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RBOG 2011 Nr. 2

Die Berufung auf Formmangel des Personalverleihvertrags ist rechtsmissbräuchlich, wenn der formungültige Vertrag während längerer Zeit gegenseitig erfüllt wurde


Art. 2 Abs. 2 ZGB


1. X war während 15 Jahren als Sanitärinstallateur für die Berufungsklägerin tätig. In einer ersten Phase bis 31. August 2002 war er gestützt auf seinen Arbeitsvertrag normaler Arbeitnehmer. Danach arbeitete er indirekt für die Berufungsklägerin über die Berufungsbeklagte, bei der er seit 1. September 2002 als Sanitärinstallateur angestellt war. Die Berufungsbeklagte stellte die Arbeitsstunden von X, die durch Stempelkarten dokumentiert waren, der Berufungsklägerin in Rechnung; diese bezahlte während knapp sieben Jahren die Rechnungen anstandslos. Ein schriftlicher Vertrag bestand nicht. Nach einem Streit zwischen den Parteien arbeitete X nicht mehr für die Berufungsklägerin beziehungsweise lieh ihn die Berufungsbeklagte nicht mehr aus. Die letzten beiden Rechnungen der Berufungsbeklagten blieben unbezahlt.

2. a) Gegenstand der Klage ist die Höhe der Entschädigung für die von X als Arbeitnehmer der Berufungsbeklagten in den fraglichen zwei Monaten für die Berufungsklägerin geleistete Arbeit. Die (formelle) Arbeitgeberin von X, die Berufungsbeklagte, fordert für insgesamt 350 Arbeitsstunden à Fr. 48.00 zuzüglich 7,6% Mehrwertsteuer total Fr. 18'076.80. Es ist unbestritten und erstellt, dass die Berufungsbeklagte die Arbeitsleistungen von X während fast sieben Jahren mit der Berufungsklägerin auf dieser Basis (Stunden gemäss Stempelkarte à Fr. 48.00) abrechnete und die Berufungsklägerin diese Rechnungen bezahlte. Zwischen den Parteien ist somit ein entsprechender formloser Vertrag zustande gekommen. Die Berufungsklägerin bestreitet den vertraglichen Anspruch mit dem Argument, er basiere auf einem gemäss Art. 12 und 22 AVG[1] nichtigen Verleihvertrag.

b) Wie die Vorinstanz zu Recht feststellte, muss die Frage der Rechtsnatur des Vertrags nicht geprüft werden, wenn die Berufung auf die Nichtigkeit des vorliegenden Vertrags rechtsmissbräuchlich ist.

3. Der offenbare Missbrauch eines Rechts findet gemäss Art. 2 Abs. 2 ZGB keinen Rechtsschutz. Diese Bestimmung verhindert die Durchsetzung blosser formaler Rechte, wenn diese in offensichtlichem Widerspruch stehen zu elementaren ethischen Anforderungen. Sie stellt eine Vorschrift zur Lösung von Einzelfällen dar. Sie setzt nicht allgemeine Bestimmungen des Zivilrechts ausser Kraft, sondern weist das Gericht bloss an, besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen[2]. Der Rechtsmissbrauch lässt sich als unbestimmter, wertungsbezogener Rechtsbegriff am besten durch die Bildung von Fallgruppen erfassen, wobei allerdings Überschneidungen in Kauf zu nehmen sind[3]. Widersprüchliches Verhalten ("venire contra factum proprium") ist eine Fallgruppe des Rechtsmissbrauchs. Widersprüchliches Verhalten liegt namentlich dann vor, wenn durch das frühere Verhalten bei einem Partner schutzwürdiges Vertrauen begründet worden ist, das ihm angesichts der neuen Situation nunmehr zum Schaden gereicht[4]. "Venire contra factum proprium" ist insbesondere bei der Unvereinbarkeit zweier Verhaltensweisen gegeben[5]. Eine Fallgruppe und einen wichtigen Fall widersprüchlichen Verhaltens stellt die rechtsmissbräuchliche Berufung auf einen Formmangel dar. Die Berufung auf die Missachtung eines im beidseitigen Interesse aufgestellten Schriftlichkeitsgebots ist rechtsmissbräuchlich, wenn man der am Mangel leidenden Vereinbarung während längerer Zeit vorbehaltlos nachgelebt hat[6]. Entsprechend erachtete das Bundesgericht die Berufung von geschäftserfahrenen Mietern auf Formungültigkeit einer Mietzinserhöhung als rechtsmissbräuchlich, wenn sie den Mietzins während Jahren vorbehaltlos bezahlt hatten[7]. Rechtsprechung und Lehre sind sich einig, dass Rechtsmissbrauch sicherlich dann vorliegt, wenn die Vertragserfüllung irrtumsfrei erfolgte. Irrtumsfreie Erfüllung bedeutet, dass den Parteien beziehungsweise demjenigen, der sich auf die Formungültigkeit beruft, die Formvorschrift und die Folge der Nichteinhaltung bekannt gewesen sein müsse[8]. Dies gilt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung auch, wenn der Vertrag im Wesentlichen oder doch zur Hauptsache erfüllt worden ist[9]. Das Mass der allenfalls bereits erfolgten Erfüllung ist somit ein wichtiger Umstand für die Beurteilung der Frage, ob tatsächlich eine rechtsmissbräuchliche Berufung auf den Rechtsmangel vorliegt. Die fortgeschrittene Erfüllung kann daher sogar die Berufung auf den Formmangel durch diejenige Partei, welche ihn nicht zu vertreten hat, als rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen, wenn sie des Schutzes durch die Form nicht mehr bedarf[10]. Bei der Feststellung, ob ein Rechtsmissbrauch gegeben sei, lehnt das Bundesgericht eine starre Regel ab und verlangt die Würdigung aller Umstände unter Berücksichtigung von Rechtsempfinden, Rechtsethik und Rechtssicherheit[11].

