Skip to main content

RBOG 2013 Nr. 4

Vorläufiger Obhutsentzug aufgrund einer qualifizierten Körperverletzung zum Nachteil eines Säuglings


Art. 310 Abs. 1 ZGB


1. Die Beschwerdeführer sind die Eltern von X, geboren am 13. März 2013. Am 20. April 2013 brachten die Eltern X wegen Fiebers in ein Kinderspital. Kurz darauf meldete das Kinderspital der Staatsanwaltschaft, bei X seien unklare Schädel-/Hirnverletzungen (Schädelbruch und Blutungen) festgestellt worden, welche auf eine mögliche Kindesmisshandlung schliessen liessen. Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen qualifizierter einfacher Körperverletzung zum Nachteil von X und meldete dies gleichentags der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Tags zuvor hatte der Beschwerdeführer an einer polizeilichen Einvernahme zu Protokoll gegeben, er habe am 19. April 2013 aus Verzweiflung über das ständige Weinen von X deren Kopf mit seinen Händen gegen seinen Bauch und anschliessend gegen das Sofa gedrückt.

2. a) Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes[1]. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist dazu auch gegenüber Kindern verpflichtet, die bei Pflegeeltern untergebracht sind oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern leben[2].

b) Erfordern es die Verhältnisse, so ernennt die Kindesschutzbehörde dem Kind einen Beistand, der die Eltern in ihrer Sorge um das Kind mit Rat und Tat unterstützt[3]. Sie kann dem Beistand besondere Befugnisse übertragen, namentlich die Vertretung des Kindes bei der Wahrung seines Unterhaltsanspruchs und anderer Rechte sowie die Überwachung des persönlichen Verkehrs[4]. Die elterliche Sorge kann entsprechend beschränkt werden[5]. Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistands und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest[6].

c) Kann der Gefährdung des Kindes nicht anders begegnet werden, so hat die Kindesschutzbehörde es den Eltern oder, wenn es sich bei Dritten befindet, diesen wegzunehmen und in angemessener Weise unterzubringen[7].

Die Gefährdung muss darin liegen, dass das Kind in der elterlichen Obhut nicht so geschützt und gefördert wird, wie es für seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung nötig wäre. Unerheblich ist, auf welche Ursachen die Gefährdung zurückzuführen ist: Sie können in den Anlagen oder in einem Fehlverhalten des Kindes, der Eltern oder der weiteren Umgebung liegen. Desgleichen spielt keine Rolle, ob die Eltern ein Verschulden an der Gefährdung trifft. Massgebend sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Entziehung. Alle Kindesschutzmassnahmen müssen erforderlich sein (Subsidiarität), und es sind immer die mildesten erfolgsversprechenden Massnahmen anzuordnen (Proportionalität); diese sollen elterliche Bemühungen nicht ersetzen, sondern ergänzen (Komplementarität). Die Entziehung der elterlichen Obhut ist daher nur zulässig, wenn andere Massnahmen ohne Erfolg geblieben sind oder von vornherein als ungenügend erscheinen[8].

d) Die behördlichen Massnahmen sollen das Wohl und den Schutz hilfsbedürftiger Personen sicherstellen. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass die erforderlichen Massnahmen rechtzeitig angeordnet und durchgeführt werden. Damit der vom Gesetz angestrebte Schutzzweck verwirklicht werden kann, ist es oft unumgänglich, gewisse notwendige Massnahmen schon während des Verfahrens anzuordnen. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde wird deshalb ermächtigt, vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Verfahrens zu treffen. Angesichts des Zwecks einer durch die Dauer des Verfahrens begrenzten vorsorglichen Anordnung, die voraussichtlich später durch eine definitive Massnahme ersetzt werden soll, ist dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit besondere Beachtung zu schenken[9].

