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RBOG 2013 Nr. 21

Anforderungen an den Inhalt des Strafbefehls, wenn dieser als Anklageschrift gilt


Art. 9 Abs. 1 StPO, Art. 325 StPO


1. a) Das aus Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK abgeleitete und nunmehr in Art. 9 Abs. 1 StPO festgeschriebene Anklageprinzip gewährleistet das rechtliche Gehör und die Verteidigungsrechte des Angeklagten (Informationsfunktion). Die Anklageschrift bestimmt den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion)[1].

b) Eine Durchbrechung des Akkusationsprinzips bildet das Strafbefehlsverfahren, bei dem die Untersuchungsbehörde selbst den Strafbefehl ausfällt[2]. Erhebt der Beschuldigte indessen Einsprache gegen den Strafbefehl und hält die Staatsanwaltschaft daran fest, so übernimmt der Strafbefehl im anschliessenden Hauptverfahren vor Gericht die Funktion der Anklageschrift[3]. Dies hat zur Folge, dass der Strafbefehl den Anforderungen des Anklagegrundsatzes schon von Anfang an zu genügen hat[4].

c) aa) Gestützt auf Art. 325 Abs. 1 StPO bezeichnet die Anklageschrift zunächst den Ort und das Datum, die anklageerhebende Staatsanwaltschaft, das Gericht, an welches sich die Anklage richtet, die beschuldigte Person und ihre Verteidigung und die geschädigte Person[5]. Weiter hat sie möglichst kurz, aber genau die der beschuldigten Person vorgeworfenen Taten mit Beschreibung von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung zu beschreiben[6], und es sind die nach Auffassung der Staatsanwaltschaft erfüllten Straftatbestände unter Angabe der anwendbaren Gesetzesbestimmungen aufzuführen[7].

bb) Damit die Anklageschrift (oder der Strafbefehl) der Informations- und Umgrenzungsfunktion genügt, muss sie hinreichend präzise formuliert sein. Die Anklage hat die dem Angeklagten zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe genügend konkretisiert sind[8]. Die Vorwürfe müssen sich aus der Anklageschrift selber ergeben; ein Hinweis auf Akten ist nicht zulässig[9]. Es muss für das Gericht und für alle Verfahrensbeteiligten klar ersichtlich sein, durch welches nach Ort und Zeit näher bestimmte konkrete Verhalten die beschuldigte Person welchen Straftatbestand in welcher Form verwirklicht haben soll. Der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt muss nicht nur die Subsumtion aller objektiven, sondern auch der subjektiven Tatbestandsmerkmale ermöglichen[10]. Bei Fahrlässigkeitsdelikten sind insbesondere die objektiven und subjektiven Umstände auszuführen, welche das Verhalten als unvorsichtige Pflichtwidrigkeit erscheinen lassen[11]. Es ist dazu insbesondere möglichst genau darzulegen, inwiefern es der Angeklagte an der Beachtung der gebotenen Sorgfalt oder Vorsicht habe fehlen lassen[12]. Der Detaillierungsgrad der Anklage ist nicht gesetzlich vorgegeben, sondern hängt namentlich von der Komplexität des konkreten Falls ab[13]. Dabei gilt, dass je schwerer ein Tatvorwurf wiegt, desto höhere Anforderungen an die Umschreibungsdichte der Anklage zu stellen sind[14]. Überspitzt formalistische Anforderungen dürfen an die Anklageschrift aber nicht gestellt werden[15]. So führen kleinere Ungenauigkeiten in den Orts- und Zeitangaben nicht zur Unbeachtlichkeit der Anklage[16].

