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RBOG 2014 Nr. 17

Absetzung des amtlichen Verteidigers wegen angeblich fehlerhaften Prozessverhaltens und standeswidrigen Verhaltens


Art. 12 lit. a BGFA, Art. 128 StPO, Art. 134 Abs. 2 StPO


1. a) Mit Verfügung vom 3. Juli 2012 wurde Rechtsanwalt X von der Staatsanwaltschaft zum amtlichen Verteidiger von Y bestellt.

b) Mit Verfügung vom 30. Oktober 2013 widerrief die Staatsanwaltschaft die amtliche Verteidigung durch Rechtsanwalt X und entliess ihn mit sofortiger Wirkung. Gleichzeitig bestellte die Staatsanwaltschaft Rechtsanwalt Z - mit Wirkung ab dem 30. Oktober 2013 - zum amtlichen Verteidiger von Y. X und Y führen Beschwerde.

c) Den Widerruf der amtlichen Verteidigung begründete die Staatsanwaltschaft mit Art. 134 Abs. 2 StPO; eine wirksame Verteidigung sei aufgrund des nicht mehr vertretbaren oder offensichtlich fehlerhaften Prozessverhaltens der Verteidigung nicht mehr gewährleistet und damit ein Grund für deren Absetzung. In ihrer Beschwerdeant­wort berief sie sich zudem auf Art. 128 StPO, wonach sich der Verteidiger an Gesetz und Standesregeln zu halten habe. Wegen der wiederholten Verfehlungen von Rechtsanwalt X sei eine Fortführung der amtlichen Verteidigung durch diesen nicht mehr zumutbar.

2. a) Die beschuldigte Person hat nicht nur einen grundrechtlichen Anspruch[1] auf jederzeitigen Beizug einer selbst gewählten anwaltlichen Verteidigung beziehungsweise unter bestimmten Voraussetzungen auf Bestellung einer amtlichen Verteidigung, sondern auch auf eine wirksame, das heisst effiziente Wahrnehmung ihrer Parteiinteressen. Dazu gehört eine sachkundige, engagierte und effektive Verteidigung, wozu als Massstab die Befolgung beziehungsweise Vernachlässigung der Berufs- und Standespflichten dient. Diese Grundsätze finden sich in den Art. 127 ff. StPO[2].

b) Ist das Vertrauensverhältnis zwischen der beschuldigten Person und ihrer amtlichen Verteidigung erheblich gestört oder eine wirksame Verteidigung aus anderen Gründen nicht mehr gewährleistet, so überträgt die Verfahrensleitung die amtliche Verteidigung gemäss Art. 134 Abs. 2 StPO einer anderen Person.

Eine wirksame Verteidigung ist aus anderen Gründen nicht mehr gewährleistet, wenn die beschuldigte Person wegen ihres Schwächezustands die Ineffektivität der Verteidigung nicht erkennt. Die Effizienz fehlt, wenn der Verteidiger den Schwierigkeiten des Falls offensichtlich nicht gewachsen ist beziehungsweise er sich als unfähig erwies, den Beschuldigten kompetent zu beraten oder Rechtsmittel korrekt einzulegen[3]. Verletzt ist der Anspruch auf wirksame Verteidigung auch bei krassen Frist- oder Terminversäumnissen, bei mangelnder Sorgfalt bei der Vorbereitung von Einvernahmen oder anderen Prozesshandlungen sowie, wenn die Verteidigung an den wichtigsten Zeugeneinvernahmen oder an der Hauptverhandlung nicht teilnimmt, oder wenn sie es während mehreren Monaten unterlässt, die beschuldigte Person im Gefängnis zu besuchen. Hingegen ist die Verteidigung nicht bereits ineffektiv, wenn sie nicht alles tut, was die beschuldigte Person will[4].

Unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung einer effektiven Verteidigung sind allein die strafprozessualen Verteidigungsrechte massgebend, wobei die sich aus dem Auftragsrecht oder anwaltlichen Standesrecht ergebenden Pflichten allenfalls ergänzend herangezogen werden können. Zu beachten bleibt aber, dass diese Pflichten vielfach anderen Zwecken dienen und deshalb im Rahmen der behördlichen Fürsorgepflicht nur insoweit von Bedeutung sind, als sie direkt die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person berühren. Entsprechend können die Strafbehörden daraus keine eigenen Ansprüche auf einen ungestörten Verfahrensablauf herleiten[5]. Nicht erlaubt ist daher, dass mittels der prozessualen Fürsorgepflicht eine (Fremd-)Kontrolle der Aktivitäten der Verteidigung stattfindet, die letztlich darauf hinaus läuft, dass die Staatsanwaltschaft prüft, ob die Verteidigung - aus ihrer Sicht gesehen - ein sinnvolles Verteidigungskonzept verfolgt oder nicht, beziehungsweise ob sich die Verteidigung so verhält, wie dies unter Zugrundelegung des von der Staatsanwaltschaft für sinnvoll angesehenen Verteidigungskonzepts geboten erscheint[6]. Ebensowenig stellt ungebührliches Verhalten einen Grund für einen Wechsel der amtlichen Verteidigung dar. Entsprechendes Verhalten ist disziplinarisch sowie aufsichtsrechtlich zu ahnden[7].

Fehlt die Effizienz, ist die Verteidigung abzumahnen und – gegebenenfalls auch wiederholt – zu einem ordnungsgemässen Agieren anzuhalten. Kann der festgestellte Missstand auf diese Art und Weise nicht oder nicht dauerhaft behoben werden, ist die amtliche Verteidigung abzuberufen und zu ersetzen[8]. Zusammenfassend braucht es für eine Absetzung des amtlichen Verteidigers einen offensichtlichen Verstoss gegen allgemein anerkannte Verteidigungsstandards und ein sachlich nicht (mehr) vertretbares beziehungsweise offensichtlich fehlerhaftes Prozessverhalten des Verteidigers; eine blosse Schlechterfüllung des Mandats genügt dagegen nicht[9].

c) Kein Verfahrensbeteiligter machte geltend, das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt X und Y sei erheblich gestört. Dieses ist im Gegenteil offensichtlich intakt. Die Staatsanwaltschaft warf Rechtsanwalt X auch nicht vor, Y ungenügend verteidigt zu haben. Vielmehr machte sie geltend, Rechtsanwalt X habe sich in seinem Kampf gegen die Untersuchungsbehörden und in seinem tiefen Misstrauen gegenüber der Staatsanwaltschaft in wilden Verschwörungstheorien verrannt und dabei die Effektivität seiner Verteidigung aus den Augen verloren. Er befinde sich mittlerweile fern jeder Realität. Dabei denunziere er die Staatsanwaltschaft bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit und rücke sie ungerechtfertigt in ein schlechtes Licht.

Allein wegen dieser Empfindungen der Staatsanwaltschaft ist die wirksame Verteidigung durch Rechtsanwalt X jedoch nicht in Frage gestellt. Aufgrund der zahlreichen Beschwerden der Verteidigung ist gerichtsnotorisch, dass er Y ausgesprochen engagiert verteidigt. Rechtsanwalt X mag für die Staatsanwaltschaft ein unbequemer Verteidiger sein, wobei sich die Staatsanwaltschaft nicht an der Untätigkeit, sondern an der Tätigkeit von Rechtsanwalt X stört. Unbequem zu sein, ist jedoch - bis zu einem gewissen Grad - mitunter die Aufgabe der Verteidigung. Daher sind auch die Bemerkungen der Staatsanwaltschaft zu der ihrer Meinung nach falschen Verteidigungsstrategie und –taktik nicht stichhaltig, da diese allein der Verteidigung obliegt. Folglich stützte die Staatsanwaltschaft den Widerruf der amtlichen Verteidigung durch Rechtsanwalt X zu Unrecht auf Art. 134 Abs. 2 StPO.

3. Nach Art. 128 StPO ist die Verteidigung in den Schranken von Gesetz und Standesregeln allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. Zudem schreibt Art. 12 lit. a des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte[10] den Anwältinnen und Anwälten vor, ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben. Art. 12 lit. a BGFA bezieht sich - im Gegensatz zu Art. 134 Abs. 2 StPO - nicht nur auf die Beziehung zwischen Anwalt und Klient, sondern auch auf das Verhalten des Anwalts gegenüber Behörden, Gegenpartei und Öffentlichkeit[11].

