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RBOG 2010 Nr. 24

Voraussetzungen für eine Suchtbehandlung ohne Einholung eines Gutachtens


Art. 56 Abs. 3 StGB, Art. 60 StGB


1. Der Berufungskläger beantragt, er sei vom Vorwurf des mehrfachen, teilweise qualifizierten Raubs freizusprechen und stattdessen wegen mehrfachen Raubs zu verurteilen. Zudem sei eine stationäre Massnahme zur Suchtbehandlung im Sinn von Art. 60 StGB anzuordnen.

2. Ist der Täter von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig, so kann das Gericht gestützt auf Art. 60 Abs. 1 StGB eine stationäre Behandlung anordnen, wenn der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit seiner Abhängigkeit im Zusammenhang steht, und zu erwarten ist, dadurch lasse sich die Gefahr weiterer, mit der Abhängigkeit in Zusammenhang stehender Taten begegnen. Die Behandlung erfolgt in einer spezialisierten Einrichtung oder wenn nötig in einer Psychiatrischen Klinik und ist den besonderen Bedürfnissen des Täters und seiner Entwicklung anzupassen[1]. Der Motivation des Betroffenen ist gemäss Art. 60 Abs. 2 StGB Rechnung zu tragen. Allerdings wäre es verfehlt, einem anfänglichen Fehlen der Motivation vorschnell nachzugeben, denn häufig ist diese Haltung des Betroffenen gerade krankheitsbedingt. Die Herstellung der Therapiebereitschaft gehört denn auch oft zum ersten Schritt einer Behandlung[2].

3. a) In Bezug auf X legte die Vorinstanz zur Begründung der Verweigerung einer stationären Suchtbehandlung gemäss Art. 60 StGB dar, aufgrund des Abbruchs der Behandlungen in der Psychiatrischen Klinik und im Rehabilitationszentrum A und der aktenmässig ausgewiesenen Rückfälle sowie auch des Berichts der Therapeutischen Gemeinschaft B seien die Voraussetzungen für die Anordnung einer Massnahme zur Suchtbehandlung nicht gegeben. X habe das in ihn gesetzte Vertrauen geradezu systematisch missbraucht, was nicht zuletzt durch die unzähligen Rückfälle belegt sei. Auch die mehrmonatigen Rückversetzungen aus den Therapiezentren in ein Gefängnis hätten offensichtlich nicht die beabsichtigte erzieherische Wirkung gezeigt. Um die Fortführung der Massnahme anordnen zu können, müssten nach einer so langen Dauer einer optimalen sozialen und therapeutischen Betreuung deutlichere Fortschritte der Behandlung ersichtlich sein. Aufgrund der Beurteilungen von drei Fachpersonen und unter Berücksichtigung der von X gesetzten Tatsachen könne von der Einholung eines (weiteren) Berichts eines Sachverständigen abgesehen werden.

b) Entgegen der Ansicht der Vorinstanz kann gestützt auf die Arzt- und Therapieberichte, welche nicht den Anforderungen an eine Begutachtung im Sinn von Art. 60 i.V.m. Art. 56 Abs. 3 StGB entsprechen, die Anordnung einer stationären Suchtbehandlung nicht verweigert werden: Beim Schreiben der Psychiatrischen Dienste und beim "Abbruchbericht" des Rehabilitationszentrums A handelt es sich lediglich um Berichte zum Behandlungsverlauf, welche eine gutachterliche Beurteilung der im Zusammenhang mit Art. 60 StGB massgeblichen Fragen nicht ersetzen können. Im zweiten Bericht wird vor allem auf die Rückfälle Bezug genommen; immerhin wird aber auch dargelegt, der Berufungskläger habe "ansatzweise Einblick in seine Abhängigkeitserkrankung und dahinterliegende Mechanismen erhalten", und es wird festgestellt, der Berufungskläger sei "weiterhin behandlungsbedürftig, um langfristig drogenfrei und somit nicht mehr delinquent und auf Dauer arbeitsfähig sein zu können", doch fehle ihm hierzu die "Motivation …, um eine Therapie durchzuziehen". Zwar werden damit ansatzweise wesentliche Fragen angesprochen; einer umfassenden und einlässlichen gutachterlichen Beurteilung kann jedoch auch dieser Bericht nicht gleichgesetzt werden. So bleibt beispielsweise offen, ob es sich beim Rehabilitationszentrum A um die für den Berufungskläger geeignete Therapiestelle handelte; auch die Fragen der Erfolgsaussichten einer Massnahme und der Behandlungsbereitschaft des Berufungsklägers werden in diesem Bericht nicht einlässlich und umfassend abgehandelt. Abgesehen davon kann Berichten von Therapiestellen ohnehin nur eine eingeschränkte Beweiskraft zukommen. Die Vorinstanz durfte deshalb nicht ohne Durchführung einer Begutachtung im Sinn von Art. 60 i.V.m. Art. 56 Abs. 2 StGB die Erfolgsaussichten einer vom Berufungskläger ausdrücklich beantragten stationären Suchtbehandlung und (damit im Zusammenhang) die Behandlungsbereitschaft des Berufungsklägers verneinen. Dies gilt umso mehr, als sich gerade bei Drogenabhängigen die Therapiebereitschaft krankheitsbedingt häufig erst mit der Zeit im Rahmen einer Behandlung herstellen lässt[3]. In diesem Zusammenhang ist auf die Darlegungen des Vertreters der Therapiestelle B anlässlich der Hauptverhandlung zu verweisen, welcher darauf hinwies, Rückfälle seien bei "einer Therapie nichts Aussergewöhnliches" und würden es gegenteils sogar ermöglichen, "am Thema dranzubleiben und zu arbeiten".

