RBOG 2013 Nr. 28
Untersuchungshaft: Wiederholungsgefahr ohne Vortat
Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK, Art. 187 StGB, Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO
1. a) Die Staatsanwaltschaft verdächtigt den Beschwerdeführer der sexuellen Handlungen mit seinen Patenkindern X und Y sowie weiteren Kindern. Die Kinder waren zum Zeitpunkt des möglichen sexuellen Missbrauchs rund vier beziehungsweise sieben Jahre alt. Dazu kommt der Verdacht, im Internet Kinderpornographie konsumiert zu haben. Der Beschwerdeführer befand sich deshalb vom 4. Dezember 2012[1] bis 26. März 2013 in Untersuchungshaft.
b) Am 11. Mai 2013 informierte der Vater von X die Kantonspolizei, der Beschwerdeführer habe sich mehrfach mit seinem Sohn X getroffen. In der Folge erliess die Staatsanwaltschaft einen Vorführ- und Hausdurchsuchungsbefehl. Am 15. Mai 2013 wurde der Beschwerdeführer vorläufig festgenommen und auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 17. Mai 2013 in Untersuchungshaft gesetzt. Mit Beschwerde vom 24. Mai 2013 beantragte der Beschwerdeführer, die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts sei aufzuheben, und er sei unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Eventuell sei ihm im Sinn einer Ersatzmassnahme ein Kontaktverbot zu den Opfern aufzuerlegen.
2. Untersuchungshaft ist nach Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen[2].
3. a) Untersuchungshaft wegen des bis zur Entlassung am 26. März 2013 bestehenden Tatverdachts ist nur zulässig, wenn noch oder wieder Kollusionsgefahr besteht.
aa) Die Staatsanwaltschaft entliess den Beschwerdeführer am 26. März 2013 aus der Haft, weil sie offenbar bei fortbestehendem Tatverdacht[3] keine Kollusionsgefahr mehr sah. Andernfalls hätte die Staatsanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht entweder um Haftverlängerung oder um Ersatzmassnahmen, insbesondere um ein Kontaktverbot, ersucht. Der Vater von X behauptete zwar, ein Kontaktverbot sei durch Rechtsanwalt R veranlasst worden; in den Akten findet sich dazu jedoch kein Hinweis. Im Haftantrag vom 17. Mai 2013 machte die Staatsanwaltschaft zudem keine seit der Haftentlassung am 26. März 2013 weiter bestehende Kollusionsgefahr geltend, womit per Ende März 2013 keine Kollusionsgefahr mehr bestand.
bb) Da kein Kontaktverbot bestand, kann nicht allein gestützt auf den unbestritten erfolgten Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und X wieder neu eingetretene Kollusionsgefahr angenommen werden. Dass es Ende März 2013 zu einer Kontaktaufnahme kommen werde, war nicht auszuschliessen, sodass eine allfällige Kollusionsgefahr durch ein Kontaktverbot hätte verhindert werden können. Selbst wenn sich der Beschwerdeführer in den Wochen vor seiner erneuten Festnahme am 15. Mai 2013 so verhalten hätte, dass eine Kollusionsbereitschaft hätte angenommen werden können, so vermag dies mit Bezug auf die bis Ende März 2013 untersuchten Straftaten keine Kollusionsgefahr mehr zu begründen. Diese Untersuchung ist abgeschlossen und die Beweise dafür sind gesichert. Folglich lässt sich die Untersuchungshaft damit nicht rechtfertigen.