d) Die Anklageschrift darf im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens nicht geändert oder auf weitere Personen oder Sachverhalte ausgedehnt werden. Gemäss dem aus dem Anklagegrundsatz abgeleiteten Immutabilitätsprinzip fixiert diese das Prozess- und Urteilsthema für alle urteilenden Instanzen. Der Beschuldigte soll nicht nur genau wissen, welches Verhalten ihm vorgeworfen wird; er soll sich zudem in allen Instanzen mit den gleichen Vorwürfen auseinandersetzen müssen und sich nicht plötzlich mit anderen beziehungsweise neuen Anklagepunkten konfrontiert sehen. Dieser Grundsatz ist aber vorab aus prozessökonomischen Gründen gemildert. Es ist zulässig, ja notwendig, mangelhafte, fehlerhafte oder unvollständige Anklagen zu berichtigen oder gar um neue Delikte zu erweitern[17]. Entsprechend kann das (erstinstanzliche) Gericht die Anklage gestützt auf Art. 329 Abs. 2 StPO zur Ergänzung oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurückweisen. Gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach seiner Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. Zudem kann das Gericht nach Art. 333 Abs. 2 StPO der Staatsanwaltschaft gestatten, die Anklage zu erweitern, falls während des Hauptverfahrens neue Straftaten der beschuldigten Person bekannt werden.

2. a) Im Strafbefehl wurde dem Berufungskläger "Ungenügendes Sichern der Ladung - Verlieren einer ungesicherten Abstellstütze des Wechselcontainers am Anhänger" vorgeworfen. Beim Anhänger handle es sich um einen Sachentransportanhänger der Marke "A"; Halterin sei die X AG. Es seien zehn Fahrzeuge mit der verlorengegangenen und auf der Überholspur liegenden Abstellstütze kollidiert, wobei grosser Sachschaden, zwischen Fr. 10'000.00 und Fr. 15'000.00, entstanden sei. Tatort sei B; Tatzeit 27. November 2011, 19.35 Uhr. Das Fahrzeug sei ein Lastwagen der Marke "C". Ferner führt der Strafbefehl folgende angewendeten Strafbestimmungen an: Art. 93 Ziff. 2 SVG, Art. 219 Abs. 1 lit. a VTS i.V.m. Art. 29 SVG und Art. 57 Abs. 1 VRV.

b) Wie die Vorinstanz zu Recht erläuterte, wird dem Berufungskläger im Strafbefehl vorgeworfen, er habe eine Abstellstütze am Wechselcontainer am Anhänger verloren, weil er die Ladung ungenügend gesichert habe. Auch geht aus dem Strafbefehl hervor, welches Fahrzeug und welchen Anhänger der Berufungskläger gelenkt haben soll. Mit der Angabe des Tatorts und der Tatzeit wusste der Berufungskläger auch, in Bezug auf welche Fahrt ihm die angeblich ungenügende Sicherung vorgeworfen wurde. Dass der Strafbefehl dabei nicht den Zeitpunkt und den Ort der Sicherung, sondern denjenigen des Verlusts der Ladung erwähnte, würde – für sich allein genommen – nicht zur Unbeachtlichkeit der Anklage führen. Im Strafbefehl fehlen allerdings auch jegliche Ausführungen zum subjektiven Tatbestand. Der Berufungskläger konnte daraus nicht entnehmen, welche konkreten Handlungen ihm bei der Sicherung der Ladung vorgeworfen wurden.

c) Dies ergibt sich auch nicht ohne weiteres aus den im Strafbefehl zitierten Bestimmungen. Gemäss Art. 93 Ziff. 2 SVG wird mit Busse bestraft, wer ein Fahrzeug führt, von dem er weiss oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen kann, dass es den Vorschriften nicht entspricht, oder wer als Halter oder wie ein Halter für die Betriebssicherheit eines Fahrzeugs verantwortlich ist und wissentlich oder aus Sorglosigkeit den Gebrauch des nicht den Vorschriften entsprechenden Fahrzeugs duldet[18]. Nach Art. 219 Abs. 1 lit. a VTS gilt ein Fahrzeug als nicht vorschriftsgemäss, wenn dauernd, zeitweilig oder für bestimmte Fälle vorgeschriebene Teile fehlen oder den Vorschriften nicht entsprechen. Art. 29 SVG schreibt vor, dass Fahrzeuge nur in betriebssicherem und vorschriftsgemässem Zustand verkehren dürfen. Sie müssen so beschaffen und unterhalten sein, dass die Verkehrsregeln befolgt werden können und dass Führer, Mitfahrende und andere Strassenbenützer nicht gefährdet und die Strassen nicht beschädigt werden. Der Führer hat sich nach Art. 57 Abs. 1 VRV zu vergewissern, dass Fahrzeug und Ladung in vorschriftsgemässem Zustand sind und das erforderliche Zubehör, wie das Pannensignal, vorhanden ist. Namentlich nach Reparaturen und Waschen des Fahrzeugs muss er die Bremsen prüfen. Ohnehin könnte die blosse Auflistung der (angeblich) erfüllten Tatbestände auch eine kurzgefasste Tatumschreibung nicht ersetzen[19].

