RBOG 2015 Nr. 3
Obhut nach neuem Recht
Art. 298 Abs. 2 ZGB, Art. 301 a Abs. 1 ZGB, Art. 301 a Abs. 2 ZGB
1. Die Obhut umfasst nach dem neuen Recht nicht mehr das Aufenthaltsbestimmungsrecht, sondern nur noch die Befugnis, mit dem minderjährigen Kind in häuslicher Gemeinschaft zu leben und für seine tägliche Betreuung und Erziehung zu sorgen. Mit der Obhut ist damit die Frage der Betreuung des Kindes im Alltag verbunden[1]. Die Wahrnehmung der Obhut erfordert weiterhin erzieherische Fähigkeit, die allerdings – ähnlich der Urteilsfähigkeit – grundsätzlich vorauszusetzen ist[2]. Ist diese bei beiden Elternteilen gegeben, sind vor allem Kleinkinder und grundschulpflichtige Kinder demjenigen Elternteil zuzuteilen, der die Möglichkeit hat und dazu bereit ist, sie persönlich zu betreuen. Erfüllen beide Elternteile diese Voraussetzung ungefähr in gleicher Weise, kann die Stabilität der örtlichen und familiären Verhältnisse ausschlaggebend sein. Unter Umständen kann die Möglichkeit der persönlichen Betreuung auch dahinter zurücktreten. Schliesslich ist – je nach Alter der Kinder – ihrem eindeutigen Wunsch Rechnung zu tragen. Diesen Kriterien lassen sich die weiteren Gesichtspunkte zuordnen, namentlich die Bereitschaft eines Elternteils, mit dem anderen in Kinderbelangen zusammenzuarbeiten, oder die Forderung, eine Zuteilung der Obhut müsse von einer persönlichen Bindung und echter Zuneigung getragen sein. Auch im Eheschutzverfahren gelten für die Zuteilung der Obhut an einen Elternteil grundsätzlich die gleichen Kriterien wie im Scheidungsfall[3].
2. a) Eine alternierende Obhut liegt vor, wenn die Eltern die elterliche Sorge gemeinsam ausüben und die Kinderbetreuung zu mehr oder weniger gleichen Teilen übernehmen, wobei die Betreuungszeiten in Tagen, Wochen oder Monaten bestimmt werden können. Die gemeinsame elterliche Sorge zieht nicht unbedingt eine alternierende Obhut nach sich. Eine alternierende Obhut kann zwar von den Eltern oder vom Kind gewünscht werden, aber nicht mit dessen Wohl vereinbar sein, beispielsweise weil es keine Beziehung zu einem der Eltern hat, weil es krank ist, oder weil die alternierende Obhut wegen der sehr konfliktreichen Beziehung zwischen den nicht kooperationsfähigen Eltern psychisch belastend wäre[4]. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts wird die alternierende Obhut nur dann gebilligt, wenn diese einerseits mit dem Kindeswohl vereinbar ist und andererseits beide Elternteile damit einverstanden sind. Dabei stützte sich das Bundesgericht auf Art. 133 aZGB, welche Bestimmung eine analoge Lösung für die Sorgerechtserteilung vorgesehen hatte[5]. Seit Einführung der gemeinsamen elterlichen Sorge unabhängig vom Einverständnis beider Elternteile und als Regelfall[6] ist eine Überprüfung dieser Rechtsprechung zur alternierenden Obhut wahrscheinlich[7]. Die durch die Obhut gewährleisteten Rechte werden vom Schutzbereich des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens[8] erfasst und sind somit grundrechtlich geschützt. Ein Entzug oder eine Einschränkung dieser Rechte, namentlich des Rechts, mit dem Kind in häuslicher Gemeinschaft zu leben und die Betreuung seines Kindes mitbestimmen zu können, sind Grundrechtseingriffe, die im konkreten Einzelfall den Anforderungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK beziehungsweise Art. 36 BV gerecht werden müssen. Im Licht von Art. 8 Abs. 3 BV bedeutet dies in Bezug auf die Kinderbetreuung, dass grundsätzlich von einer alternierenden Obhut auszugehen ist und sich das Betreuungsrecht an der alternierenden Obhut als Leitprinzip orientieren muss[9].