b) aa) Ein dringender Tatverdacht bezüglich erneuter sexueller Handlungen mit X besteht, wenn aufgrund der aktuellen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat des Beschuldigten vorliegen, das heisst, wenn die Untersuchungsbehörden das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Dabei genügt der Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das in Frage stehende Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen lässt keinen Raum für ausgedehnte Beweismassnahmen. Zur Frage des dringenden Tatverdachts hat das Haftgericht weder ein eigentliches Beweisverfahren durchzuführen noch dem erkennenden Strafrichter vorzugreifen. Vorbehalten bleibt allenfalls die Abnahme eines liquiden Alibibeweises[4]. Allerdings sollte sich der Tatverdacht im Verlauf des Verfahrens in der Regel zunehmend bestätigen und verdichten[5]. Umgekehrt genügt zu Beginn der Untersuchung ein dringender Anfangsverdacht.
bb) Als Versuchsbeginn zu strafbaren sexuellen Handlungen mit einem Kind[6] betrachtet die Praxis in der Regel das Ansprechen des Opfers verbunden mit der Aufforderung zu sexuellen Handlungen, noch nicht aber etwa das Herumlungern auf Spielplätzen. Ein unmittelbares Ansetzen zur Begehung der Tat liegt auch dann schon vor, wenn der Täter das Kind, mit dem er gegen dessen Willen sexuelle Handlungen vornehmen will, an einen dazu besonders geeigneten Ort führt, wo er nach seinen Vorstellungen ohne weitere Zwischenschritte sogleich den sexuellen körperlichen Kontakt aufnehmen will. Will der Täter die sexuellen Handlungen aber auf freiwilliger Basis vornehmen und geht er davon aus, dass er das Kind am Tatort erst noch durch ein die sexuellen Handlungen vorbereitendes Gespräch oder andere eigene Handlungen zur Aufnahme des sexuellen Kontakts veranlassen kann, beginnt der Versuch erst damit. Bis dahin handelt es sich um straflose Vorbereitungshandlungen[7]; dies auch im Fall von Chatten im Internet, selbst wenn dabei über die Vornahme sexueller Handlungen geschrieben wird[8].
Gestützt darauf lässt sich im von der Vorinstanz beschriebenen Verhalten des Beschwerdeführers, wonach dieser mit X stundenlang durch den Wald gewandert sei, um so das Terrain für eine Wiederaufnahme der sexuellen Handlungen vorzubereiten, noch kein strafbarer Versuch zu sexuellen Handlungen mit einem Kind sehen. Als straflose Vorbereitungshandlungen sind auch das angebliche Chatten und das Schreiben eines Briefs, welcher der Beschwerdeführer X persönlich übergeben haben will, zu qualifizieren. Sollte der Beschwerdeführer X dazu angehalten haben, seine Telefonnummer unter dem Namen "A" abzuspeichern, wäre dies ebenfalls eine straflose Vorbereitungshandlung. Folglich fehlt insofern ein dringender Tatverdacht betreffend versuchte sexuelle Handlungen mit einem Kind.
cc) Dafür, dass es anlässlich der Treffen des Beschwerdeführers mit X zu strafbaren (versuchten) sexuellen Handlungen kam, spricht lediglich der Umstand, dass der Beschwerdeführer bei seiner Verhaftung nicht mehr über die nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft erworbenen Geräte – Digitalkamera, Tablet und Mobiltelefon "Sony Ericsson" – verfügte. Die nachfolgend aufgeführten Gründe lassen vermuten, der Beschwerdeführer habe sich dieser Geräte entledigt, um dadurch belastendes Beweismaterial beiseite zu schaffen:
Bereits im Entscheid vom 7. März 2013 erkannte das Obergericht, der bei weitem nicht umfassend geständige Beschwerdeführer habe in der Vergangenheit kaum etwas unversucht gelassen, um die eigenen Taten zu vertuschen oder jedenfalls zu verharmlosen. So habe er versucht, vor und anlässlich der Hausdurchsuchung belastendes Bildmaterial zu löschen, wichtige Beweismittel im Vogelspinnenterrarium zu verstecken und Passwortlisten zu löschen, was den Zugriff auf Daten erschwert habe.