a) Die Verteidigung ist nicht Organ der Rechtspflege und auch nicht Diener des Rechts. Im Gegensatz zu den Strafverfolgungsbehörden ist sie weder zu Neutralität noch zu Objektivität verpflichtet. Sie kann und muss vielmehr alles vorbringen, was zur Entlastung ihres Mandanten dienen kann. Sie trifft weder eine Pflicht, die Wahrheit zu offenbaren, noch ist sie verpflichtet, den Beschuldigten zu deren Kundgabe zu veranlassen. Ihre Aufgabe ist allein, den Rechtssuchenden bei der Verfolgung seiner subjektiven Interessen unter Beachtung der objektiven Rechtsordnung zu beraten und zu unterstützen. Als Verfechter von Parteiinteressen ist sie einseitig im Interesse ihres Mandanten tätig. Ihr obliegt es, dem staatlichen Strafanspruch entgegenzutreten und auf ein freisprechendes oder möglichst mildes Urteil hinzuwirken. Allerdings bedeutet dies nicht, dass ihre Tätigkeit keinen Schranken unterliegt. Ihre Aufgabenerfüllung findet ihre Grenzen im Verbot der Anwendung rechtswidriger Mittel sowie in den geschriebenen und ungeschriebenen Geboten des Berufs- und Standesrechts[12]. Dies gilt in gleicher Weise für die (private) Wahlverteidigung wie die amtliche Verteidigung.

Eine Verteidigung, welche die Belange des Beschuldigten effektiv und wirksam zur Geltung zu bringen sucht, stösst im Rechtsalltag regelmässig auf mehr oder weniger heftige Abwehrreflexe der staatlichen Strafverfolgungsorgane. Diese Abwehrreaktionen äussern sich zum einen im Vorwurf, die nach Auffassung der Behörden exzessive oder aus anderen Gründen nicht ohne weiteres nachvollziehbare Inanspruchnahme prozessualer Befugnisse des Verteidigers sei rechtsmissbräuchlich; zum anderen kann die engagierte Wahrnehmung der Beschuldigteninteressen den Vorwurf des standes- oder gar strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens nach sich ziehen. Indessen ist angesichts des weiten Handlungsspielraums, welcher der Verteidigung einzuräumen ist, nicht alles, was den von den Strafverfolgungsorganen geplanten "Lauf der Gerechtigkeit" hemmt, auch unzulässig[13].

b) Unzulässig sind Kollusionshandlungen, wie etwa die Beeinflussung von Zeugen, die Vernichtung von belastenden Beweismitteln oder die Weiterleitung von Kassibern aus dem Gefängnis sowie widerrechtliche Drohungen, Nötigungen oder Erpressungen des Verteidigers gegenüber Belastungszeugen. Dagegen ist der Ratschlag des Verteidigers an den Beschuldigten, die Aussage (generell) zu verweigern, zulässig[14]. Unbedenklich ist auch, den Zeugen auf die ihm zustehenden Zeugnisverweigerungsrechte hinzuweisen und darauf, dass es für die beschuldigte Person von Vorteil wäre, wenn der Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machte[15]. Als groben Vertrauensbruch gegenüber der Untersuchungsbehörde und Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA qualifizierte die Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte im Kanton Zürich dagegen den Umstand, dass ein Verteidiger Informationen aus einem laufenden Strafverfahren an einen unter Tatverdacht stehenden Dritten weiterleitete[16].

Originalakten, die der Verteidiger von der Staatsanwaltschaft erhalten hat, darf er weder seinem Klienten noch Dritten herausgeben. Zulässig ist dagegen die Aushändigung von Kopien der Akten an den Mandanten und mit dessen Einwilligung an Dritte, wenn dem Verteidiger die Akten nicht mit der Auflage ausgehändigt wurden, diese weder seinem Mandanten noch Dritten zur Einsicht zu geben. Werden Strafakten dem Verteidiger also vorbehaltlos ausgehändigt, stellt deren Offenlegung gegenüber Verwandten des Beschuldigten, im Einverständnis mit dem Mandanten, keine Berufspflichtverletzung dar[17].