3. a) aa) Die Beschwerdeführer wehren sich gegen den Obhutsentzug mit Fremdplatzierung ihrer Tochter. Sie werfen der Vor­instanz vor, diese habe den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt und keine milderen Massnahmen, um einer allfälligen Gefährdung begegnen zu können, geprüft. Der Beschwerdeführer habe aus einer Überforderungssituation gehandelt und im Strafverfahren dargelegt, wie es zum bedauerlichen Vorfall gekommen sei, und dass es sich dabei um ein einmaliges ausserordentliches Versagen gehandelt habe. Die Akten ergäben keinerlei Auskunft darüber, dass er sich weitere Entgleisungen habe zuschulden kommen lassen. Daraus könne auch nicht der Schluss gezogen werden, aufgrund seines Vorlebens müsse davon ausgegangen werden, dass er in einer gleichen Situation sich wiederum eine derartige Entgleisung zuschulden kommen lassen würde. Aus dem Bericht des Facharztes, welcher im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Suizidgefahr beim Beschwerdeführer habe abklären müssen, ergebe sich, dass der Beschwerdeführer realisiert habe, was er mit seiner Handlungsweise bewirkt habe. Der Beschwerdeführer bedaure das Geschehene und verarbeite es. Das Strafverfahren beziehungsweise die Frage der Gewährung des bedingten Strafvollzugs schwebe wie ein Damoklesschwert über ihm und sei geeignet, ihn von weiterem strafbaren Tun abzuhalten. Darüber hinaus habe er sich bereits über seinen Hausarzt mit einem Psychiater in Verbindung gesetzt und mache gegenwärtig eine entsprechende Therapie. Die Vorinstanz hätte zumindest ausführen müssen, aus welchen Gründen andere Massnahmen nicht in Frage kämen. Es sei beispielsweise durchaus denkbar, dass dem Beschwerdeführer Auflagen gemacht würden, wonach er von der Pflege des Kindes Abstand zu nehmen habe und sich weiterhin einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehen müsse, die Eltern einen engen Kontakt mit der Kinderspitex hätten oder eine enge Beistandschaft geführt werde. An die Verhältnismässigkeit der vorsorglichen Massnahme sei auch deshalb ein äusserst strenger Massstab anzuwenden, weil die vorsorgliche Massnahme in den allermeisten Fällen den endgültigen Entscheid präjudiziere.

bb) Die Vorinstanz begründete ihren Entscheid damit, den staatsanwaltschaftlichen Akten folgend habe sich der Beschwerdeführer seit der Geburt seiner Tochter zunehmend überfordert gefühlt und am Abend des 19. April 2013 die Kontrolle über sich verloren, nachdem er das weinende Baby nicht habe beruhigen können. Die Verletzungen von X seien derart schwer gewesen, dass anfänglich nicht klar gewesen sei, ob sie überhaupt überleben werde. X befinde sich noch in einem Alter, in welchem ausgeprägtes Schreien zur normalen Entwicklung gehöre. Es sei davon auszugehen, dass die Eltern, insbesondere der Vater, auch nach der Entlassung von X aus der Kinderklinik wieder in ähnliche Stresssituationen geraten könnten, zumal Kinder mit einer Hirnverletzung gemäss den Auskünften des Kinderspitals speziell dazu neigen würden, unruhig zu sein. Es müsse damit gerechnet werden, dass X zukünftig noch mehr weinen beziehungsweise schreien werde. Zur Gefährdung des Kindeswohls sei es bereits nach einer sehr kurzen Elternzeit von fünf Wochen gekommen. Die durch das laufende Strafverfahren bedingten Stressfaktoren würden sich zusätzlich belastend auf die Eltern auswirken. Eine erneute Überforderungssituation sei deshalb nicht auszuschliessen. Zwar habe sich der Beschwerdeführer zusammen mit seiner Frau in eine psychologische Behandlung begeben, doch sei diese zu kurz, um mit Sicherheit ein adäquates Verhalten in Überforderungssituationen garantieren zu können. Deshalb müsse bei X von einer Gefährdung des Kindeswohls für den Fall der Rückkehr in die elterliche Obhut ausgegangen werden. Dieser Gefährdung könne nur mit einer Fremdplatzierung von X und nicht mit milderen Massnahmen begegnet werden. Eine mildere Massnahme, wie beispielsweise Weisungen oder eine enge Beistandschaft, genügten hier nicht, um der Gefährdung des Kindeswohls begegnen zu können, zumal diese Massnahmen auch nicht vollumfänglich kontrollierbar seien. Da die Eltern zusammenlebten, sei es ferner nicht möglich, den Obhutsentzug nur für den Vater auszusprechen.

b) Im Beschwerdeverfahren geht es einzig um den vorläufigen Obhutsentzug und die vorläufige Fremdplatzierung von X, welche bereits seit 20. April 2013 nicht mehr bei ihren Eltern lebt. Hier ist nur zu prüfen, ob die Voraussetzungen für diese vorsorglichen Massnahmen, namentlich die hier umstrittene Verhältnismässigkeit, gegeben sind. Dabei sind die verschiedenen auf dem Spiel stehenden Interessen abzuwägen. Für den definitiven Entscheid über den Obhutsentzug wird die Vorinstanz voraussichtlich weitere Abklärungen zu treffen haben. Nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist ferner der Umfang des Besuchsrechts der Eltern.

