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RBOG 2012 Nr. 22

Rechtfertigende Notwehr bei Körperverletzung


Art. 15 StGB, Art. 122 f StGB


1. Nachdem X an der Bar eine Stange Bier bestellt hatte, rempelte Y ihn an. X verliess mit seinem Bier in der Hand das Lokal. Kurze Zeit später trat Y ebenfalls vor die Tür, ergriff X mit einer Hand am Hals und würgte ihn. Um sich aus dem Würgegriff zu befreien, schlug X sein noch fast volles Bierglas gegen den Kopf von Y. Dabei zog sich Y Rissquetschwunden im Gesicht zu. Die Vorinstanz verurteilte X wegen versuchter schwerer Körperverletzung und vollendeter einfacher Körperverletzung, weil er sich nicht in einer Notwehrsituation befunden habe.

2. a) Gegenstand des Berufungsverfahrens bildet die Frage, ob der Berufungskläger für die Y zugefügten Verletzungen wegen versuchter schwerer Körperverletzung und qualifizierter einfacher Körperverletzung zu bestrafen sei. Die Rissquetschwunden im Gesicht von Y sind objektiv als einfache Körperverletzung zu werten. Umstritten ist, ob sich der Berufungskläger in einer Notwehrsituation befand und insofern berechtigt war, den Angriff von Y auf die ihm vorgeworfene Weise abzuwehren.

b) Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere gemäss Art. 15 StGB berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren. Nach der Rechtsprechung muss die Abwehr in einer Notwehrsituation nach der Gesamtheit der Umstände als verhältnismässig erscheinen. Eine Rolle spielen vor allem die Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und die Abwehr bedrohten Rechtsgüter, die Art des Abwehrmittels und dessen tatsächliche Verwendung. Die Angemessenheit der Abwehr ist aufgrund der Situation zu beurteilen, in welcher sich der rechtswidrig Angegriffene im Zeitpunkt seiner Tat befand. Es dürfen nicht nachträglich allzu subtile Überlegungen darüber angestellt werden, ob der Angegriffene sich nicht allenfalls auch mit anderen, weniger einschneidenden Massnahmen hätte begnügen können und sollen. Besondere Zurückhaltung ist bei der Verwendung von gefährlichen Werkzeugen zur Abwehr (Messer, Schusswaffen usw.) geboten, da deren Einsatz stets die Gefahr schwerer oder gar tödlicher Verletzungen mit sich bringt. Angemessen ist die Abwehr, wenn der Angriff nicht mit weniger gefährlichen und zumutbaren Mitteln hätte abgewendet werden können, der Täter womöglich gewarnt wurde, und der Abwehrende vor der Benutzung des gefährlichen Werkzeugs das Nötige zur Vermeidung einer übermässigen Schädigung vorkehrte. Auch ist eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter unerlässlich. Doch muss deren Ergebnis für den Angegriffenen, der erfahrungsgemäss rasch handeln muss, mühelos erkennbar sein[1]. Die Abwehr muss mit anderen Worten in zweierlei Hinsicht den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren: Einerseits muss die Abwehr dem Angriff angemessen sein; unter diesem Gesichtspunkt ist verhältnismässig, was es braucht, um den Angriff zurückzuschlagen. Andererseits muss geprüft werden, ob das Verhältnis zwischen dem Wert des angegriffenen und demjenigen des verletzten Rechtsguts angemessen sei[2].

Bei der Beurteilung von Subsidiarität und Proportionalität der Abwehr darf nicht abschliessend auf die von Angreifer und Verteidiger tatsächlich verursachten oder gewollten Rechtsgutverletzungen abgestellt werden. Massgebend können nur die Schädigungen sein, mit welchen der Notwehrtäter aufgrund der konkreten Umstände im Zusammenhang mit dem Angriff beziehungsweise als Folge seiner Abwehr zu rechnen hatte. Das muss indessen nach der Situation beurteilt werden, in welcher sich der Angegriffene im Zeitpunkt der Tat befand. Insbesondere ist dabei zu berücksichtigen, dass ihm alsdann in einer – in der Regel – bedrängten Lage nur wenig Zeit zum Nachdenken verbleibt. Nur wenn es für ihn offensichtlich ist, dass die Abwehr über das Notwendige hinausgeht oder in keinem angemessenen Verhältnis zum Angriff steht, darf sie als ungerechtfertigt betrachtet werden[3]. Das Bundesgericht verneinte die Angemessenheit der Abwehr beispielsweise bei der Abgabe gezielter Schüsse auf drei unbewaffnete Angreifer[4], bei einem Warnschuss in Richtung eines Hausfriedensbrechers[5] oder bei Messerstichen in den Bauch des mit Faustschlägen und mit einem Kabel Angreifenden[6].

c) Aufgrund der Akten und insbesondere der Aussagen des Berufungsklägers in der unmittelbar nach dem Vorfall durchgeführten polizeilichen Befragung sowie der Aussagen der in der gleichen Nacht befragten Auskunftspersonen sowie der auf dem Polizeiposten erhobenen medizinischen Befunde ist davon auszugehen, dass der Berufungskläger überraschend und grundlos von Y angegriffen und am Hals mit einer Hand gewürgt wurde. Ohne Frage durfte der Berufungskläger diesen Angriff unter diesen Umständen seinerseits mit Gewalt abwehren. Die Frage ist einzig, welche Mittel er im Einzelnen dabei einsetzen durfte.

d) Die Vorinstanz hielt fest, der Berufungskläger sei beim Angriff von Y beim Geländer, welches sich oben bei der Treppe befand, aufgestanden. Stehend hätte ihm eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, sich gegen den Angriff zu wehren. Schon ein Abdrehen, ein Schlag mit dem Knie, das Wegstossen des Arms des Angreifers mit der linken Hand oder eine Kombination dieser Möglichkeiten hätten den Angriff ohne weiteres auch abgewehrt, und zwar mit ungleich geringeren Folgen für den Angreifer als den tatsächlich eingetretenen.