Auch muss es der Verteidigung mit Einwilligung des Mandanten gestattet sein, Dritte frei zu kontaktieren, wenn die Verteidigung dies im Interesse einer zielgerichteten Mandatsführung und folglich im Interesse des Mandanten für notwendig hält. Dabei verbietet allerdings eine sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung nach Art. 12 lit. a BGFA die Vereitelung der Wahrheitsfindung und demnach eine Beeinflussung von Zeugen und Auskunftspersonen. Dies gilt auch im Zusammenhang mit der Weiterleitung von Informationen. In welcher Weise der Verteidiger innerhalb der vom Gesetz auferlegten Schranken tätig wird, liegt in seinem Ermessen, das er zum Wohl des Mandanten auszuüben hat. Eine strafbehördliche Weisung hinsichtlich der Zulässigkeit einer Kontaktierung Dritter oder Informations- beziehungsweise Aktenweitergabe an Dritte muss sich deshalb ebenso auf eine gesetzliche Grundlage stützen, wie das Informationsverbot beziehungsweise das Verbot der Weitergabe von Aktenkopien an den eigenen Mandanten[18].

c) In der StPO fehlt zwar eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für Weisungen an die Verteidigung zur Informationsweitergabe an den Beschuldigten oder an Dritte und zur Kontaktierung von Dritten beziehungsweise für entsprechende Informations- und Kontaktverbote[19]. Allerdings stellen die Art. 101, Art. 108 und Art. 149 StPO genügende gesetzliche Grundlagen dar, um zur Vermeidung von Kollusionshandlungen die Akten- und Informationsweitergabe an die beschuldigte Person und damit auch an Dritte einzuschränken.

aa) Art. 73 Abs. 2 StPO ermöglicht der Verfahrensleitung, die Privatklägerschaft und andere Verfahrensbeteiligte und deren Rechtsbeistände unter Hinweis auf Art. 292 StGB zu verpflichten, über das Verfahren und die davon betroffenen Personen Stillschweigen zu bewahren, wenn der Zweck des Verfahrens oder ein privates Interesse es erfordert. Ausdrücklich nicht erfasst von dieser Bestimmung ist jedoch die beschuldigte Person und damit auch deren Verteidigung. Gegenüber der beschuldigten Person kann allenfalls ein Kontaktverbot im Sinn einer Ersatzmassnahme[20] für die Untersuchungshaft auferlegt werden. Gegenüber Rechtsbeiständen verbleibt als einzige Möglichkeit die Einschränkung des rechtlichen Gehörs nach Art. 108 StPO, dies aber nur dann, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht, oder wenn dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist[21]. Mögliche Einschränkungen ergeben sich auch aus Art. 149 StPO, wonach die Verfahrensleitung die Verfahrensrechte der Parteien angemessen einschränken kann. Gemäss Art. 101 Abs. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft schliesslich die Gewährung der Akteneinsicht bis nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise aufschieben.

bb) Aufgrund der fundamentalen Bedeutung, welche dem Recht auf freie Verteidigung zukommt, können Beschränkungen nur dann zulässig sein, wenn sie verhältnismässig, das heisst zur Erreichung des angestrebten Zwecks notwendig, geeignet und angemessen sind. Hingegen führt das generelle Verbot an die Verteidigung, Akten an den Beschuldigten oder an Dritte weiterzugeben sowie sein Wissen aus den Akten Dritten bekannt zu geben, zu einer Beschränkung der Verteidigungsrechte, die weit über den angestrebten Zweck, die Vermeidung von Kollusion, hinausreicht. In dieser pauschalen Form verletzt ein solches Verbot das konventions- und verfassungsmässige Recht auf freie und effiziente Verteidigung. Verlangt werden müsste auf jeden Fall eine hinreichende Konkretisierung und Begründung. Dabei muss nicht nur konkret begründet werden, welcher Kollusionsgefahr begegnet werden soll, sondern es muss der Verteidigung auch gesagt werden, welche Akten sie aus welchem Grund nicht an den Beschuldigten oder an Dritte weiterleiten darf. Erst damit könnte auch dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen und im Fall einer Widerhandlung eine Bestrafung nach Art. 292 StGB ernsthaft in Erwägung gezogen werden[22]. Die Hürden für das Verbot der Akten- oder Informationsweitergabe an Dritte sind allerdings deutlich tiefer anzusetzen als für ein Verbot gegenüber der beschuldigten Person, dies namentlich dann, wenn sich die beschuldigte Person in Haft befindet und dadurch gewährleistet ist, dass sie nicht kolludieren kann.