Der Beschwerdeführer will dieses Mal die Kamera und das Tablet unverschlossen in seinem Auto in einer Tiefgarage zurückgelassen haben. Dabei habe er gar den Zündschlüssel stecken lassen. Als die Polizei das Auto durchsuchte, fand sie weder die Kamera noch das Tablet, worauf der Beschwerdeführer behauptete, die Geräte müssten ihm gestohlen worden sein. Selbst wenn dies nicht ausgeschlossen werden kann, so erscheint diese Begründung – aufgrund des früheren Verhaltens und im Kontext mit dem ebenfalls nicht mehr vorhandenen Mobiltelefon – wenig glaubhaft.
Der Beschwerdeführer wusste, dass ihn die Polizei suchte, weil ihn seine Grossmutter im Auftrag der Polizei angerufen und aufgefordert hatte, sich der Polizei zu stellen. Der Beschwerdeführer war sich bewusst, dass er sich wiederholt mit X getroffen hatte und dass X's Vater dies wusste. Dieser hatte ihn nämlich mit der nur X bekannten Nummer angerufen und ihm eine "Droh-SMS" gesandt. Daher wusste er ebenfalls, dass er erneut im Verdacht stand, strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität von X begangen zu haben. Aus dem vergangenen Strafverfahren war ihm bekannt, dass die Strafverfolgungsbehörden Geräte – wie Kamera, Tablet und Mobiltelefon – nach Hinweisen auf solche Straftaten und auch auf verbotene Kinderpornographie durchsuchen würden. Hätten ihn die Inhalte auf diesen Geräten entlastet, hätte er wohl gut auf sie aufgepasst. Stattdessen machte er geltend, die Kamera und das Tablet unverschlossen in seinem Auto in einer Tiefgarage gelassen zu haben, wodurch er einen Diebstahl der Geräte geradezu provozierte, sofern sie denn überhaupt gestohlen wurden. Zudem habe er das Mobiltelefon "Sony Ericsson" wegen der befürchteten Ortung weggeworfen. Dabei hätte ihn das Telefon entlasten können, wenn darauf keine Hinweise[9] auf strafbare Handlungen gefunden worden wären. Auch die Begründung mit der befürchteten Ortung überzeugt nicht, da ihn die Polizei beziehungsweise die Grossmutter bereits darauf angerufen hatte. Dies tat diese wohl erst, nachdem die Polizei ihn zu orten versucht hatte. Selbst nach dem Anruf der Polizei beziehungsweise der Grossmutter wartete der Beschwerdeführer angeblich noch rund eine Stunde, bis er das Telefon wegwarf. Damit konfrontiert, machte der Beschwerdeführer Verfolgungswahn geltend. Auf die Frage des Staatsanwalts, wo sich der von ihm geschriebene Brief an X befinde, antwortete der Beschwerdeführer schliesslich, X habe diesen wohl vernichtet, damit man den Brief nicht finde. Folglich sollen fast alle Beweismittel in diesem Verfahren nicht mehr vorhanden sein.
dd) Insgesamt würden diese Indizien genügen, um bei Bestehen eines neuen Tatverdachts Kollusionsgefahr zu bejahen. Daraus allerdings bereits einen dringenden Tatverdacht herzuleiten, erscheint problematisch, zumal X gemäss dem Informationsbericht der Polizei vom 12. Mai 2013 ausgesagt haben soll, es sei nie zu Übergriffen gekommen. Zusammenfassend fehlt damit ein dringender Anfangsverdacht bezüglich erneuter strafbarer (versuchter) sexueller Handlungen mit einem Kind.
