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RBOG 2014 Nr. 3

Voraussetzungen für die Rückübertragung der Obhut


Art. 307 Abs. 1 ZGB, Art. 310 Abs. 1 ZGB, Art. 310 Abs. 3 ZGB


1. a) Die unverheirateten Eltern von X, geboren am 22. Dezember 2004, trennten sich im Mai 2006. Die Mutter war aufgrund ihrer Alkoholsucht vom 19. bis 23. Oktober 2009 in stationärer Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Vom 23. November 2009 bis 15. Januar 2010 war sie in einer Tagesklinik und vom 3. bis 8. Oktober 2010 wieder zur stationären Behandlung. Nachdem die Mutter einen Rückfall erlitten hatte, unterzeichneten die Eltern am 29. Juni 2011 eine Vereinbarung. Danach habe sich die Mutter in stationäre Therapie zu begeben. Zudem werde X bis auf weiteres beim Vater und dessen neuer Lebenspartnerin leben.

b) Die Vormundschaftsbehörde errichtete für X am 28. Juli 2011 eine umfassende Erziehungsbeistandschaft im Sinn von Art. 308 Abs. 1 bis 3 ZGB. Gleichzeitig nahm sie von der einvernehmlichen Obhutszuteilung an den Vater im zustimmenden Sinn Kenntnis und verfügte, eine Rückkehr zur Mutter bedürfe der behördlichen Genehmigung gemäss Art. 310 ZGB.

c) Mit Entscheid vom 28. April / 2. Mai 2014 wies die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde den Antrag der Mutter auf Rückübertragung der Obhut über X ab und verfügte, X werde gestützt auf Art. 310 Abs. 2 ZGB in der Obhut des Vaters belassen. Den Antrag des Vaters auf Zuteilung des alleinigen Sorgerechts für X wies die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ebenfalls ab. Für den Fall, dass sich die Eltern nicht einigen sollten, regelte sie auch das Besuchs- und Ferienrecht zwischen der Mutter und dem Sohn. Zudem verfügte die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde die Weiterführung der Beistandschaft.

d) Mit Beschwerde vom 4. Juni 2014 beantragte die Mutter, der Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde sei aufzuheben, und die Obhut über X sei ihr zurück zu übertragen. Die Zuteilung der Obhut an sie sei im Sinn von vorsorglichen Massnahmen unverzüglich anzuordnen. Die Regelung des Besuchsrechts sei entsprechend der veränderten Obhut anzupassen.

2. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung soll das Kind während eines hängigen Verfahrens in der Regel in der Obhut der Hauptbetreuungsperson belassen werden; doch kann eine Abweichung von diesem Grundsatz aus Gründen der Gefährdung des Kindeswohls geboten sein[1]. Eine Gefährdung des Kindeswohls von X ist hier nicht ersichtlich, weshalb entgegen dem Antrag der Beschwerdeführerin vorsorgliche Massnahmen im Beschwerdeverfahren nicht in Betracht kamen.

3. Strittig ist einzig, wem die Obhut über X zuzuteilen ist.

a) Die Vorinstanz erwog, aus dem Gutachten werde ersichtlich, dass X zu beiden Elternteilen eine ähnlich gute und emotional tragfähige Beziehung habe. Die Eltern würden im Rahmen ihrer Rollen als verbindlich, verantwortungsvoll, emotional zugewandt und zuverlässig beschrieben. X wohne bereits seit mehr als zwei Jahren beim Beschwerdegegner und dessen Lebenspartnerin. Es entspreche dem Interesse von X, dass er in seiner vertrauten Umgebung, beim Beschwerdegegner sowie bei der Lebenspartnerin und deren Kindern, bleiben könne. Dass X mehrheitlich von der Lebenspartnerin betreut werde und nicht vom Beschwerdegegner, spiele insofern keine Rolle, als die Betreuungssituation als optimal beurteilt werden könne. Die Voraussetzungen für einen Obhutsentzug nach Art. 310 ZGB seien beim Beschwerdegegner nicht gegeben; auch aus dem Gutachten ergäben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür.