4. a) Die Staatsanwaltschaft warf Rechtsanwalt X in der angefochtenen Verfügung noch vor, der Ratschlag an A habe eine Verletzung der Standesregeln dargestellt. Nachdem die Beschwerdeführer diesen Vorwurf vehement bestritten hatten, äusserte sich die Staatsanwaltschaft hiezu in der Beschwerdeduplik nicht mehr. Aufgrund der eingereichten Akten ist einzig erstellt, dass Rechtsanwalt X A am 14. März 2013 auf deren telefonische Nachfrage hin riet, bei der bevorstehenden Einvernahme von ihrem Aussageverweigerungsrecht als Tochter Gebrauch zu machen. Der Hinweis des Verteidigers auf das Zeugnisverweigerungsrecht war zulässig. Davon ging im Übrigen offenbar auch die Staatsanwaltschaft aus; jedenfalls entschädigte sie dieses Telefongespräch vom 14. März 2013 vorbehaltslos.

Ebensowenig belegte die Staatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang die bestrittene Behauptung, auch andere Mitglieder der Familie Y, namentlich A, hätten wegen Betäubungsmittelhandels im Fokus der Strafuntersuchung gestanden. Entsprechende Belastungen lassen sich auch den detaillierten Ausführungen der Staatsanwaltschaft in ihrem Haftverlängerungsgesuch vom 12. September 2013 zum dringenden Tatverdacht von Y, mit Drogen gehandelt zu haben, nicht entnehmen. Sollte tatsächlich eine Kollusionsgefahr bestanden haben, so hätte die Staatsanwaltschaft gegenüber der Verteidigung entsprechende Verbote verfügen müssen. Eine solche Verfügung reichte die Staatsanwaltschaft allerdings nicht ein, weshalb sich der Widerruf der amtlichen Verteidigung mit dem Ratschlag an A nicht rechtfertigen lässt.

b) aa) Als weitere Verfehlung von Rechtsanwalt X machte die Staatsanwaltschaft geltend, die Verteidigung dürfe weder Aktenkopien noch Informationen an Dritte (Familienangehörige des Mandanten) - und zwar auch nicht mit Einwilligung des Beschuldigten - weiterleiten, es sei denn, sie erlaube dies ausdrücklich. Diese Ansicht trifft nicht zu; vielmehr verhält es sich gerade umgekehrt. Die Verteidigung darf mit Einwilligung des Mandanten Aktenkopien und Informationen an Dritte weiterleiten, es sei denn, die Staatsanwaltschaft habe schriftlich ein ausdrückliches Verbot verfügt. Im Zeitpunkt der der Verteidigung angelasteten Pflichtverletzungen bestand allerdings kein solches Verbot.

bb) Sodann führte die Staatsanwaltschaft aus, sie habe Rechtsanwalt X die Weitergabe von Aktenkopien an Familienangehörige von Y untersagt. Anlässlich der telefonischen Besprechung der Honorarnote von Rechtsanwalt X am 26. Juli 2013 habe die Staatsanwaltschaft klar zum Ausdruck gebracht, die Verteidigung habe inskünftig die Weitergabe von Verfahrensakten an Dritte zu unterlassen. Rechtsanwalt X bestritt dies und machte geltend, die Frage der Rechtmässigkeit der Weitergabe von Akten sei anlässlich des Telefongesprächs vom 26. Juli 2013 lediglich angesprochen und die Ausräumung der gegensätzlichen Auffassungen durch weitergehende Abklärungen vereinbart worden.

Gemäss Art. 76 StPO gilt im Strafverfahren die Dokumentationspflicht[23], das heisst, alle prozessual relevanten Vorgänge müssen von der handelnden Behörde in geeigneter Form festgehalten und die entsprechenden Aufzeichnungen in die Strafakten integriert werden[24]. Zwar brauchen einfache verfahrensleitende Beschlüsse und Verfügungen gestützt auf Art. 80 Abs. 3 StPO weder besonders ausgefertigt noch begründet zu werden; sie werden allerdings im Protokoll vermerkt und den Parteien in geeigneter Weise eröffnet. Eine Begründung ist hingegen regelmässig dann erforderlich, wenn solche Entscheide für die Verfahrensbeteiligten unmittelbar nachteilig sein können, mithin in deren Rechtsstellung eingreifen[25]. Wenn nun die Staatsanwaltschaft eine derart weitreichende (mündliche) Anordnung gemacht haben will, welche die Verteidigungsrechte einschränkte, so ist nicht nachvollziehbar, weshalb dies weder protokollarisch festgehalten noch nachträglich (unverzüglich) schriftlich verfügt wurde. Da die Staatsanwaltschaft somit nicht zu beweisen vermag, dass tatsächlich ein (mündlicher) Vorbehalt gegenüber Rechtsanwalt X betreffend die Weitergabe von Aktenkopien an Dritte erfolgte, trägt sie die Folgen der Beweislosigkeit.