4. a) Die Berufungsklägerin stellt sich auf den Standpunkt, sie habe erst bei der Konsultation ihres Rechtsvertreters erfahren, dass der mündliche Vertrag mit der Berufungsbeklagten ein Personalverleihvertrag gewesen sei, dass er als solcher hätte schriftlich abgefasst werden müssen, und dass überdies der Verleiher eine Bewilligung gebraucht hätte. Sie macht damit geltend, sie habe den Vertrag in Unkenntnis des Formmangels (fehlende Schriftlichkeit, keine Bewilligung) erfüllt.

b) Auch bei irrtümlicher Erfüllung kann die Berufung auf Formungültigkeit (und damit auch auf Nichtigkeit) ausnahmsweise rechtsmissbräuchlich sein, wobei allerdings eine klare Umschreibung des oder der Ausnahmetatbestände kaum möglich ist. Die Lehre nennt als Beispiele arglistige Herbeiführung des Formmangels, zweckwidrige Berufung auf den Formmangel, fehlende beziehungsweise nicht ausreichende Information über die Gültigkeitsvoraussetzungen und Wissen-Können sowie Wissen-Müssen über diese Voraussetzungen, Inkaufnahme des Mangels oder sogar Wollen des Mangels zum eigenen Vorteil, Zweck des Formmangels (beispielsweise Schutz der Gegenpartei) und zweckwidrige Berufung auf den Formmangel[12].

c) Vorliegend wiegt einerseits die fast sieben Jahre lange klag- und problemlose gegenseitige Vertragserfüllung schwer, insbesondere die regelmässige, vorbehaltlose Zahlung der Rechnungen der Berufungsbeklagten durch die Berufungsklägerin für die von X erbrachten Arbeitsleistungen. Andererseits ist von grosser Bedeutung, dass X nicht erst aufgrund des Vertrags, den die Berufungsklägerin nach sieben Jahren nicht mehr gelten lassen will, für die Berufungsklägerin tätig war, sondern bereits seit 1994. X war insgesamt rund 15 Jahre für die Berufungsklägerin im Einsatz, zuerst rund acht Jahre aufgrund eines Arbeitsvertrags mit der Berufungsklägerin, dann gestützt auf den umstrittenen Vertrag zwischen den Parteien. Die Abänderung der vertraglichen Grundlagen (vom Arbeitsvertrag zum mutmasslichen Leihvertrag) und damit vom Zwei-Parteienverhältnis zum Dreiecksverhältnis erfolgte zwar offenbar auf Wunsch von X, aber im Einverständnis und auch zum Vorteil der Berufungsklägerin. Die Berufungsklägerin hatte mit Beginn der neuen vertraglichen Grundlage, welche sie nach sieben Jahren als nichtig erklärt haben will, das für sie Wesentliche ungeschmälert behalten, nämlich X's Arbeitskraft und seine Funktion als Arbeitnehmer ihr gegenüber als Arbeitgeberin. Mit anderen Worten blieb das Subordinationsverhältnis - wenn man mit der Berufungsklägerin von einem Leihvertrag ausgeht - in grossen Teilen bestehen, während die Berufungsklägerin die formale Arbeitgeberstellung abgab. Damit entfielen ihre Arbeitgeberrisiken (Lohnfortzahlungspflicht im Krankheitsfall, Beschäftigungsgebot, Kündigungsschutz usw.); sie erhielt aber weiterhin die ungeminderte Arbeitsleistung. Die im Zusammenhang mit dem Grundstückkauf entwickelte Praxis des Rechtsmissbrauchsverbots, die voraussetzt, dass die Parteien vom Formmangel Kenntnis hatten, kann nicht unbesehen auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Hier geht es nicht um ein einmaliges Geschäft, sondern um ein Dauerschuldverhältnis, das während Jahren erfüllt wurde. Das Kriterium der Irrtumsfreiheit ist deshalb nur eingeschränkt zu berücksichtigen.

