RBOG 2015 Nr. 18
Beweismass bei weit zurückliegenden Taten
1. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Berufungsbeklagten vor, er habe sich in den Jahren von 1994 bis 1998 der mehrfachen sexuellen Nötigung gemäss Art. 189 Abs. 1 StGB, der versuchten sexuellen Nötigung gemäss Art. 189 Abs. 1 StGB i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB und der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB zum Nachteil seines Halbbruders schuldig gemacht.
2. a) Soweit die Staatsanwaltschaft ausführt, bei weit zurückliegenden Straftaten könne aufgrund der gesetzlich verankerten Unverjährbarkeit[1] kein gleich strenger Massstab an die Beweisdichte gelegt werden, wie bei einem erst kürzlich begangenen Delikt, verkennt sie die Bedeutung der Unverjährbarkeit. Die Unverjährbarkeit eines Delikts hat mit der Frage des Beweises nur insofern einen Zusammenhang, als selbstverständlich ist, dass die Möglichkeit einer zur Verurteilung ausreichenden Beweisführung mit zunehmendem Zeitablauf erschwert werden kann, denn in vielen Fällen stehen nach dem Verstreichen längerer Zeitspannen Beweismittel nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr in zuverlässiger Art und Weise zur Verfügung: Die Erinnerungen von Beschuldigten, Zeugen und Auskunftspersonen können verblassen, und auch objektive Beweismittel können aus verschiedensten Gründen wegfallen. Zwar trifft zu, dass eine längere Zeit zurückliegende Tat keineswegs in jedem Fall zu Beweisschwierigkeiten führen muss, zumal Geständnisse auch noch nach vielen Jahren abgelegt werden und objektive Beweismittel über Jahrzehnte erhalten bleiben können. Ebenso ist es durchaus möglich, dass sich Zeugen an besonders einprägsame Ereignisse auch nach langer Zeit noch erinnern können. Gerade bei Sexualdelikten ist immerhin klar, dass sich regelmässig Beweisprobleme stellen, denn das Opfer ist alsdann vielfach auch der einzige Zeuge; sexueller Missbrauch hinterlässt in der Regel zudem nicht notwendig körperliche Spuren[2]. Es war stets bekannt, dass die Unverjährbarkeit unerwartete oder gar kontraproduktive Auswirkungen haben kann, zumal die genaue Abklärung des Sachverhalts mit der Zeit immer schwieriger wird. Art. 101 Abs. 1 lit. e StGB ist denn auch nicht als Beweisregel konzipiert: Es war immer klar, dass das Verblassen von Beweisen und Erinnerungen in Verbindung mit der Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" sehr häufig Freisprüche zur Folge haben wird[3].
b) Die Unverjährbarkeit eines Delikts hat keinen Einfluss auf das Beweismass oder die Beweisdichte; die Beweiswürdigung bleibt dieselbe, und es gibt keine Abstriche bei der richterlichen Überzeugung. Freie Beweiswürdigung bedeutet, dass es für die Beantwortung der Schuldfrage allein darauf ankommt, ob der Richter die Überzeugung von einem gewissen Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diese persönliche Gewissheit ist für die Verurteilung notwendig[4]. Kein Angeklagter darf daher verurteilt werden, wenn Umstände vorliegen oder als nicht widerlegbar zu seinen Gunsten angenommen werden müssen, die aus rationalen Gründen nicht den Schluss gestatten, dass die Übereinstimmung von Zeugenaussage und tatsächlichem Geschehen in hohem Mass wahrscheinlich ist[5].
Obergericht, 1. Abteilung, 21. September 2015, SBR.2015.13
[1] Art. 101 Abs. 1 lit. e StGB
[2] Hörnle/Klingbeil/Rothbart, Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Notwendige Reformen im Strafgesetzbuch, Gutachten für den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, S. 15 und 55, vgl. http://hoernle.rewi.hu-berlin.de/Gutachten_Strafrecht-2.pdf
[3] Botschaft zur Volksinitiative "für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern" und zum Bundesgesetz über die Verfolgungsverjährung bei Straftaten an Kindern vom 27. Juni 2007, in: BBl 2007 S. 5382 f.
[4] Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3.A., N 562; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N 684
[5] Bender/Nack/Treuer, N 574