cc) Unzutreffend ist weiter die Auffassung der Staatsanwaltschaft, die in einem Haftanordnungs- oder Haftverlängerungsverfahren edierten Akten, wozu auch das Gesuch selbst zähle, stünden immer unter dem Vorbehalt des Verbots der Weitergabe an Dritte. Dies ergebe sich aus der Sache selbst und bedürfe "ganz sicher nicht einer gesonderten Verfügung an den Verteidiger des Beschuldigten". Akten aus dem Haftverfahren könnten sodann nicht als "offengelegt" angesehen werden, weil Sinn und Zweck der Untersuchungshaft damit ausgehebelt würde. Mit dieser Argumentation suggeriert die Staatsanwaltschaft erneut - und insbesondere nicht substantiiert - eine Umkehr von Grundsatz und Ausnahme.

Befürchtet die Staatsanwaltschaft Kollusionshandlungen, kann sie gewisse Informationen nicht preisgeben beziehungsweise Akten im Haftverfahren nicht edieren oder, falls die Nichtpreisgabe den Schutz ihres Gesuchs im Haftverfahren in Frage stellt, entsprechende Reverse beantragen. Einschränkungen haben jedoch auch im Haftverfahren unter Berücksichtigung von Art. 101, Art. 108 und Art. 149 StPO zu erfolgen; der Verteidigung weitergehende Vorschriften zu machen, ist der Staatsanwaltschaft verwehrt.

Was den Vorwurf der Aktenweitergabe betrifft, so widersprach die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdeantwort dem Einwand der Beschwerdeführer nicht, die Verteidigung habe die Beilagen zum Haftverlängerungsgesuch vom 12. September 2013 vom Zwangsmassnahmengericht gar nie erhalten, weshalb sie diese auch nicht an Dritte habe weiterleiten können. Die Staatsanwaltschaft brachte vielmehr vor, der Inhalt der Beilagen sei im Haftverlängerungsgesuch selbst ausführlich dargelegt worden. Ob dies zutrifft, ist jedoch nicht entscheidend; massgebend ist vielmehr ob - wie von der Staatsanwaltschaft in der angefochtenen Verfügung noch behauptet - "Y-Angehörige" Dritten, welche sie bedroht haben sollen, das Befragungsprotokoll von B vom 4. Juni 2013 und einen Bericht der Kantonspolizei Thurgau vom 9. September 2013 gezeigt haben. Dies trifft offenbar nicht zu.

dd) Die Staatsanwaltschaft argumentierte, das Protokoll der Einvernahme von B sei deshalb nicht vorbehaltlos eröffnet worden, weil die Beschwerdeführer "die Eröffnung eben dieser Akten gerichtlich durchgesetzt hätten und die Staatsanwaltschaft nicht anders gekonnt habe, als diese Akten zu eröffnen". Das Obergericht wies zwar im Entscheid vom 13. / 28. Juni 2013 die Staatsanwaltschaft an, Y die Einsicht in die Einvernahmeprotokolle der Mitbeschuldigten C, D, E und F sowie die Teilnahme an deren Einvernahmen zu gewähren. Mit dieser Verpflichtung wurde die Staatsanwaltschaft aber nicht daran gehindert, gegenüber der Verteidigung ein begründetes Verbot der Weiterleitung der Einvernahmeprotokolle an Dritte zu verfügen.

ee) Keinen Vorbehalt kann die Staatsanwaltschaft daraus ableiten, dass Rechtsanwalt X als erfahrener Strafverteidiger zumindest hätte wissen müssen, dass, als Folge der Weiterleitung von Verfahrensakten an die Familie von Y, Personen, die belastende Aussagen gegen Y machen könnten, dazu aus Angst um sich und ihre Familie nicht mehr bereit seien. Hätte die Staatsanwaltschaft dies befürchtet, so hätte sie eben ein entsprechendes Weiterleitungsverbot verfügen müssen. Die Akten wurden Rechtsanwalt X jedoch vorbehaltlos aushändigt; damit durfte er diese als Kopie an Y und seine Familie weiterleiten. Es ist nicht Sache der Verteidigung zu überlegen, welche Folgen die Weiterleitung von Akten an die Familie des Mandanten für andere haben könnte. Die Verteidigung ist vielmehr einseitig den Interessen der eigenen Mandantschaft verpflichtet. Sie ist nicht der Gehilfe der Staatsanwaltschaft, und sie untersteht im Übrigen auch nicht dem Amtsgeheimnis.