b) Es trifft zu, dass eine alternierende Obhut im Einzelfall dem Wohl des Kindes abträglich sein kann, mit der Folge, dass eine andere Betreuungsform zu wählen ist. In diesem Fall dürften (auch) genügend Gründe vorliegen, die eine Einschränkung des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens rechtfertigen. Die Feststellung, was dem Kindeswohl entspricht, und eine Abwägung sämtlicher sich gegenüberstehenden Interessen sind in jedem konkreten Einzelfall erforderlich[10]. Die jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichts liess offen, ob allein das Fehlen der Zustimmung eines Elternteils ausreicht, um eine alternierende Obhut auszuschliessen. Das Veto eines Elternteils bildet jedenfalls Teil der wesentlichen Umstände, die zu berücksichtigen sind, und ist ein Indiz dafür, dass die Eltern Schwierigkeiten haben, sich über die wichtigen Fragen betreffend ihr Kind zu verständigen[11]. Allerdings braucht eine alternierende Obhut nicht zwingend das Einverständnis beider Elternteile. Sie kann auch dann angeordnet werden, wenn sie nur ein Elternteil beantragt. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen Vater und Mutter bereits während des Zusammenlebens beide an der Pflege und Erziehung des Kindes beteiligt waren oder während des Getrenntlebens vor der Scheidung das Kind bereits alternierend betreuten. Die Frage der Obhut wird unabhängig von den Wünschen der Eltern und vom Vorliegen einer Vereinbarung zwischen ihnen jeweils im Einzelfall, immer zum Wohl des Kindes, geklärt werden müssen[12]. Die alternierende Obhut mit paritätischer Regelung der Betreuungsanteile kann in vielen Fällen dem Kindeswohl entsprechen, stellt aber hohe Anforderungen an Eltern und Kinder. Sie ist namentlich dann nicht geeignet, wenn das Kind dadurch kontinuierlich dem Konflikt der Eltern ausgesetzt ist, fortdauernden Kontakt zu einem dysfunktionalen oder gewalttätigen Elternteil hat, oder wenn die ständigen Wechsel für das Kind zu belastend sind. Die psychologische Forderung macht deutlich, dass die alternierende Obhut auf Anordnung einer Behörde, ohne grundsätzliche Bereitschaft beider Eltern, sich für das Gelingen einzusetzen, wenig Erfolgschancen hat. Risikofaktoren für das Scheitern dieses Modells sind namentlich, dass das Arrangement von den Eltern nicht selbst gewählt wurde, und dass der Wille fehlt, ein für beide Parteien faires, gerechtes und gleichberechtigtes Arrangement zu erreichen und dabei die Interessen des Kindes im Auge zu behalten[13].
3. Das neue Recht stellt klar, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht untrennbar mit der elterlichen Sorge verbunden ist[14]. Eine Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts (bisher rechtliche Obhut) bei gemeinsamer elterlicher Sorge an einen Elternteil ist damit nicht mehr möglich. Zulässig ist nur noch die Zuweisung der Obhut, welche neu die Befugnis umfasst, mit dem minderjährigen Kind in häuslicher Gemeinschaft zu leben, und für die tägliche Betreuung und Erziehung zu sorgen (bisher faktische Obhut). Dabei wird der Grundsatz der gemeinsamen Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts so konkretisiert, dass in zwei Situationen bei Umzug des obhutsberechtigten Elternteils die Zustimmung des anderen Elternteils notwendig ist: Wenn der neue Aufenthaltsort im Ausland liegt oder der Wechsel des Aufenthaltsorts (im Inland) erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den anderen Elternteil hat[15]. Bei der alternierenden Obhut kann der Umzug jedes Elternteils zustimmungsbedürftig sein; das Kriterium ist hier, ob er mit dem Wechsel des Aufenthalts des Kindes verbunden ist[16].
4. Die Obhutszuteilung ist entscheidend für die Begriffe, die für die Regelung des konkreten Betreuungsarrangements verwendet werden: Bei alleiniger Obhut ist der persönliche Verkehr, bei alternierender Obhut sind die Betreuungsanteile zu regeln. Die Regelung des persönlichen Verkehrs richtet sich nach Art. 273 ff. ZGB. Der Begriff der Betreuungsanteile ist erst im Zug der parlamentarischen Beratungen in den Gesetzestext eingefügt worden, um der alternierenden Obhut Rechnung zu tragen; eine weitergehende Normierung ihrer Ausgestaltung ist unterblieben. Die Normen über die Regelung des persönlichen Verkehrs müssen deshalb analog herangezogen werden[17].
Obergericht, 1. Abteilung, 11. Februar 2015, ZBR.2014.71
[1] Schwenzer/Cottier, Basler Kommentar, Art. 298 ZGB N 4
[2] Breitschmid, Basler Kommentar, Art. 133 ZGB N 15
[3] BGE vom 1. Oktober 2012, 5A_183/2012, Erw. 2.1
[4] Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Kindesunterhalt) vom 29. November 2013, in: BBl 2014 S. 564 f.
[5] Widrig, Alternierende Obhut, Leitprinzip des Unterhaltsrechts aus grundrechtlicher Sicht, in: AJP 2013 S. 906, mit Hinweis auf BGE vom 5. Dezember 2011, 5A_497/2011, Erw. 2.1.3, und BGE vom 18. Mai 2001, 5C.42.2001, Erw. 3
[6] Art. 298 Abs. 2 ZGB (in Kraft seit 1. Juli 2014); Schwenzer/Cottier, Art. 298 ZGB N 3
[7] Widrig, S. 906
[8] Art. 8 Ziff. 1 EMRK; Art. 13 Abs. 1 BV
[9] Widrig, S. 905
[10] Widrig, S. 906
[11] ZKE 2014 S. 339 mit Hinweis auf BGE vom 16. April 2014, 5A_866/2013, Erw. 1 ff.
[12] BBl 2014 S. 565 f.
[13] Schwenzer/Cottier, Art. 298 ZGB N 6 f.
[14] Art. 301a Abs. 1 ZGB (in Kraft seit 1. Juli 2014)
[15] Art. 301a Abs. 2 lit. a und b ZGB (in Kraft seit 1. Juli 2014)
[16] Schwenzer/Cottier, Art. 301a ZGB N 7
[17] Schwenzer/Cottier, Art. 298 ZGB N 10; vgl. Reichlin, Umsetzung gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall, in: Empfehlungen der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) vom 13. Juni 2014 (www.kokes.ch), S. 2