b) Die Beschwerdeführerin brachte vor, die Vorinstanz gehe fälschlicherweise davon aus, die Zuteilung der Obhut über X an den Beschwerdegegner sei eine definitive und abgeschlossene Sache gewesen. Die Einigung der Eltern bezüglich der Übertragung der Obhut an den Beschwerdegegner sei jedoch in freier Absprache und vor dem Hintergrund erfolgt, dass der Beschwerdeführerin die Obhut nach ihrer Genesung wieder übertragen werde. Beide Gutachten beantworteten lediglich die Frage, welcher Elternteil für die Betreuung von X geeigneter sei. Die für eine Rückübertragung der Obhut über X an die Beschwerdeführerin entscheidende Frage sei jedoch, ob deren Erziehungsfähigkeit gegeben und die seelische Verbindung zwischen X und seiner Mutter intakt sei. Das kinderpsychologische Gutachten vom 26. November 2012 habe Mängel, da sich die Beschwerdeführerin weder zu den Fragen noch zur Person der Gutachterin habe äussern können. Zudem habe die Beiständin die Gutachterin mit E-Mail vom 20. Dezember 2011 wohl instruiert. Dass dieses Gutachten im angefochtenen Entscheid erwähnt worden sei, zeige, dass es auch entsprechend gewürdigt worden sei. Das familienpsychologische sowie kinder- und jugendpsychiatrische Gutachten von med.pract. A und Dr.med. B vom 22. November 2013 sei ergebnisorientiert abgefasst. Auch in diesem Gutachten finde sich kein Hinweis auf die E-Mail vom 20. Dezember 2011 von Dr.med. C. Die Gutachter hätten sich auf Dokumente abgestützt, die ihr avisiertes Ergebnis vom "Vorgutachten" hätten untermauern sollen. Auf Vorbringen der Beschwerdeführerin, wie sich X beim Obhutswechsel wirklich gefühlt habe, seien sie nicht eingegangen. Beide Gutachten attestierten der Beschwerdeführerin, dass sie ihrer Verantwortung als Mutter nachkommen könne. Die Erziehungsfähigkeit der Elternteile werde sogar gleichgestellt, wobei X nicht vom Beschwerdegegner, sondern von dessen Lebenspartnerin betreut werde.

Die Behauptung, X habe sich beim Beschwerdegegner sehr wohl gefühlt, sei ebenfalls falsch. Dass sich X beim Beschwerdegegner nicht wohl gefühlt habe, beweise die E-Mail vom 20. Dezember 2011, worin Dr.med. C der Beiständin mitgeteilt habe, sie sei anlässlich der Verlaufskontrolle ziemlich erschrocken, wie X ausgesehen und sich verhalten habe. Auch in den direkten Gesprächen habe X erklärt, es gefalle ihm beim Beschwerdegegner und seiner Lebensgefährtin nicht sonderlich, und dass er unter dem Wechsel zum Beschwerdegegner stark gelitten habe. Obwohl X auch klar und deutlich gesagt habe, er wolle bei der Beschwerdeführerin leben, spreche der Gutachter ihm die Fähigkeit ab, zwischen seinen Eltern zu entscheiden. Korrekterweise müsste X dazu aber befragt werden. Die bei X im Dezember 2011 festgestellten Veränderungen gemäss der E-Mail vom 20. Dezember 2011 und seine Antworten in der direkten Befragung würden zudem verdeutlichen, dass er den innigen Wunsch habe, wieder bei der Beschwerdeführerin zu wohnen.

Der Beschwerdegegner sei im Aussendienst tätig und zeitlich gar nicht in der Lage, X persönlich zu betreuen. Eines der Kriterien für die Zuteilung sei jedoch die persönliche Betreuung, die beim Beschwerdegegner nicht in gleichem Mass wie bei der Beschwerdeführerin gegeben sei. X wachse bei einer fremden Frau und deren Kindern auf, die weder mit X noch mit dem Beschwerdegegner verwandt seien. Die Vorinstanz habe nicht berücksichtigt, dass bei jungen Kindern die Vergangenheit nicht gleich gewichtet werde, wie bei einem deutlich älteren Kind, und dass es die Beschwerdeführerin gewesen sei, die X während neun Monaten in sich habe heranwachsen spüren und ihn bis im Juni 2011 allein betreut habe. Der Beschwerdegegner habe dagegen an seiner beruflichen Karriere gearbeitet und sich für familiäre Belange keine Zeit genommen. Heute verhalte es sich nicht anders. Er lebe in einer offenen Beziehung und mache keinerlei Anstalten, sich persönlich und direkt um seinen Sohn zu kümmern.