d) aa) Im Einspracheverfahren teilte die Staatsanwaltschaft dem Berufungskläger mit, sie halte am Strafbefehl fest. Es sei unbestritten, dass der Berufungskläger fahrlässig gehandelt habe. Indem er die Sicherung nicht vollständig geprüft habe, habe er seine Sorgfaltspflicht als Lenker verletzt. Durch eine manuelle Prüfung der Stütze wäre der Verlust der Abstellstütze zu verhindern gewesen. Unterlasse der Fahrer eine vollständige Überprüfung der Ladung, sei immer mit einem Verlust oder dergleichen zu rechnen.

bb) Dieses Schreiben vermag die gravierenden Mängel des Strafbefehls nicht zu kompensieren. Die Kernelemente eines Tatbestands sind in der Anklageschrift aufzuführen; dies gilt auch für den Strafbefehl im Einspracheverfahren, weil er dann als Anklageschrift gilt, denn der Prozessgegenstand kann nur verbindlich fixiert werden, wenn die wesentlichen Elemente im Strafbefehl aufgeführt sind und sich nicht aus verschiedenen Schriftstücken zusammensetzen. Auf die Akten verwiesen werden kann allenfalls im Zusammenhang mit untergeordneten Lücken des Strafbefehls, wie sie hier aber nicht vorliegen.

Obergericht, 1. Abteilung, 2. Oktober 2013, SBR.2013.20


[1] BGE vom 18. Juli 2013, 6B_45/2013, Erw. 2.2

[2] Wohlers, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hans­jakob/Lieber), Zürich/Basel/Genf 2010, Art. 9 N 4

[3] Art. 356 Abs. 1 StPO

[4] Daphinoff, Das Strafbefehlsverfahren in der Schweizerischen Strafprozessordnung, Diss. Freiburg 2012, S. 309

[5] Art. 325 Abs. 1 lit. a-e StPO

[6] Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO

[7] Art. 325 Abs. 1 lit. g StPO

[8] BGE 133 IV 245

[9] Schmid, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2.A., N 1267

[10] Wohlers, Art. 9 StPO N 11 f.

[11] Heimgartner/Niggli, Basler Kommentar, Art. 325 StPO N 35; Wohlers, Art. 9 StPO N 13

[12] BGE 120 IV 356

[13] Niggli/Heimgartner, Basler Kommentar, Art. 9 StPO N 47; Schmid, N 1267

[14] Niggli/Heimgartner, Art. 9 StPO N 49; BGE vom 26. Oktober 2011, 6B_432/2011, Erw. 2.2; BGE vom 7. Februar 2008, 6B_333/2007, Erw. 2.1.4; BGE vom 7. Dezember 2007, 6B_528/2007, Erw. 2.1.4

[15] BGE vom 18. Juli 2013, 6B_45/2013, Erw. 2.2; BGE vom 6. Februar 2013, 6B_606/2012, Erw. 1.3

[16] BGE vom 26. Oktober 2011, 6B_432/2011, Erw. 2.2; BGE vom 7. Februar 2008, 6B_333/2007, Erw. 2.1.4

[17] Schmid, N 210

[18] Seit 1. Januar 2013 entspricht dies Art. 93 Abs. 2 lit. a und b SVG; der Wortlaut wurde nicht geändert.

[19] BGE vom 10. Januar 2011, 6B_899/2010, Erw. 2.5

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