ff) Schliesslich vertritt die Staatsanwaltschaft die Auffassung, durch die Weitergabe von Verfahrensakten, die einzig dem Beschuldigten – und erst noch im Haftverlängerungsverfahren – eröffnet worden seien, sei der Straftatbestand von Art. 321 StGB erfüllt. Diese Ansicht ist unzutreffend, denn die Strafnorm schützt einzig den Mandanten (Geheimnisherrn) vor dem Geheimnisverrat durch seinen Anwalt (Geheimnisträger)[26]. Die Weitergabe von Geheimnissen an die Familie von Y erfolgte mit dessen Einwilligung, was nach Art. 321 Ziff. 2 StGB ausdrücklich nicht strafbar ist.

5. Zusammenfassend erfolgte der Widerruf der amtlichen Verteidigung zu Unrecht.

Obergericht, 2. Abteilung, 6. Februar 2014, SW.2013.143


[1] Art. 29 Abs. 3, Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK

[2] Lieber, Ungenügende Verteidigung und die Folgen - Streiflichter zur neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung, in: forumpoenale 2013 S. 51; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N 427; Haefelin, Die amtliche Verteidigung im schweizerischen Strafprozess, Diss. Zürich 2010, S. 117

[3] Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2.A., Art. 134 N 4; Ruckstuhl, Basler Kommentar, Art. 134 StPO N 11

[4] Ruckstuhl, Art. 134 StPO N 12 f.; Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), Zürich/Basel/Genf 2010, Art. 134 N 21 f.; Haefelin, S. 117

[5] Oberholzer, N 429

[6] Wohlers, Bemerkungen zum Zirkulationsbeschluss des Kassationsgerichts Zürich vom 1. Juni 2012, in: forumpoenale 2013 S. 26

[7] Leitfaden Amtliche Mandate der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, 2012, S. 22

[8] Wohlers, S. 27

[9] Oberholzer, N 428; Haefelin, S. 289; Wohlers, S. 26

[10] BGFA, SR 935.61

[11] Fellmann, in: Kommentar zum Anwaltsgesetz (Hrsg.: Fellmann/Zindel), 2.A., Art. 12 BGFA N 36

[12] Oberholzer, N 488; BGE 106 Ia 105; Art. 128 StPO

[13] Haefelin, S. 181

[14] Fellmann, Art. 12 BGFA N 38b f., N 45, N 49b; Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, Zürich/Basel/Genf 2009, N 1513

[15] Ruckstuhl, in: Strafverteidigung, Handbücher für die Anwaltspraxis, Bd. VII (Hrsg.: Niggli/Weissenberger), Zürich 2008, N 3.171; Haefelin, S. 172

[16] Fellmann, Art. 12 BGFA N 45a

[17] Fellmann, Art. 12 BGFA N 46, N 47d; Greter, Die Akteneinsicht im Schweizerischen Strafverfahren, Diss. Zürich 2012, S. 143

[18] Zuberbühler, Geheimhaltungsinteressen und Weisungen der Strafbehörden an die Verfahrensbeteiligten über die Informationsweitergabe im ordentlichen Strafverfahren gegen Erwachsene, Diss. Zürich 2011, S. 119 Rz 219

[19] Zuberbühler, S. 3 N 4

[20] Art. 237 Abs. 2 lit. g StPO

[21] Oberholzer, N 503 f.

[22] SGGVP 2005 Nr. 71 S. 280 f.

[23] Brüschweiler, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), Zürich/Basel/Genf 2010, Art. 76 N 1; der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Teilgehalt den Anspruch auf Akteneinsicht und damit auch eine Aktenführungspflicht.

[24] Näpfli, Basler Kommentar, Art. 76 StPO N 7

[25] Stohner, Basler Kommentar, Art. 80 StPO N 17; Schmid, Art. 80 StPO N 6

[26] Oberholzer, Basler Kommentar, Art. 321 StGB N 1 f. und N 14 f.

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