c) Der Beschwerdegegner hielt entgegen, die Beschwerdeführerin leide unter einer akuten Alkoholabhängigkeit. Sie behaupte zwar, heute abstinent zu leben; ob und gegebenenfalls wie lange sie diesen Zustand aufrechterhalten könne, sei jedoch ungewiss. Dies stelle ein Risiko für X dar, das - soweit möglich - minimiert werden müsse. Ob sich ein Rückfall ereignen werde, sei ungewiss; sicher sei jedoch, dass ein Rückfall in einem Zeitpunkt, in welchem X sich unter der Obhut der Beschwerdeführerin befinde, ihm schaden würde. In der Obhut des Beschwerdegegners wachse X in einer geordneten Familie auf, und er sei keinem Risiko ausgesetzt. Zudem hätte X die Möglichkeit, zur Beschwerdeführerin eine unbeschwerte Beziehung pflegen zu können. Das Kindeswohl sei - wenn Eltern getrennt lebten - zwar beeinträchtigt; allerdings könne die Beeinträchtigung hier auf ein erträgliches Mass reduziert werden, wenn der Beschwerdegegner die Obhut behalte und ihm dazu das alleinige elterliche Sorgerecht zugesprochen werde. Nicht nachvollziehbar sei, warum eine Ersatzmutter in geordneten Verhältnissen X weniger gut betreuen können solle, als die Beschwerdeführerin. Der Beschwerdegegner habe nach der Übernahme der Obhut seine Stelle gewechselt und reise heute praktisch nicht mehr. Er arbeite zwei bis drei Tage pro Woche zu Hause und sehe seinen Sohn mehr als die meisten anderen Väter.

4. a) Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes[2]. Kann der Gefährdung des Kindes nicht anders begegnet werden, so hat die Kindesschutzbehörde es den Eltern oder, wenn es sich bei Dritten befindet, diesen wegzunehmen und in angemessener Weise unterzubringen[3]. Hat ein Kind längere Zeit bei Pflegeeltern gelebt, so kann die Kindesschutzbehörde den Eltern seine Rücknahme untersagen, wenn diese die Entwicklung des Kindes ernstlich zu gefährden droht[4].

b) Für die Rückübertragung des Obhutsrechts im Sinn von Art. 310 Abs. 3 ZGB gelten nicht die gleichen Kriterien wie für den Obhutsentzug gemäss Art. 310 Abs. 1 ZGB[5]. Art. 310 Abs. 3 ZGB will verhindern, dass ein Kind, welches gestützt auf Art. 310 Abs. 1 ZGB oder vom Inhaber der elterlichen Sorge freiwillig bei Dritten in Pflege gegeben worden ist, dort längere Zeit gelebt hat und am Pflegeort stark verwurzelt ist, vom Pflegeplatz unversehens weggenommen wird, so dass seine weitere seelisch-geistige und körperliche Entwicklung ernsthaft gefährdet wird. Eltern, die sich trotz einer Fremdplatzierung um den Aufbau und die Pflege einer persönlichen Beziehung zu ihrem Kind bemüht haben, brauchen indessen nicht zu befürchten, dass Art. 310 Abs. 3 ZGB mit Erfolg gegen ihre ernsthafte Absicht, das Kind eines Tages wieder selbst zu betreuen und zu erziehen, angerufen werden könnte. Ausschlaggebend für die Frage der Rücknahme des Kindes durch die Mutter kann nur das Wohl des Kindes sein. Entscheidend ist dabei, ob die seelische Verbindung zwischen Kind und Mutter intakt ist, und ob deren Erziehungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein eine Übertragung der Obhut an die Mutter unter Beachtung des Kindeswohls zu rechtfertigen vermögen[6].

