RBOG 2015 Nr. 9
Hypothetisches Einkommen bei unentgeltlicher Rechtspflege
1. a) Die Einzelrichterin des Bezirksgerichts schrieb das Eheschutzverfahren zufolge Rückzugs ab, wies die Gesuche beider Ehegatten um unentgeltliche Rechtspflege mit Offizialanwalt ab und auferlegte der Ehefrau eine Verfahrensgebühr von Fr. 600.00. Dabei ging die Einzelrichterin von einem Einkommen der Ehefrau von Fr. 750.00 pro Monat aus.
b) Dagegen erhoben die Ehegatten Beschwerde und rügten die Anrechnung eines monatlichen Einkommens für die Ehefrau. Seit dem Ende ihres Praktikums vor rund fünf Monaten verfüge sie über keine Anstellung mehr und erziele daher kein Einkommen; es gehe nicht an, für sie ein hypothetisches Einkommen anzunehmen.
2. a) Für die Mittellosigkeit muss auf die aktuelle ("augenblickliche") ökonomische Situation des Gesuchstellers im Zeitpunkt der Einreichung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege abgestellt werden; es dürfen nur Einkünfte und Vermögenswerte berücksichtigt werden, die tatsächlich (effektiv) vorhanden und verfügbar oder wenigstens kurzfristig realisierbar sind[1]. Das allfällige Selbstverschulden des Gesuchstellers an seiner Mittellosigkeit und sein Verzicht auf die Erzielung von Einkommen oder Vermögen sowie die Möglichkeit und Zumutbarkeit, ein höheres Einkommen zu erzielen, als der Gesuchsteller tatsächlich realisiert, sind unerheblich; unter Vorbehalt der Fälle von Rechtsmissbrauch ist daher jede Auf- und Anrechnung von hypothetischem Einkommen oder Vermögen unzulässig[2].
b) Von diesem Grundsatz müssen indessen Ausnahmen möglich sein. Bei der Frage der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sollte es der monatliche Überschuss möglich machen, die Prozesskosten bei weniger aufwendigen (mithin weniger kostspieligen) Prozessen innert eines Jahrs und in den anderen Fällen innert zweier Jahre zu tilgen; die Länge der Tilgungsfrist bemisst sich vor allem nach der Höhe der Prozesskosten[3]. Dabei dürfte es sich rechtfertigen, von Kostspieligkeit bei Gerichtskosten und eigenen Anwaltskosten von mehr als Fr. 5'000.00 auszugehen[4]. Wird nun aber mit zwei Jahren gerechnet, wie es die Vorinstanz angesichts der in Frage stehenden Verfahrenskosten zu Recht tat, muss auch eine voraussehbare Entwicklung innerhalb dieser zwei Jahre berücksichtigt werden. Dementsprechend sind nach Einreichung des Gesuchs eintretende Veränderungen der wirtschaftlichen Situation des Gesuchstellers zu berücksichtigen, denn es widerspräche dem Sinn der Sache, mit einem Überschuss während ein bis zwei Jahren zu rechnen, der zum Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs besteht, im Lauf der nächsten ein bis zwei Jahre aber zufolge veränderter Verhältnisse abnimmt oder wegfällt[5]; dasselbe muss mit Bezug auf eine allfällige Erhöhung des Überschusses gelten. Andernfalls müsste tatsächlich von Rechtsmissbrauch gesprochen werden.
3. Die Ehefrau liess noch in ihrem Eheschutzgesuch selber ausführen, sie wolle "baldmöglichst eine neue Tätigkeit aufnehmen"; bis zum Eingang der Gesuchsantwort "dürfte auch Klarheit über die künftigen Einnahmen der Gesuchstellerin herrschen". Von einer allfälligen Rückführung der Tochter war dabei noch keine Rede. Die Beschwerdeführer machen nunmehr zwar geltend, weil sie die Rückführung ihrer Tochter in die Wege geleitet hätten, könne die Ehefrau derzeit nicht arbeiten, da ihr seitens der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ansonsten zur Last gelegt werden könnte, sie habe zu wenig Zeit für ihre Tochter. Diese Behauptung ist neu und kann gestützt auf Art. 326 Abs. 1 ZPO in diesem Beschwerdeverfahren nicht mehr berücksichtigt werden. Im Übrigen bestehen aufgrund der Akten ohnehin keine Anhaltspunkte dafür, dass bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde tatsächlich ein Antrag auf Rückführung der Tochter in die ursprüngliche Familie eingereicht worden wäre; gemäss telefonischer Auskunft der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist ein entsprechendes Verfahren auch nicht hängig. Dass eine solche Rückführung im Lauf der nächsten ein bis zwei Jahre tatsächlich stattfinden könnte, ist aufgrund der vorliegenden Akten zudem nicht wahrscheinlich. Damit rechnete die Vorinstanz der Ehefrau zu Recht ein Einkommen an. Aus den Akten ergibt sich, dass diese in den Monaten Februar bis Juni 2015 Einkünfte von durchschnittlich Fr. 1'000.10 netto erzielte, dass sie vom 1. Juni bis 30. Oktober 2012 durchschnittlich Fr. 688.60 pro Monat verdiente, und dass sie vom 1. September bis 10. November 2013 ein Einkommen von Fr. 1'011.00 hatte. Bei dieser Ausgangslage erscheinen die von der Vorinstanz eingerechneten Fr. 750.00 angesichts des entsprechenden Durchschnittswerts von Fr. 874.75 netto pro Monat als eher zu tief.
Obergericht, 1. Abteilung, 2. Dezember 2015, ZR.2015.53
[1] BGE 118 Ia 371; Bühler, Berner Kommentar, Art. 117 ZPO N 8
[2] Bühler, Art. 117 ZPO N 9; Emmel, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 2.A., Art. 117 N 4
[3] Emmel, Art. 117 ZPO N 12
[4] Vgl. Emmel, Art. 117 ZPO N 12; Bühler, Art. 117 ZPO N 224
[5] AGVE 2006 S. 37 f.; Bühler, Art. 117 ZPO N 222