung der Klage oder des Gesuchs den Abstand vom Prozess erklären[1]. Die Abstandserklärung hat zur Folge, dass der Prozess am Protokoll abgeschrieben wird, und dass in der Regel der Zurücktretende die gerichtlichen Kosten zu tragen und der Gegenpartei die aussergerichtlichen Kosten zu ersetzen hat[2].

4. a) Die Rekurrentin weist zu Recht darauf hin, ein gerichtliches Verfahren betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehung unterscheide sich von einem "gewöhnlichen" Zivilprozess grundlegend. Die Vormundschaftsbehörde kann nicht frei über den Streitgegenstand disponieren. Sie handelt vielmehr aufgrund des gesetzlichen Auftrags, einerseits für jemanden, der eines besonderen Schutzes bedarf, eine fürsorgerische Freiheitsentziehung anzuordnen, diese Person andererseits aber auch sofort zu entlassen, wenn ihr Zustand es erlaubt oder die Massnahme aus Gründen fehlender Einsicht ihren Zweck nicht erfüllen kann. Der Dispositionsmaxime[3], die es den Parteien überlässt zu bestimmen, ob, wann, in welchem Umfang und wie lange sie als Kläger materielle Rechte gerichtlich geltend machen beziehungsweise ob sie als Beklagte die eingeklagten Ansprüche durchfechten oder anerkennen wollen[4], kommt im gerichtlichen Verfahren betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehung folglich nicht ihre sonstige Bedeutung zu. Im Wesentlichen handelt es sich hier um ein Verwaltungsverfahren[5]. Dass eine bestrittene Freiheitsentziehung im Kanton Thurgau – trotzdem – erstinstanzlich vom Gerichtspräsidium und sodann vom Obergericht zu beurteilen ist[6], ist eine Folge davon, dass im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmungen das thurgauische Verwaltungsrechtspflegegesetz noch nicht existierte. Der Besonderheit, dass Zivilinstanzen ein an sich verwaltungsrechtliches Verfahren durchzuführen haben, trug das Obergericht im Zusammenhang mit der Kostentragung in RBOG 1994 Nr. 19 Rechnung: Unterliege die Gemeinde im gerichtlichen Verfahren, seien ihr entgegen § 75 Abs. 1 ZPO keine Verfahrenskosten zu überbinden; die Gemeinde sei aber, wenn dem Begehren um Entlassung aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung letztlich stattgegeben werde, verpflichtet, die betroffene Person sowohl für das Verfahren vor dem Gerichtspräsidium als auch vor der Rechtsmittelbehörde angemessen zu entschädigen.

Dieser Entscheid bedarf einer Präzisierung. Den Besonderheiten der fürsorgerischen Freiheitsentziehung wird nicht genügend Rechnung getragen, wenn die Gemeinde im Fall ihres "Unterliegens" stets für die Kosten der Gegenpartei aufkommen muss. Eine Parteientschädigung stellt eine Sonderform des Schadenersatzes dar; die unterliegende Partei soll dem Gegner die verursachten notwendigen Kosten und Umtriebe ersetzen[7]. Im Zusammenhang mit der fürsorgerischen Freiheitsentziehung wird diese Schadenersatzpflicht in Art. 429a ZGB ausdrücklich festgehalten: Wer durch eine solche Massnahme widerrechtlich verletzt wird, hat Anspruch auf Schadenersatz seitens des Kantons, der auf Personen Rückgriff nehmen kann, welche die Verletzung absichtlich oder grobfahrlässig verursacht haben. Das Bundesgericht legte der Psychiatrischen Gerichtskommission beziehungsweise dem Kanton Zürich in einem im Jahr 1991 gefällten Entscheid[8] nahe, die obsiegende Partei nicht auf den Weg des Haftungsprozesses gegen den Kanton zu verweisen. In der Folge wurde § 203f in die zürcherische Zivilprozessordnung aufgenommen: Wird ein Gesuch um Entlassung gutgeheissen, kann das Gericht der gesuchstellenden Partei eine Prozessentschädigung aus der Gerichtskasse zusprechen[9]. Dabei hat es im Einzelfall zu prüfen, ob und in welchem Umfang die obsiegende Partei zu entschädigen ist. Von einer Entschädigung ist abzusehen, wenn ihr kein Schaden erwachsen ist; dabei dürfen ihre wirtschaftlichen Verhältnisse keine Rolle spielen[10]. Ist eine Entschädigung geschuldet, hat diese indessen, abweichend von der allgemeinen Regel[11], nicht die Gegenpartei, sondern die Gerichtskasse zu bezahlen. Diese Kostenüberbindung ist angesichts des geringen Handlungsspielraums, den die Vormundschaftsbehörde insbesondere dann, wenn die fürsorgerisch eingewiesene Person nicht kooperativ ist, hat, sinnvoll. Ist eine eingewiesene Person aufgrund der bundesrechtlichen Vorschriften zu entlassen, und sind der Vormundschaftsbehörde bei Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung keine massgebenden Verfahrens- oder Ermessensfehler vorzuwerfen, hat nicht die Behörde beziehungsweise die Gemeinde für die Parteientschädigung aufzukommen; letztere ist vielmehr auf die Gerichtskasse zu nehmen.