Im Zusammenhang mit der Rückplatzierung ist zwar zu berücksichtigen, dass beim Obhutsentzug dem Verhältnismässigkeitsprinzip eine zentrale Rolle zukommt und dieses verletzt ist, wenn Massnahmen länger als notwendig aufrechterhalten bleiben. Indes ist zu bedenken, dass es bei langdauernden Pflegeverhältnissen zu einer Verwurzelung mit sozialpsychischer Elternstellung der Pflegeeltern kommen kann; jedenfalls sind stete Umplatzierungen zu vermeiden und vielmehr kontinuierliche Verhältnisse anzustreben. Zur Beurteilung des Rücknahmeverbots spielt neben der Beziehung zu den Pflegeeltern und der dortigen Umgebung insbesondere auch das Alter des Kindes, die Länge des Aufenthalts sowie die Qualität der Beziehung zu den leiblichen Eltern eine Rolle. Von Bedeutung sind ausserdem die Eignung der gegenwärtigen Platzierung sowie die Beurteilung der Verhältnisse auf Seiten der leiblichen Eltern. Das konkrete Interesse des Kindes an kontinuierlichen, stabilen Beziehungen ist gegen den Anspruch der Eltern auf persönliche Betreuung des Kindes abzuwägen, wobei mit der herrschenden Lehre von einer grundsätzlich erhöhten Bedeutung des Kindesinteresses auszugehen ist. Der Anspruch der leiblichen Eltern kann sich denn überhaupt nur durchsetzen, wenn er auch mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Die Priorität des Kindeswohls spielt - wie generell im Kindesschutz - auch, wenn die Eltern kein Vorwurf trifft. Bei der Beurteilung steht dem Gericht typischerweise ein Ermessen im Sinn von Art. 4 ZGB zu[7].

c) Das Gericht darf in Fachfragen nicht grundlos von Gutachten abweichen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Gerichte die Ergebnisse eines Gutachtens unkritisch übernehmen dürften; vielmehr würdigt das Gericht ein Gutachten grundsätzlich frei und muss Abweichungen begründen[8].

d) aa) Richtigerweise geht es hier nicht um die Frage der Obhutszuteilung beziehungsweise welcher Elternteil besser geeignet wäre, die Obhut auszuüben, sondern darum, ob die Voraussetzungen für die Rückübertragung der Obhut an die Beschwerdeführerin als Inhaberin des Sorgerechts gegeben sind.

bb) Hier führte der Umstand, dass die Beschwerdeführerin alkoholabhängig war, zum Obhutswechsel. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Beschwerdeführerin heute tatsächlich abstinent lebt und die Probleme, die zum Obhutswechsel geführt haben, behoben sind. Ebenfalls zu klären ist, ob der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin und jener von X sowie die Mutter-Kind-Beziehung eine Rückübertragung der Obhut rechtfertigen.

cc) aaa) Unbestritten ist, dass eine intakte Mutter-Kind-Beziehung besteht. Auch die Gutachter bestätigen, dass innerhalb der Begutachtung eine allgemeine Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin erkannt worden sei. Die Beschwerdeführerin habe bis Anfang/Mitte des Jahres 2008 im Rahmen ihrer Kompetenzen einen für X förderlichen Entwicklungsrahmen bieten können. Mit Eintritt in die Phase der Vernachlässigung durch die Alkoholerkrankung habe X jedoch eine schwere Entwicklungsstörung erlebt, die zur Notwendigkeit eines besonders feinfühligen Umgangs mit ihm, eines stark strukturierten Alltagsablaufs, einer intensiven schulischen Förderung und einer allgemeinen Lebensstabilität geführt habe. Aktuell habe die Beschwerdeführerin nicht überzeugend dargelegt, dass sie nun diese besonderen Bedürfnisse von X - sollte die Obhut bei ihr sein - auch im Alltag bedienen könnte. Für diese Beurteilung spricht beispielsweise auch die gutachterliche Beobachtung, gemäss welcher die Beschwerdeführerin mit X Probleme diskutierte, die auf die Erwachsenenebene gehörten. Dies habe zu einer vermeidbaren Belastung von X geführt.

bbb) Die Beschwerdeführerin behauptete, ihr Gesundheitszustand lasse eine Rückübertragung zu; sie lebe seit fast zwei Jahren abstinent, was erstellt und bescheinigt sei. Der Beschwerdegegner stellte dies jedoch in Frage, insbesondere unter dem Aspekt eines möglichen Rückfalls.

