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RBOG 2012 Nr. 27

Unabhängigkeit der Sachverständigen: Ärztin, die bei der Spital Thurgau AG angestellt ist


Art. 56 StPO, Art. 183 Abs. 3 StPO


1. Der Beschwerdeführer wird der Tatbeteiligung an einer Tötung verdächtigt, weshalb er in Untersuchungshaft versetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft beauftragte Dr. med. X, angestellte Ärztin bei der Spital Thurgau AG, mit der Begutachtung des Beschwerdeführers zur Frage der Hafterstehungs- und Einvernahmefähigkeit. Der Beschwerdeführer wendet sich dagegen, dass Dr. X als sachverständige Person bestellt wird.

2. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Gutachterin fehle die erforderliche Unabhängigkeit. Die Spital Thurgau AG sei eine öffentlich-rechtliche AG des – strafverfolgenden – Kantons Thurgau als Alleinaktionär. Sie betreibe in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen ein Kompetenzzentrum für forensische Psychiatrie, welches von Dr. X geleitet werde. Die allermeisten psychiatrischen Gutachten in thurgauischen Strafverfahren stammten von diesem Kompetenzzentrum, womit dieses seine Honorareinnahmen mehrheitlich oder gar überwiegend aus forensischen Begutachtungen für die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Thurgau generiere. Zudem solle eine besondere Vereinbarung mit den thurgauischen Strafverfolgern über Begutachtungsleistungen existieren. Unter solchen Umständen lasse sich der erforderliche Anschein der Unbefangenheit nicht mehr aufrechterhalten. Wer einen schönen, gar überwiegenden Teil seiner Arbeit und seines Honorarumsatzes den gleichen Auftraggebern verdanke, dem fehle schon strukturell der Anschein der Unabhängigkeit.

3. a) Der Sachverständige soll unabhängig, unbefangen und unparteiisch sein[1]. Niemand darf als Sachverständiger beigezogen werden, der als Richter abgelehnt werden könnte[2]. Deshalb gelten für sachverständige Personen die gleichen Ausstandsregeln wie für Justiz­angehörige. Der Gesetzgeber verweist in Art. 183 Abs. 3 StPO auf die allgemeinen strafprozessualen Ausstandsgründe gemäss Art. 56 StPO. Der Anspruch auf einen unabhängigen Gutachter ist formeller Natur[3]. Befangenheit eines Sachverständigen kann nicht leichthin angenommen werden[4], wobei allerdings auch hier Umstände genügen, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit objektiv zu begründen vermögen[5].

Nach der Praxis des Bundesgerichts ist eine Befangenheit der sachverständigen Person in allgemeiner Weise zu vermuten, wenn konkrete Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in deren Unparteilichkeit zu erwecken. Solche Umstände lassen sich einmal aus dem persönlichen Verhalten des Betroffenen oder aus gewissen funktionellen oder organisatorischen Gegebenheiten ableiten[6]. Dabei können wirtschaftliche Beziehungen der sachverständigen Person zu einer Partei zwar durchaus eine Ausstandspflicht begründen. Allein der Umstand, dass beide in einem öffentlichrechtlichen Arbeitsverhältnis zum gleichen Arbeitgeber stehen, genügt aber regelmässig nicht zur Annahme von Parteilichkeit. Hier kann es sich leicht ergeben, dass ein Gemeinwesen als Arbeitgeber eines Experten gleichzeitig in Justizverfahren institutionell eingebunden ist, sei es etwa als anklagende Behörde. Eine Parteilichkeit ist diesfalls nur ausnahmsweise anzunehmen, etwa wenn die sachverständige Person in einem unmittelbaren Pflicht- oder Abhängigkeitsverhältnis zum öffentlichrechtlichen Arbeitgeber steht, der überdies direkt in den Prozess involviert ist[7]. Das ist hier nicht der Fall.

Im Zusammenhang mit einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung erachtete das Bundesgericht in BGE 118 II 251 f. die Unabhängigkeit eines Sachverständigen nicht dadurch in Frage gestellt, dass Klinikärzte zumeist Beamte sind und als solche in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat stehen. Müssten solche Ärzte überhaupt als Gutachter ausgeschlossen werden, entstünden vor allem für kleinere Kantone beinahe unlösbare praktische Probleme. Das Obergericht hielt – ebenfalls im Zusammenhang mit dem fürsorgerischen Freiheitsentzug – fest, als unbefangene Sachverständige gälten fachkundige neutrale Ärzte öffentlicher Kliniken, wenngleich sie in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zum einweisenden Staat stünden. Es sei deshalb zulässig, dass Ärzte der Psychiatrischen Klinik Littenheid Gutachten über Patienten verfassten, welche in der Klinik Münsterlingen zurückbehalten würden (und umgekehrt). Zudem sei die Erstattung eines Gutachtens von einem privaten Psychiater innert nützlicher Frist nicht zu erwarten, womit die Anforderungen an die Raschheit des Verfahrens nicht erfüllt wären[8].