b) In der hier zu beurteilenden Streitsache erscheint es hingegen angesichts der Umstände, die zur Entlassung von X führten, angebracht, jede Partei ihre eigenen Kosten selbst tragen zu lassen. Die Psychiatrische Klinik beantragte am 25. Juli 2008 die fürsorgerische Freiheitsentziehung zufolge seiner rezidivierenden Alkoholproblematik, Verwahrlosungstendenzen, alkoholbedingten Verletzungen sowie insbesondere wegen seines neuropsychologisch und klinisch diagnostizierten anamnestischen Syndroms vom Korsakow-Typ. Dieses mache es dem Patienten unmöglich, komplexere Handlungsabläufe konsequent zu verfolgen; sein ausgeprägtes verbales und figurales Gedächtnisdefizit behindere ihn in vielerlei Belangen im Alltag in einem solchen Ausmass, dass ein alleinverantwortliches Leben ausserhalb eines beschützten Rahmens nicht möglich sein werde. Zielsetzung der Freiheitsentziehung sei indessen die Möglichkeit, X ausserhalb der Klinik langfristig in einem geschützten Rahmen zu platzieren. X verwahrte sich am 14. August 2008 gegen die fürsorgerische Freiheitsentziehung; er habe sich gesundheitlich erheblich stabilisiert und stelle weder für sich noch für Dritte eine erhebliche Gefahr dar. An der Anhörung vom 22. August 2008 wurde er gebeten, sich zu überlegen, ob er sich mit betreutem Wohnen auf freiwilliger Basis einverstanden erklären könnte. Verweigere er seine Zustimmung hiezu, müsse ein Gutachten in Auftrag gegeben werden, das zur Feststellung des Arztes der Psychiatrischen Klinik, X leide an einer Geistesschwäche, Stellung nehme. X teilte am 27. August 2008 mit, er sei nicht bereit, freiwillig aus der Psychiatrischen Klinik in eine betreute Wohnform unter Beibehaltung der Beistandschaft überzutreten. Er ersuche deshalb um Einholung des in Aussicht gestellten psychiatrischen Gutachtens. Aufgrund dieser Antwort hob die Vormundschaftsbehörde die fürsorgerische Freiheitsentziehung gleichentags auf. Sie sei zwar nach wie vor der Ansicht, X sei mental massiv beeinträchtigt, überschätze sich sowie seine Fähigkeiten erheblich und sei nicht mehr in der Lage, selbstständig zu wohnen und seine finanziellen sowie administrativen Angelegenheiten einigermassen geregelt abzuwickeln; den Rahmen einer betreuten Wohnsituation würde er dringend benötigen. Nachdem er sich jedoch absolut uneinsichtig sowie unkooperativ verhalte und alle Hilfsangebote von sich weise, seien den Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten enge Grenzen gesetzt. Aktuell seien die Voraussetzungen für eine fürsorgerische Freiheitsentziehung wohl nicht mehr gegeben, da keine unmittelbare Selbstgefährdung vorliege, obwohl davon ausgegangen werden müsse, schon kurze Zeit nach der erzwungenen Entlassung aus einem schützenden und fürsorglichen Rahmen werde diese wieder gegeben sein.

Die Vorinstanz anerkennt, dass die Voraussetzungen für die fürsorgerische Freiheitsentziehung im Zeitpunkt, als die Vormundschaftsbehörde ihren Einweisungsbeschluss fällte, d.h. am 31. Juli 2008, gegeben waren. Dem Protokoll der Anhörung lässt sich ferner entnehmen, dass zum zweiten Mal eine fürsorgerische Freiheitsentziehung angeordnet worden war, dass bereits am 31. August 2007 eine Befragung stattgefunden und dass X am 1. November 2007 die Psychiatrische Klinik wieder verlassen hatte. Am 16. April 2008 trat er dann zwar in Polizeibegleitung, aber letztendlich freiwillig, erneut in die Klinik ein. Dies war die vierte Hospitalisation innerhalb eines Jahres. Der Arzt der Psychiatrischen Klinik wies anlässlich der Anhörung vom 22. August 2008 darauf hin, ein Laie lasse sich vom anständigen und mitunter auch sehr bestimmten Auftreten von X vielleicht täuschen. Sein Verhalten ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass sein Kurzzeitgedächtnis irreparabel geschädigt sei, und dass sich diese Schädigung auf seine exekutive Entscheidungsfähigkeit auswirke. Er sei heute nicht mehr fähig, persönliche Pläne zu schmieden oder weitreichende Entscheidungen zu treffen, d.h. einen "Schlachtplan" für die Zukunft zu entwerfen. Diesbezüglich sei er zwingend auf die Hilfe Dritter angewiesen. Die Erfahrungen des vergangenen Jahres hätten gezeigt, dass sich die Situation nicht verbessert, sondern verschlechtert habe. Am Anfang habe ihm durchaus noch ein gewisses Mass an Eigenverantwortung übertragen werden können. Nachdem er in seinem Zimmer aber regelrechte Alkohollager eingerichtet habe und vom Ausgang immer wieder betrunken heimgekehrt sei, komme heute nur noch eine Unterbringung in einem geschlossenen Rahmen in Frage. X brauche jetzt zwingend strikte Vorgaben von aussen, ansonsten er verwahrlose. Ein selbstständiges Wohnen sei schlicht nicht mehr möglich; die einzige vernünftige Lösung wäre ein betreutes Wohnen. Wenn die Krankenkasse ihre Zahlungen in einem Monat einstellen werde, müsste X wohl oder übel entlassen werden. Die jetzige Behandlung könnte jedoch fortgesetzt werden, wenn die Gemeinde die Kosten übernehmen würde, was jedoch schwierig sei, da es Lösungen wie das betreute Wohnen gebe. Das Problem sei, dass X diesbezüglich, weil er einen Grossteil seiner exekutiven Fähigkeiten verloren habe, nicht einwilligungsfähig sei. In der Folge einigten sich die Parteien darauf, dass der Versuch unternommen werde, X von den Vorteilen des betreuten Wohnens zu überzeugen, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Einholung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand wiederum gewisse Zeit in Anspruch nehmen würde.