Das familienpsychologische sowie kinder- und jugendpsychiatrische Gutachten von med.pract. A und Dr.med. B vom 22. November 2013 hielt fest, aktuell könnten der Beschwerdeführerin zwar eine ausreichende Stabilität bezogen auf ihre Alkoholabhängigkeit und ausreichend gute Kompetenzen bezogen auf ihre Erziehungsfähigkeit attestiert werden. Allerdings bestehe in Zukunft das Risiko eines Rückfalls bezogen auf die Alkoholabhängigkeit. Dr.med. D bestätigte am 8. März 2013 zudem, dass die Beschwerdeführerin seit ihrem Klinikaustritt nach wie vor in seiner ambulanten psychiatrischen Behandlung sei. Gemäss seinem Bericht vom 28. Februar 2012 befand sich die Beschwerdeführerin bereits seit November 2008 in seiner ambulanten Betreuung, während welcher sie verschiedentlich habe hospitalisiert werden müssen. Weitere ärztliche Berichte, welche die Alkoholabstinenz der Beschwerdeführerin bestätigten, liegen nicht vor und wurden von der Beschwerdeführerin auch nicht eingereicht.

Die ehemalige Suchtberaterin der Beschwerdeführerin äusserte am 12. September 2013 in einem Telefongespräch mit den Gutachtern, aufgrund des nur lockeren Kontakts seit Sommer 2012 könne sie nicht sicher sagen, ob die Beschwerdeführerin einen Rückfall erlitten habe. Die Partnerschaft zu ihrem aktuellen Lebensgefährten habe sie stabilisiert; sollte die Beziehung aber auseinander gehen, sei von einem erhöhten Rückfallrisiko auszugehen. Dr.med. D bestätigte am 23. September 2013 gegenüber den Gutachtern, der letzte Kontakt mit der Beschwerdeführerin habe im April 2013 stattgefunden, und bis zu diesem Zeitpunkt seien ihm keine Alkoholrückfälle bekannt geworden. Er habe die Beschwerdeführerin innerhalb der Behandlungszeit als immer stabiler werdend wahrgenommen. Solange die Beschwerdeführerin abstinent sei, ergäben sich aus seiner Sicht keine Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit. Andererseits seien mögliche Alkoholrückfälle mit Wiederaufnahme des regelmässigen Trinkens für die Erziehungsfähigkeit als "katastrophal" zu bezeichnen. Wichtiger Faktor zur Stabilisierung der Beschwerdeführerin sei ihre stabile Partnerschaft, die sie bereits seit längerem aufrechterhalten könne. Zudem wäre eine dauerhafte Anstellung für ihr Selbstempfinden und ihre Stabilität sehr wichtig.

ccc) Bezüglich des Gesundheitszustands von X kann den Akten entnommen werden, dass er beim Obhutswechsel massive Defizite aufwies. Gemäss dem Bericht des Zentrums für Kind, Jugend und Familie vom 13. September 2012 habe X ein depressiv-ängstliches-affektisches Misstrauen gegenüber Erwachsenen und fluktuierende Schlaf- und Einschlafstörungen aufgewiesen. X sei ein psychisch stark vernachlässigtes Kind, das grosse Mühe habe, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und angemessen zu verstehen und zu äussern. Lic.phil. E berichtete am 26. November 2012 zudem, das gegenwärtige psychische Zustandsbild von X lasse auf traumatisierende Ereignisse in seiner früheren Kindheit schliessen.