BGE 137 V 210 befasst sich ausführlich mit der Unabhängigkeit der medizinischen Abklärungsstelle MEDAS von der Invalidenversicherung. Das Bundesgericht erwog, unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Abhängigkeit führten nach ebenfalls gefestigter Rechtsprechung der regelmässige Beizug eines Gutachters oder einer Begutachtungsinstitution durch den Versicherungsträger, die Anzahl der beim selben Arzt in Auftrag gegebenen Gutachten und Berichte sowie das daraus resultierende Honorarvolumen für sich allein genommen nicht zum Ausstand. Hinsichtlich der MEDAS als Institution gelte sinngemäss ohnehin, dass sich ein Ausstandsbegehren stets nur gegen Personen und nicht gegen Behörden richten könne; nur die für eine Behörde tätigen Personen, nicht die Behörde als solche, könnten befangen sein. Im Rahmen einer administrativen Sachverhaltsabklärung liege selbst dann kein formeller Ausstandsgrund vor, wenn von einer wirtschaftlichen Abhängigkeit der MEDAS von der Invalidenversicherung auszugehen wäre, denn ein Ausstandsgrund sei nicht schon deswegen gegeben, weil jemand Aufgaben für die Verwaltung erfülle, sondern erst bei persönlicher Befangenheit[9]. Diese Grundsätze sind sinngemäss auch hier zu beachten.

b) Persönliche Befangenheit wirft der Beschwerdeführer Dr. X nicht vor, sondern allein solche aufgrund wirtschaftlicher und struktureller Abhängigkeit des Kompetenzzentrums für forensische Psychiatrie der PSK Münsterlingen von den Thurgauer Strafverfolgungsbehörden. Allerdings genügt der Umstand, dass dieses Zentrum regelmässig im Auftrag von Thurgauer Staatsanwältinnen und Staatsanwälten psychiatrische Begutachtungen durchführt, allein nicht für die Annahme fehlender Unabhängigkeit von Dr. X als Sachverständiger.

Auch wenn der Kanton Thurgau Alleinaktionär der Spital Thurgau AG ist, steht Dr. X einzig zur Spital Thurgau AG und nicht zum Kanton in einem unmittelbaren Pflicht- oder Abhängigkeitsverhältnis. Die Spital Thurgau AG ihrerseits ist überhaupt nicht in dieses Strafverfahren involviert. Das Bindeglied wäre, wenn überhaupt, allenfalls die Regierung des Kantons Thurgau; dieser fehlt aber nur schon die Möglichkeit, auf einzelne Strafverfahren Einfluss zu nehmen[10]. Schliesslich ist die Staatsanwaltschaft erst im Haupt- und Rechtsmittel-, nicht aber schon im Vorverfahren Partei[11]. In diesem Stadium gilt der Untersuchungsgrundsatz, wobei die Staatsanwaltschaft uneingeschränkt objektiv zu sein hat[12].

Zusammengefasst besteht somit nicht einmal der Anschein der Befangenheit von Dr. X. Beredtes Zeugnis dafür legt ihr Gutachten ab, das zwar im Ergebnis nicht zu Gunsten des Beschwerdeführers ausfiel, in der Begründung aber stimmig differenziert und die Schlussfolgerungen nachvollziehbar darlegt. Daher ist die Beschwerde auch in diesem Punkt abzuweisen.

Obergericht, 2. Abteilung, 25. September 2012, SW.2012.88


[1] BGE 125 II 544

[2] BGE 127 I 81 f.

[3] BGE 125 II 546

[4] Vgl. BGE 125 II 541 f., 118 II 251, 97 I 4, 94 I 421

[5] BGE 125 II 545

[6] Heer, Basler Kommentar, Art. 183 StPO N 22

[7] Heer, Art. 183 StPO N 27

[8] Nicht publizierte Entscheide des Obergerichts vom 4. Mai 2009, ZR.2009.27, S. 5 f., und vom 6. März 2009, ZR.2009.16, S. 5

[9] BGE 137 V 226 f.

[10] Art. 4 Abs. 1 StPO

[11] Art. 104 Abs. 1 lit. c StPO

[12] Art. 6 StPO

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