4. a) Art. 187 Ziff. 1 StGB ist ein Verbrechen im Sinn von Art. 10 Abs. 2 StGB. Daher ist Untersuchungshaft auch wegen Ausführungsgefahr[10] oder wegen Wiederholungsgefahr möglich. Diesfalls genügt als Tatverdacht jener aus dem ersten Untersuchungsteil.
aa) Untersuchungshaft wegen Ausführungsgefahr ist gemäss Art. 221 Abs. 2 StPO zulässig, wenn – mit oder ohne dringenden Tatverdacht – ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahrmachen (Präventivhaft). Die Vorinstanz verneinte Ausführungsgefahr; die Staatsanwaltschaft thematisierte diese nicht. Erforderlich ist eine Drohung, welche auch bloss konkludent erfolgen kann[11]. Die "einvernehmlichen" Treffen, bei welchen weitere sexuelle Handlungen mit einem Kind zu befürchten sind, kamen ohne Drohung zustande, und auch sonst ist hier weder eine ausdrückliche noch eine konkludente Drohung ersichtlich. Daher kommt Art. 221 Abs. 2 StPO nicht zur Anwendung.
bb) Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr ist zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hatte[12].
Sinn und Zweck der Anordnung von Haft wegen Wiederholungsgefahr beziehungsweise Fortsetzungsgefahr ist die Verhütung von Delikten. Der Haftgrund ist somit überwiegend präventiver Natur. Die Notwendigkeit, die beschuldigte Person an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern, anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich als Haftgrund. Die Anordnung von Haft wegen Wiederholungsgefahr dient auch dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung, indem verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist restriktiv zu handhaben[13].
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist Haft wegen Wiederholungsgefahr zulässig, wenn die Rückfallprognose sehr ungünstig ist. Die Begehung der in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO genannten Delikte muss ernsthaft zu befürchten sein. Dabei sind insbesondere die Häufigkeit und Intensität der untersuchten Delikte sowie die einschlägigen Vorstrafen zu berücksichtigen[14]. Zudem müssen die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sein[15]. Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist entgegen dem deutschsprachigen Gesetzeswortlaut dahin auszulegen, dass "Verbrechen oder schwere Vergehen" drohen müssen, und setzt die ernsthafte Befürchtung voraus, dass die beschuldigte Person durch Verbrechen[16] oder schwere Vergehen[17] die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Strafen verübt hatte[18].
Gesetz und Rechtsprechung verlangen als weitere Voraussetzung der Präventivhaft wegen Wiederholungsgefahr, dass die beschuldigte Person bereits früher straffällig wurde. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist bei der Gefahr schwerster Gewaltverbrechen jedoch Präventivhaft wegen Wiederholungsgefahr ohne Vortat möglich[19]. In der Botschaft zur StPO[20] werde ausgeführt, der Haftgrund der Wiederholungsgefahr könne auch ausschliesslich der Gefahrenabwehr dienen; in diesem Sinn handle es sich um eine sichernde, polizeiliche Zwangsmassnahme. Weil Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO nicht verlange, dass die beschuldigte Person während der Hängigkeit des Verfahrens ein Delikt begangen habe, sei der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in diesem Sinn zu verstehen. Diese bundesgerichtliche Rechtsprechung ist zwar umstritten[21]; geht es um sexuelle Handlungen mit Kindern, besteht allerdings kein Grund, diese in Zweifel zu ziehen. Sexuelle Handlungen mit Kindern gehören zu den gravierendsten Straftaten überhaupt, was bereits deren Unverjährbarkeit zeigt[22].
b) aa) Die Vorinstanz liess offen, ob auch Wiederholungs- oder Fortsetzungsgefahr gegeben sei. Mindestens nach dem derzeitigen Aktenstand seien keine früheren Verurteilungen bezüglich gleichartiger Delikte bekannt. Das Bundesgericht habe sich noch nie dazu geäussert, ob nach dem neuen Recht die blosse Fortsetzungsgefahr (ohne vorhergehende, den Strafuntersuchungsbehörden bekannte Straftaten) als Haftgrund für die Annahme einer Fortsetzungs- oder Wiederholungsgefahr ausreiche. Die Sicherung der Gesellschaft müsse eher über die fürsorgerische Freiheitsentziehung erfolgen.