d) Damit ist erstellt, dass die Berufungsklägerin eine allfällige Ungültigkeit des Vertrags mit der Berufungsbeklagten, aus welchem Grund auch immer, in Kauf nahm, weil ihr im Wesentlichen nur daran gelegen war, dass X weiterhin für sie arbeitete, auf welcher rechtlichen Grundlage auch immer. Ihre Berufung auf Formmangel beziehungsweise Nichtigkeit ist sodann auch zweckwidrig. Das AVG will die Arbeitnehmer schützen, nicht den Einsatzbetrieb, sowie öffentliche Interessen wahren[13]. Die Berufungsklägerin hingegen verfolgt nur pekuniäre eigene Interessen und will der Gegenpartei die Gegenleistung für etwas vorenthalten, das sie bereits erhielt und während Jahren anstandslos bezahlte. Der Berufungsklägerin als geschäftserfahrener Unternehmerin - 1972 gegründet, in der zweiten Generation tätig - ist schliesslich auch vorzuwerfen, dass sie sich, wenn sie schon Hand zu einer vorsichtig ausgedrückt nicht alltäglichen Vertragsänderung mit einem ihrer Mitarbeiter bot, nicht über die entsprechenden notwendigen Formalitäten informierte. Damit ist in mehrfacher Hinsicht Rechtsmissbrauch erstellt.

e) Zusammengefasst kann sich die Berufungsklägerin wegen ihres eigenen widersprüchlichen Verhaltens nicht auf die Formungültigkeit beziehungsweise Nichtigkeit des Vertrags mit der Berufungsbeklagten berufen. Folglich findet keine Rückabwicklung des bereits erfüllten Vertrages statt, und es gibt keinen Rückforderungsanspruch der Berufungsklägerin, aber einen Restforderungsanspruch der Berufungsbeklagten. Nach herrschender Lehre wird das formungültige Geschäft durch beidseitige freiwillige Erfüllung in ein gültiges umgewandelt[14]. Damit hat die Berufungsklägerin die Berufungsbeklagte gemäss den bisherigen, während sieben Jahren einvernehmlich befolgten mündlichen Abmachungen für die noch offenen Arbeitsleistungen von X zu entschädigen.

Obergericht, 2. Abteilung, 15. Februar 2011, ZBR.2010.61


[1] Bundesgesetz über die Arbeitsvermittlung und den Personalverleih, SR 823.11

[2] Honsell, Basler Kommentar, Art. 2 ZGB N 24, 28

[3] Honsell, Art. 2 ZGB N 37

[4] BGE 110 II 498; Riemer, Die Einleitungsartikel des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 2.A., § 5 N 46

[5] Honsell, Art. 2 ZGB N 44

[6] Honsell, Art. 2 ZGB N 45

[7] BGE 123 III 75

[8] Vgl. Koller, Schweizerisches Obligationenrecht, AT, 3.A., S. 183 ff., insbesondere S. 189 f.; Honsell, Art. 2 ZGB N 45 f.; Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, Schweizerisches Obligationenrecht, AT, Bd. I, 9.A., N 546b ff.

[9] Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, N 554; Baumann/Dürr/Lieber/Marti/Schnyder, Zürcher Kommentar, Art. 2 ZGB N 286

[10] Baumann/Dürr/Lieber/Marti/Schnyder, Art. 2 ZGB N 288

[11] BGE 112 II 111 f.

[12] Koller, S. 190; Baumann/Dürr/Lieber/Marti/Schnyder, Art. 2 ZGB N 280 f.; Gauch/ Schluep/Schmid/Emmenegger, N 555, je mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung

[13] Art. 1 AVG lautet: Dieses Gesetz bezweckt:

a. die Regelung der privaten Arbeitsvermittlung und des Personalverleihs;

b. die Einrichtung einer öffentlichen Arbeitsvermittlung, die zur Schaffung und

Erhaltung eines ausgeglichenen Arbeitsmarktes beiträgt;

c. den Schutz der Arbeitnehmer, welche die private oder die öffentliche Arbeits-

vermittlung oder den Personalverleih in Anspruch nehmen.

[14] Hausheer/Jaun, Die Einleitungsartikel des ZGB, Bern 2003, Art. 2 ZGB N 147 f.

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