Offensichtlich konnte X seit dem Obhutswechsel jedoch Fortschritte machen. Im familienpsychologischen sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachten von med.pract. A und Dr.med. B vom 22. November 2013 wird festgehalten, dass sich X zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung in allen Teilbereichen mit einer deutlich abgemilderten Entwicklungsstörung, bis hin zur teilweise vollständigen Aufholung der Defizite, präsentiert habe. Vollständig oder nahezu vollständig aufgeholt habe er in den Bereichen der sozialen Interaktionen und den alltagspraktischen Fähigkeiten. Andererseits wirkte X innerhalb der Kontakte durch den Gutachter in seiner Introspektionsfähigkeit (bezogen auf innere Zustände und Gefühlslagen) und seiner Möglichkeit, sich entsprechend mitzuteilen, im Altersvergleich stark eingeschränkt. Betreffend eine allfällige Rückübertragung der Obhut auf die Beschwerdeführerin hielten die Gutachter fest, da in Zukunft das Risiko eines Rückfalls bezogen auf die Alkoholabhängigkeit bestehe, könnte ein solcher zwar nicht mit einer erneuten dauerhaften Vernachlässigung von X gleichgesetzt werden, aber eine dadurch eventuell notwendige erneute Veränderung der Versorgungslage wäre ein grosses Risiko für die Fortsetzung der positiven Entwicklung von X. Die Gutachter empfahlen deshalb auch, sollte die Beschwerdeführerin die Obhut über X zurückerhalten, neben der Aufrechterhaltung der Beistandschaft eine intensive therapeutische Begleitung der Beschwerdeführerin und von X. Hierbei würde über mehrere Monate unterstützend auf das neue Familiensystem eingewirkt, und es könnte abgesichert werden, dass die Beschwerdeführerin den besonderen Bedürfnissen von X im Alltag auch gerecht werden würde. Durch eine solche therapeutische Absicherung könnte auch das Risiko reduziert werden, dass die Beschwerdeführerin durch die zusätzlichen Belastungen mit Erziehungsaufgaben während des Alltags destabilisiert werden würde.

ddd) Aktenwidrig ist, dass sich X beim Beschwerdegegner nicht wohl fühlen soll. Gegenüber dem Gutachter gab X klar zu verstehen, er habe keine Präferenzen gegenüber einem Elternteil. Zudem beobachteten die Gutachter eine tragfähige Beziehung zwischen dem Beschwerdegegner und X. Es trifft zwar zu, dass Dr.med. C in ihrer E-Mail vom 20. Dezember 2011 an die Beiständin erwähnte, sie sei bei der letzten Verlaufskontrolle ziemlich erschrocken, wie X ausgesehen habe und sein Verhalten gewesen sei. Sie hielt indessen auch fest, dass X jeweils mittwochs und jedes zweite Wochenende bei der Beschwerdeführerin sei und X damit nicht gut zurechtkäme. Die Abmachungen würden nicht eingehalten, vor allem seit dem letzten Mal, und abends, wenn er zum Beschwerdegegner zurückkehre, sei er immer verändert, könne nicht einschlafen, stehe nachts mehrmals auf und sei morgens nicht ausgeschlafen.

Dass der Allgemeinzustand von X damals schlechter war, hing somit offensichtlich mit der Neuregelung des Besuchsrechts zusammen und verdeutlicht die schwierige Situation von X zwischen seinen Eltern. Sein Zustand hat sich seither wieder normalisiert, so dass er Fortschritte machen konnte.

eee) Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin hat X zudem nicht klar und deutlich geäussert, er wolle bei der Beschwerdeführerin leben. Vielmehr nahm er einen neutralen Standpunkt ein und äusserte seine Zugewandtheit zu beiden Elternteilen, die absolut gleich sei, so dass er keine Präferenzen nennen könne. Bereits anlässlich der Anhörung durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde vom 5. Februar 2013 meinte X, er könne nicht sagen, ob er lieber bei der Beschwerdeführerin oder beim Beschwerdegegner leben wolle. Er wünsche jedoch, bei ungefähr gleich verteilter Betreuungszeit durch seine Eltern, seinen Lebensmittelpunkt bei seiner Mutter haben zu dürfen. Die Gutachter hielten zu dieser Aussage fest, X habe ausdrücklich erwähnt, dass er es für "natürlich" halte, wenn ein Kind bei seiner Mutter aufwachse, und er habe keine anderen Gründe genannt, die für einen Obhutswechsel sprechen würden. Die Gutachter bezeichneten eine solche Formulierung als nicht kindgerecht, sondern als wahrscheinlich von Erwachsenen eingebrachte Formulierung und Denkweise, welche X verbal übernommen habe.

fff) Unzutreffend ist auch die Argumentation der Beschwerdeführerin, der Beschwerdegegner betreue X nicht persönlich. X wird zwar mehrheitlich von der Lebenspartnerin des Beschwerdegegners betreut, wie dies bereits in den letzten drei Jahren der Fall gewesen ist. Käme er allerdings in die Obhut der Beschwerdeführerin, so könnte diese aufgrund ihres Arbeitspensums ebenfalls nicht rund um die Uhr für X da sein und diesen persönlich betreuen. Offen gelassen werden kann daher auch, ob es zutrifft, dass der Beschwerdegegner nun öfters auch von zu Hause aus arbeiten kann.