bb) Demgegenüber führte die Staatsanwaltschaft aus, Wiederholungsgefahr als Haftgrund sei gegeben. Nachweislich und eingestandenermassen habe der Beschwerdeführer mit X sexuelle Handlungen vorgenommen[23]. Wenn er dann trotz laufender Strafuntersuchung heimlich wieder Kontakt mit X aufnehme und sich mit diesem mehrfach und über Stunden allein im Wald treffe sowie dabei Vorkehrungen treffe, damit Dritte davon nichts erführen, lägen weitere sexuelle Übergriffe auf X oder auch andere Kinder nahe. Der Beschwerdeführer selbst habe in seiner Befragung vom 15. Mai 2013 und anlässlich der Eröffnung der Festnahme von einem "durch ihn nicht steuerbaren wahnhaften Verhalten" gesprochen. Damit sei eine Begutachtung des Beschwerdeführers unumgänglich geworden. Dabei werde sich der Gutachter auch zur Gefahr künftiger Straftaten zu äussern haben. Das Gutachten liege frühestens in drei Monaten vor. Bis dahin könne der Beschwerdeführer nicht in die Freiheit entlassen werden.
cc) Dem hielt der Beschwerdeführer entgegen, er sei nicht vorbestraft, und eine (sehr) ungünstige Rückfallprognose sei nicht erstellt. Weitere strafbare Handlungen habe er nicht begangen. Eine rein hypothetische Möglichkeit weiterer Delinquenz genüge nicht. Im Übrigen habe er nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft zwei Therapien begonnen, unter anderem eine beim "FORIO" in Frauenfeld. Die Begutachtung, die er bereits am 6. Februar 2013 beantragt habe, welche die Staatsanwaltschaft damals aber noch abgelehnt habe, könne auch durchgeführt werden, wenn er sich in Freiheit befinde, da keine Gefahr weiterer einschlägiger Delinquenz bestehe. Jedenfalls könne und dürfe die Dauer der Untersuchungshaft nicht von der Zeit abhängig gemacht werden, welche für die Einholung des psychiatrischen Gutachtens benötigt werde.
c) Beim Beschwerdeführer fehlt zwar die Vortat. Dagegen sind sämtliche anderen Voraussetzungen von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO gegeben, nämlich der dringende Tatverdacht betreffend Sexualdelikte, die ernsthafte Befürchtung weiterer Delinquenz und die erhebliche Gefährdung der Sicherheit Dritter. Die Treffen des Beschwerdeführers mit X, sein Verhalten im Vorfeld dieser Treffen[24], aber auch sein Verhalten im Vorfeld seiner Festnahme - namentlich die wenig glaubhaften Gründe für das Nichtmehrvorhandensein von Kamera, Tablet und Mobiltelefon "Sony Ericsson" - lassen vor dem Hintergrund, dass Pädophilie eine (krankhafte) Veranlagung ist, ernsthaft weitere sexuelle Handlungen mit X und auch mit anderen Kindern befürchten.
Damit ist die Sicherheit (sexuelle Integrität) von X und weiteren Kindern erheblich gefährdet. Selbst annähernd vier Monate Untersuchungshaft haben den Beschwerdeführer nicht davon abgehalten, nach seiner Entlassung mit einem seiner Opfer Kontakt aufzunehmen. Dies ist nicht nur ungeschickt, wie der Beschwerdeführer verharmlosend meinte. Obwohl kein Kontaktverbot erlassen wurde, hätte der Beschwerdeführer auf jeden Fall erkennen müssen, dass er X nicht kontaktieren dürfe. Folglich erscheint es geradezu geboten, den Beschwerdeführer – auch ohne abgeurteilte Vortat – wegen Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft zu belassen. Dies ist jedenfalls so lange angezeigt, bis erste gutachterliche Erkenntnisse vorliegen. Diese müssen nicht schon in einem umfassenden Gutachten erstattet werden, sondern können durch ein Kurzgutachten, bei welchem die Erkenntnisse auf einzelnen konkreten Fragen basieren und nicht ein lückenloses Bild vermitteln[25], erfolgen. Daher ist die Untersuchungshaft bis 16. August 2013 zulässig.