Bekanntlich wollte sich X auf den Versuch des betreuten Wohnens nicht einlassen. Nachdem er sich inzwischen wieder soweit aufgefangen hatte, dass keine Selbstgefährdung mehr zu befürchten war, hatte die Vormundschaftsbehörde gar keine andere Möglichkeit, als auf ihren Beschluss über die fürsorgerische Freiheitsentziehung zurückzukommen und X zu berechtigen, die Psychiatrische Klinik umgehend zu verlassen. Weder kann ihr zum Vorwurf gemacht werden, dass sie das Ergebnis der Verhandlung vom 22. August 2008, d.h. den Entscheid von X über das betreute Wohnen, abwartete, noch dass sie am 27. August 2008, während des hängigen Gerichtsverfahrens, ihren Einweisungsbeschluss selber aufhob, d.h. das Gerichtspräsidium nicht materiell über die fürsorgerische Freiheitsentziehung befinden liess. Tatsache ist, dass einerseits angesichts der mangelnden Kooperationsbereitschaft von X und andererseits zufolge der nun nicht mehr bestehenden Selbstgefährdung die Voraussetzungen für die Weiterbehaltung in der Klinik nicht mehr gegeben waren. Die Einholung eines externen Gutachtens hätte hieran lediglich in dem Sinn etwas geändert, als X länger als notwendig in der Klinik hätte verbleiben müssen und zudem im Ergebnis unnötige Kosten entstanden wären.

Das Vorgehen der Vormundschaftsbehörde war somit in jeder Hinsicht sinnvoll und sachgerecht; dies anerkennt denn auch die Vorinstanz. Den Gegebenheiten nicht angemessen ist hingegen die Schlussfolgerung, ihre die Gegenstandslosigkeit des Verfahrens verursachende Anerkennung des Rechtsbegehrens von X müsse die Übernahme von dessen Kosten zur Folge haben. Diese Konsequenz erscheint als nicht sachgerecht. Die Rekurrentin würde dadurch für ein Vorgehen gleichermassen bestraft, zu dem sie gesetzlich verpflichtet war, und bei dem sie die Interessen und Rechte von X in jeder Beziehung mitberücksichtigte. Um diese Konsequenz zu vermeiden, haben die Parteien im Verfahren vor Gerichtspräsidium ihre Kosten selbst zu tragen.

5. Das Obsiegen der Vormundschaftsbehörde hätte an sich zur Folge, dass X die Kosten des Rekursverfahrens bezahlen müsste[12]. Nun ist er aber offensichtlich nicht in der Lage, für Gerichtskosten aufzukommen[13]. Die Vormundschaftsbehörde liess sich vor Obergericht anwaltlich vertreten. Für das Rekursverfahren verlangt sie eine Entschädigung. Öffentlichen Gemeinwesen und deren Behörden wird jedoch auch bei anwaltlicher Vertretung in der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen[14]. Umstände, welche es hier notwendig machen würden, von dieser Praxis abzuweichen, werden nicht geltend gemacht und sind nicht ersichtlich.

Obergericht, 12. Januar 2009, ZR.2008.89


[1] § 254 Satz 1 ZPO

[2] § 255 ZPO

[3] § 97 ZPO

[4] Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 97 N 1

[5] Vgl. Hauser/Schweri, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, Zürich 2002, § 22a N 14

[6] § 172 Ziff. 16, § 48 Abs. 1 Ziff. 4 ZPO

[7] § 75 Abs. 1 ZPO; Merz, § 75 ZPO N 25

[8] 5P.156/1991

[9] Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A., § 203f N 1

[10] Frank/Sträuli/Messmer, § 203f ZPO N 2

[11] § 68 Abs. 1 ZPO ZH; § 75 Abs. 1 ZPO TG

[12] § 75 Abs. 1 ZPO

[13] Vgl. § 80 Abs. 1 ZPO

[14] Leitsätze des Verwaltungsgerichts zum Thurgauer Recht 1984-1988, § 80 Abs. 1 VRG LS 9

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