ggg) Bereits die Vorinstanz hielt fest, dass das kinderpsychologische Gutachten von lic.phil. E vom 26. November 2012 nicht als Gutachten im rechtlichen Sinn gilt. Trotzdem kann dieser ärztliche Bericht - zusammen mit den übrigen Akten - als ergänzendes Beweismittel gewürdigt werden, wobei diesem aufgrund der formellen Mängel freilich nicht der gleiche Stellenwert zukommt, wie einem Gutachten im rechtlichen Sinn. Der Vorwurf, die Beiständin habe lic.phil. E instruiert, womit die Unbefangenheit der Sachverständigen in Frage gestellt werden würde, findet in den Akten schliesslich keine Stütze.

dd) Insgesamt ist festzustellen, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit verschiedene Rückfälle erlitt, womit das Risiko für erneute Rückfälle nicht ausgeschlossen werden kann. Auch Dr.med. C schloss einen Rückfall nicht aus und bestätigte, dass ein solcher für X nicht zu verantworten wäre. Das nach wie vor bestehende Risiko eines Rückfalls der Beschwerdeführerin und die damit verbundenen und zu erwartenden Auswirkungen auf X stehen einer Rückplatzierung beziehungsweise den Interessen der Kontinuität entgegen. Die Gründe, die zum Obhutswechsel führten, sind nicht restlos behoben, solange das Risiko eines Rückfalls besteht. Im Hinblick auf den Gesundheitszustand von X sind wiederholte Umplatzierungen jedoch zu vermeiden. Hier behauptete die Beschwerdeführerin nicht einmal, eine Antabus-Therapie absolviert zu haben, noch reichte sie andere Belege ein, die ihre Alkoholabstinenz belegten. Dabei könnte die Beschwerdeführerin beispielsweise mit einer regelmässigen Haaranalyse, wie sie für die Wiedererlangung des Führerausweises verlangt wird[9], ihre Abstinenz und das damit verbundene Verantwortungsbewusstsein gegenüber X nachweisen. Unklar ist im Übrigen auch, ob die Beschwerdeführerin heute immer noch ärztlich betreut wird oder nicht. X, der nun bereits drei Jahre beim Beschwerdegegner, seiner Lebenspartnerin und deren Kindern lebt, hat seither grosse Fortschritte gemacht. Er fühlt sich in diesem Umfeld wohl und kann trotzdem seine Beziehung zur Beschwerdeführerin in genügendem Mass pflegen. Unter dem Aspekt des Kindeswohls wies die Vorinstanz den Antrag auf Rückübertragung der Obhut über X an die Beschwerdeführerin daher zu Recht ab.

Obergericht, 1. Abteilung, 23. Juli 2014, KES.2014.46

Das Bundesgericht wies am 8. Januar 2015 eine dagegen gerichtete Beschwerde ab (5A_736/2014).


[1] BGE vom 29. Oktober 2012, 5A_620/2012, Erw. 2.1.2

[2] Art. 307 Abs. 1 ZGB

[3] Art. 310 Abs. 1 ZGB

[4] Art. 310 Abs. 3 ZGB

[5] BGE vom 6. August 2013, 5A_473/2013, Erw. 6; BGE vom 10. Mai 2010, 5A_196/2010, Erw. 6.1; BGE vom 15. April 2002, 5P.116/2002, Erw. 4.3

[6] BGE vom 3. April 2007, 5C_28/2007, Erw. 2.2; BGE 111 II 126

[7] BGE vom 6. August 2013, 5A_473/2013, Erw. 6; Biderbost, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht (Hrsg.: Breitschmid/Rumo-Jungo), 2.A., Art. 310 ZGB N 17

[8] BGE 128 I 86

[9] Vgl. beispielsweise BGE 140 II 334. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Verantwortung eines Fahrzeugführers im Strassenverkehr grösser sein soll, als die Verantwortung eines Obhutsberechtigten für die Erziehung und Betreuung eines bereits traumatisierten Kindes; jedenfalls dürfen im Zusammenhang mit Alkoholproblemen für die Voraussetzungen zur Rückübertragung der Obhut ähnliche Anforderungen gestellt werden, wie bei einem Fahrzeugführer.

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