5. Da die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr angeordnet wird, kommen Ersatzmassnahmen in Anbetracht des Verhaltens des Beschwerdeführers nach seiner Haftentlassung Ende März 2013 nicht in Betracht. Über ein Kontaktverbot zu X könnte sich der Beschwerdeführer ohne weiteres hinwegsetzen, wobei X weitere Treffen wie bis anhin kaum verraten dürfte. Zudem ist mit einem Kontaktverbot zu X die Gefahr für andere Kinder noch nicht gebannt. Die bisherigen Therapien hinderten den Beschwerdeführer nicht daran, sich mit X zu treffen.
Obergericht, 2. Abteilung, 26. Juni 2013, SW.2013.67
[1] Festnahme am 3. Dezember 2012
[2] Verdunkelungs- oder Kollusionsgefahr
[3] Bereits im damaligen Beschwerdeverfahren war der dringende Tatverdacht unbestritten; strittig war lediglich die Kollusionsgefahr.
[4] BGE 137 IV 126 f.
[5] Forster, Basler Kommentar, Art. 221 StPO N 3
[6] Art. 187 i.V.m. Art. 22 StGB
[7] Art. 187 StGB ist in der Liste gemäss Art. 260bis Abs. 1 StGB nicht enthalten.
[8] Trechsel/Bertossa, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 2.A., Art. 187 N 20
[9] Filme, Fotos
[10] BGE 137 IV 130
[11] BGE 137 IV 339
[12] Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO: Wiederholungs- oder Fortsetzungsgefahr
[13] BGE 137 IV 85
[14] BGE 137 IV 86
[15] BGE vom 22. April 2013, 1B_136/2013, Erw. 4.2
[16] Verbrechen sind Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind (Art. 10 Abs. 2 StGB).
[17] Vergehen sind Taten, die mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht sind (Art. 10 Abs. 3 StGB).
[18] BGE vom 22. April 2013, 1B_136/2013, Erw. 4.1; BGE 137 IV 85 f.; Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrecht, Zürich/St. Gallen 2009, N 1024; Forster, Art. 221 StPO N 14
[19] BGE 137 IV 13 = Pra 100, 2011, Nr. 90
[20] Vom 21. Dezember 2005, BBl 2005 S. 1229
[21] Vgl. Ruckstuhl/Dittmann/Arnold, Strafprozessrecht, Zürich/Basel/Genf 2011, S. 217 f. Das Bundesgericht habe sich - offenbar vom Ergebnis geleitet, dass diese Person auf keinen Fall auf freien Fuss gesetzt werden dürfe - klar vom Gesetzeswortlaut entfernt und die Annahme von Fortsetzungsgefahr auch ohne entsprechende Vortat in der Vergangenheit zugelassen, was nur so verständlich werde, wenn das Bundesgericht auch den Haftgrund der Ausführungsgefahr als erfüllt erachtet habe. Auf jeden Fall habe das Bundesgericht in einem nachfolgenden Entscheid (BGE 1B_126/2011, Erw. 3.2) unter Verweis auf den ersten ohne weiteres festgehalten, für die Annahme von Fortsetzungsgefahr müsse die beschuldigte Person bereits früher gleichartige Vortaten (also Plural) verübt haben.
[22] Trechsel/Capus, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 2.A., Art. 97 N 5
[23] Bis zur Entlassung aus der ersten Untersuchungshaft
[24] Kontaktaufnahme durch den Beschwerdeführer, Speichern seiner Telefonnummer im Telefonbuch von X unter dem Pseudonym "A"
[25] Heer, Basler Kommentar, Art. 184 StPO N 9