Der Berufungskläger hält dem entgegen, Würgen sei grundsätzlich als gefährlicher Angriff zu werten. Bei heftigem Würgen könne bereits nach sieben Sekunden eine Bewusstlosigkeit eintreten. Ein einziger heftiger Schlag gegen den Hals könne einen plötzlichen Blutdruckabfall durch Vaguserregung infolge Reizung des Sinus caroticus hervorrufen. Damit habe die ernsthafte und naheliegende Gefahr eines Sturzes des Angegriffenen rücklings über das Geländer bestanden, und es sei verständlich, dass der Berufungskläger dadurch in Angst und Panik geraten sei. Der Berufungskläger habe in dieser völlig überraschenden und gefährlichen Situation rasch und ohne lange Überlegungen handeln müssen, um sich aus der Gefahr zu retten.

e) Allein aus dem Umstand, dass der Berufungskläger beim Erscheinen des Angreifers aufgestanden war, kann nicht geschlossen werden, dass es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, sich durch Abdrehen oder einen Schlag mit dem Knie aus dem Würgegriff des Angreifers zu befreien. Wie der Berufungskläger zu Recht geltend machte, bestand für ihn die konkrete Gefahr des Sturzes über das Geländer. Er stand nämlich auf dem obersten Treppenabsatz, wobei das Geländer nicht einmal bis zur Türklinke reichte. Der Angreifer würgte ihn mit einer Hand, und laut Aussagen des Berufungsklägers versuchte er auch, den Berufungskläger dabei rückwärts zu stossen. Hätte der Berufungskläger auch nur ein Bein gehoben, um sich zu verteidigen, hätte er das Gleichgewicht verlieren und ihm die Gefahr eines Sturzes drohen können. Zweifelsohne hätte der Berufungskläger mit der linken Faust gegen Y schlagen können. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz standen dem Berufungskläger jedoch nicht mehrere Sekunden Zeit zur Verfügung, um sich ein geeignetes Abwehrmittel einfallen zu lassen. Insbesondere musste er nicht zuwarten, bis er die Folgen der abgeschnittenen Blutzufuhr verspüren würde, sondern er durfte unmittelbar auf den Angriff reagieren. In der rechten Hand hielt der Berufungskläger das noch fast volle Bier, das er kurz zuvor an der Bar bestellt und mit nach draussen genommen hatte. Nicht bekannt ist, ob der Berufungskläger Links- oder Rechtshänder ist. Da er sich mit der rechten Hand wehrte, dürfte er wohl eher Rechtshänder sein. Dies ist allerdings nicht wesentlich. Entscheidend ist vielmehr, dass er einzig und allein zuschlug, um sich aus dem Würgegriff des Angreifers zu befreien. Ob sich der Berufungskläger bei dieser unmittelbaren Reaktion auf den Angriff noch Gedanken darüber machen musste und konnte, dass er ein Glas in der Hand hielt, welches beim Zuschlagen zerbrechen und gefährliche Verletzungen hervorrufen könnte, muss bezweifelt werden. Der Berufungskläger befand sich in einer überaus bedrängten Situation, weshalb an seine Fähigkeiten, die Situation abzuwägen, nicht allzu hohe Anforderungen gestellt werden dürfen. Ein Vorwurf hätte dem Berufungskläger dann gemacht werden können, wenn er seine Hände beim Angriff von Y frei gehabt und während der Kampfhandlung das Glas absichtlich in die Hand genommen hätte, um damit zuzuschlagen. Es kann ihm umgekehrt auch nicht vorgehalten werden, dass er das Glas nicht fallen liess, um mit der blossen Hand zuschlagen zu können. Hätte er dies getan, so wären entsprechende Gefahren von den entstandenen Glasscherben bei einem allfälligen Sturz eines der beiden Beteiligten entstanden. Dem Berufungskläger stand überdies auch nicht die Möglichkeit offen, das Bierglas vor dem Zuschlagen auf den Boden zu stellen, da er von Y gewürgt wurde.

Der Berufungskläger war sich mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht bewusst, dass er in der Hand, mit der er schlug, noch ein Glas hielt; das Zuschlagen dürfte nahezu reflexartig erfolgt sein. Diese Schlussfolgerung drängt sich jedenfalls aufgrund der unbestrittenen Aussagen des Berufungsklägers auf, ganz abgesehen davon, dass ihm ohnehin in seiner bedrängten Lage nur wenig Zeit zum Nachdenken verblieb.

f) Zufolge rechtfertigender Notwehr ist der Berufungskläger damit vom Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung und der vollendeten einfachen Körperverletzung zum Nachteil von Y freizusprechen. Ob das vom Berufungskläger verwendete Bierglas als gefährlicher Gegenstand im Sinn des Gesetzes gelten muss, kann unter diesen Umständen offen bleiben.

Obergericht, 1. Abteilung, 12. März 2012, SBR.2011.40


[1] BGE 136 IV 51 f.

[2] Trechsel/Jean-Richard, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel et al.), Zürich/St. Gallen 2008, Art. 15 N 10

[3] Donatsch/Tag, Strafrecht I, Verbrechenslehre, 8.A., S. 226 f.

[4] BGE 102 IV 69

[5] BGE 102 IV 6

[6] BGE 109 IV 7

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