c) Grundsätzlich wäre damit gestützt auf Art. 60 i.V.m. Art. 56 Abs. 3 StGB ein Gutachten einzuholen, welches sich über die Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten einer Behandlung des Täters, die Art und die Wahrscheinlichkeit weiterer möglicher Straftaten und die Möglichkeiten des Vollzugs der Massnahme ausspricht. Das Obergericht ist allerdings der Auffassung, dass auch ohne weitere Begutachtung eine stationäre Suchtbehandlung im Sinn von Art. 60 StGB anzuordnen ist. Die Drogenabhängigkeit und der Zusammenhang zwischen der Abhängigkeit und den Straftaten ist bereits aufgrund der gegebenen Aktenlage offensichtlich. Dass eine Behandlungsbedürftigkeit besteht, wurde schon im Bericht des Rehabilitationszentrums A dargelegt. X wurde im Rahmen des vorzeitigen Massnahmevollzugsin die Therapeutische Gemeinschaft B versetzt. Im ersten Verlaufsbericht der Therapeutischen Gemeinschaft B wurde zwar noch von Rückfällen berichtet, jedoch auch dargelegt, der Therapieverlauf sei günstig. Im zweiten Verlaufsbericht wurde zwar über einen neuerlichen Rückfall berichtet, jedoch sei dieser nicht mit früheren Rückfällen zu vergleichen, und es finde eine therapeutische Aufarbeitung statt. Insgesamt wurde der Therapieverlauf trotz des Rückfalls wiederum als positiv beurteilt. Im dritten Verlaufsbericht wurde dargelegt, es sei dem Berufungskläger gelungen, sich weiterzuentwickeln, und es sei seit dem letzten Bericht kein Rückfall auf harte Drogen bekannt. Der Therapieverlauf wurde nach wie vor als zufriedenstellend bezeichnet, wobei dargelegt wurde, negativ ins Gewicht falle lediglich das mangelnde Engagement von X betreffend seine berufliche Zukunft. Zusammenfassend wurde festgestellt, der Berufungskläger sei für einen weiteren grossen Therapieschritt bereit. Gemäss dem vierten Verlaufsbericht bewege sich X seit einem halben Jahr relativ sicher im Rahmen des Externats. Es sei zwar in diesen Monaten zu verschiedenen Konsumvorfällen mit Alkohol und einmalig mit harten Drogen gekommen, er finde sich aber im Vergleich mit anderen Klienten der Institution im doch sehr offenen Rahmen der Aussenwohngruppe zurecht. Er habe sich in den letzten Monaten weiter positiv entwickelt und inzwischen eine Lehre als Maurer in einer Stiftung begonnen und dort die Probezeit bestanden. Aus den Verlaufsberichten ergibt sich, dass sich X in der vorläufig angeordneten Massnahme in der Therapeutischen Gemeinschaft B trotz einiger Rückfälle gut entwickelte und nun auch eine Berufslehre beginnen konnte. Aufgrund der bisherigen Entwicklung und der offenbar zwischenzeitlich auch erstellten Therapiebereitschaft erweist sich die Anordnung einer stationären Suchtbehandlung auch ohne Einholung eines Gutachtens als offensichtlich gerechtfertigt.

Obergericht, 28. Oktober 2010, SBO.2010.8


[1] Art. 60 Abs. 3 StGB

[2] Heer, Basler Kommentar, Art. 60 StGB N 44

[3] Heer, Art. 60 StGB N 44

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