c) aa) Am Abend des 19. April 2013 drückte der Beschwerdeführer den Kopf seiner damals rund fünf Wochen alten Tochter mehrmals stark gegen seinen Bauch und einmal gegen das Sofa, damit sie zu weinen aufhöre. Dadurch zog sich X Hirnverletzungen zu, welche voraussichtlich zu einer motorischen und einer kognitiven Beeinträchtigung führen werden; insbesondere wird damit gerechnet, dass das Sehvermögen von X stark beeinträchtigt sein wird.

bb) Durch das aggressive Verhalten des Vaters hat X mithin schon massiven (bleibenden) Schaden erlitten. Zu Recht geht die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde davon aus, dass die Gefahr einer erneuten Überforderungssituation des Beschwerdeführers nach wie vor besteht. X wird angesichts ihres Alters weiterhin oft und womöglich sogar noch vermehrt weinen, denn das Kinderspital wies in seinem Bericht darauf hin, dass Kinder mit einer Hirnverletzung, wie X sie habe, sehr unruhig sein könnten, vor allem auch nachts. Zwar besucht der Beschwerdeführer offenbar eine Therapie, über deren Verlauf aktuell allerdings noch nichts bekannt ist. Mit der Vorinstanz muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Zeit für eine Stabilisierung des Beschwerdeführers durch die Psychotherapie noch nicht ausreicht. Um X vor weiteren Übergriffen seitens des Beschwerdeführers zu schützen, ist die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen unumgänglich. Mit einer vorübergehenden Fremdplatzierung von X kann einer weiteren Kindeswohlgefährdung zweifelsfrei begegnet werden.

cc) Es ist auch nicht ersichtlich, mit welchen milderen Massnahmen der Gefahr für X entgegengetreten werden könnte. Die Überforderungssituation des Beschwerdeführers hing insbesondere mit dem Weinen von X zusammen, welchem er ausgesetzt sein wird, solange er mit ihr zusammen lebt. Weinattacken können auch nachts auftreten, und Überreaktionen sind nicht im Voraus planbar. Die von den Beschwerdeführern genannten Massnahmen, wie Auflagen an den Beschwerdeführer, von der Pflege des Kindes Abstand zu nehmen oder sich einer weiteren psychotherapeutischen Behandlung unterziehen zu müssen sowie Kontakt mit der Kinderspitex aufzunehmen, sind nicht kontrollierbar und vermögen die Gefahr – jedenfalls zumindest vorläufig – noch nicht gänzlich zu bannen. Auch der Präsident der Fachkommission Kinderschutz ist der Meinung, dass die Eltern für eine Unterbringung von X bei ihnen eine klare Unterstützung, Schulung und engmaschige Überwachung in Form eines Netzes bräuchten, um eine erneute Traumatisierung mit hoher Sicherheit zu vermeiden. Dies gelte sowohl während das Kind in einer Pflegefamilie untergebracht sei, als auch im Hinblick darauf, dass sie möglicherweise die Pflege des Kindes mit geeigneter Unterstützung später wieder übernehmen könnten.

d) Zusammenfassend sind die angefochtenen vorsorglichen Massnahmen ohne weiteres gerechtfertigt, weshalb sich die Beschwerde als unbegründet erweist. Die Interessen am Schutz des zwischenzeitlich rund drei Monate alten Säuglings sind deutlich höher zu gewichten als die Interessen der Beschwerdeführer, die das Kind bereits seit bald zwei Monaten nicht mehr in ihrer Obhut haben und den Kontakt mit dem Kind mit Besuchen aufrechterhalten können.

Obergericht, 1. Abteilung, 3. Juli 2013, KES.2013.22


[1] Art. 307 Abs. 1 ZGB

[2] Art. 307 Abs. 2 ZGB

[3] Art. 308 Abs. 1 ZGB

[4] Art. 308 Abs. 2 ZGB

[5] Art. 308 Abs. 3 ZGB

[6] Art. 314 Abs. 3 ZGB

[7] Art. 310 Abs. 1 ZGB

[8] BGE vom 17. Mai 2013, 5A_188/2013, Erw. 3; BGE vom 12. März 2012, 5A_701/2011, Erw. 4.2.1

[9] Botschaft des Bundesrates zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs vom 28. Juni 2006, BBl 2006 S. 7077

JavaScript errors detected

Please note, these errors can depend on your browser setup.

If this problem persists, please contact our support.