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RBOG 2016 Nr. 21

Bedeutung von Rückstellungen im Verfahren betreffend Widerruf des Konkurses


Art. 725 Abs. 2 OR, Art. 725 a OR, Art. 959 a Abs. 2 Ziff. 2 lit. c OR, Art. 195 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG


1. Das Konkursgericht widerruft den Konkurs und gibt dem Schuldner das Verfügungsrecht über sein Vermögen zurück, wenn der Schuldner nachweist, dass sämtliche Forderungen getilgt sind, er von jedem Gläubiger eine schriftliche Erklärung vorlegt, dass dieser seine Konkurseingabe zurückzieht, oder ein Nachlassvertrag zustandegekommen ist[1]. Der Widerruf des Konkurses kann vom Ablauf der Eingabefrist an bis zum Schluss des Verfahrens verfügt werden[2]. Der Widerruf des Konkurses wird öffentlich bekanntgemacht[3].

2. a) aa) Die drei in Art. 195 Abs. 1 SchKG aufgezählten Widerrufsgründe[4] sind alternativ, müssen also nicht kumulativ erfüllt sein[5]. Zu Recht erwog daher die Vorinstanz, die Gläubiger der angemeldeten 13 Forderungen seien aus den vorhandenen Aktiven vollumfänglich befriedigt worden. Zusätzlich seien die Kosten des Gerichts und des Konkursverfahrens sichergestellt worden. Demnach seien alle Voraussetzungen für den Widerruf des Konkurses gegeben.

bb) Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass hier die Voraussetzungen für den Konkurswiderruf nach Art. 195 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG gegeben sind. Sie macht lediglich geltend, sie sei wegen erforderlicher Rückstellungen für pendente – und einstweilen sistierte – Prozesse nach wie vor überschuldet im Sinn von Art. 725 Abs. 2 OR. Würde der Konkurs nunmehr widerrufen, müsste sie deshalb sogleich wieder den Richter benachrichtigen, und dieser würde umgehend wieder den Konkurs eröffnen. Dies sei ein Leerlauf. Dafür beruft sie sich auf ein Urteil des Obergerichts Thurgau vom 18. Januar 1973, das vom Bundesgericht zwar am 4. April 1973 aufgehoben worden sei, jedoch nur deshalb, weil nicht das zuständige Gesellschaftsorgan die Überschuldungsanzeige eingereicht habe. Beim von der Beschwerdeführerin zitierten Bundesgerichtsentscheid handelt es sich um BGE 99 Ia 10.

b) aa) Die massgebliche Regestenstelle von BGE 99 Ia 10 lautet: "Der Widerruf des über eine Aktiengesellschaft eröffneten Konkurses ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 195 SchKG auch dann auszusprechen, wenn die Gesellschaft im Sinne von Art. 725 OR überschuldet ist." Gleichwohl hielt das Bundesgericht in seinen damaligen Erwägungen dafür, die Meinung des Obergerichts Thurgau, wonach der Konkurswiderruf noch von anderen als den in Art. 195 SchKG genannten Voraussetzungen abhängig gemacht werden könne, sei bis anhin zwar noch nie vertreten worden. Die gegenteilige Auffassung des Obergerichts, wonach ein auf Art. 195 SchKG gestütztes Widerrufsbegehren auch dann abzulehnen sei, wenn gleichzeitig die Voraussetzungen für eine erneute Konkurseröffnung vorlägen, lasse sich indessen ohne Willkür vertreten, da ein Widerruf, dem unweigerlich sofort die Neueröffnung des Konkurses folgen müsste, kaum einen vernünftigen Sinn hätte. In der Regel dürften allerdings in einem solchen Fall, so das Bundesgericht weiter, schon die Bedingungen des Art. 195 SchKG nicht oder nicht mehr erfüllt sein[6].

Das Bundesgericht ging darauf nicht weiter ein, da – anders als hier – nicht der (Gesamt-)Verwaltungsrat der AG den Richter bezüglich Überschuldung benachrichtigt hatte, sondern die Konkursverwaltung beziehungsweise das Konkursamt. Dazu erwog das Bundesgericht, es genüge nicht, dass der Konkursrichter auf andere Weise als vom Verwaltungsrat Kenntnis von der Überschuldung erhalte. Die Erstattung einer Überschuldungsanzeige durch das zuständige Gesellschaftsorgan sei eine formelle Voraussetzung, ohne die ein Eingreifen des Konkursrichters nicht zulässig sei. Legitimiert zur Überschuldungsanzeige sei einzig der Verwaltungsrat der AG. Andere Organe der AG oder einzelne Aktionäre seien zur Anzeige nicht befugt; dasselbe gelte für Gläubiger und Behörden. Mit Bezug auf den Konkurswiderruf folgerte das Bundesgericht daraus, so wenig die Überschuldung einer AG gegen den Willen des Verwaltungsrats zu einer Konkurseröffnung von Amtes wegen führen könne, so wenig sei es der Verwaltung verwehrt, trotz bestehender Überschuldung gestützt auf Art. 195 SchKG einen bereits eröffneten Konkurs widerrufen zu lassen. Das gelte auch, wenn sich der Verwaltungsrat, der den Konkurswiderruf verlange, auf den Widerrufsgrund der Rückzugserklärungen sämtlicher Gläubiger (beziehungsweise neurechtlich alternativ auf den Nachweis der Tilgung sämtlicher Forderungen) berufe und dies belege[7].

bb) Trotz dieses sachverhaltsmässigen Unterschieds stellte das Bundesgericht in BGE 99 Ia 10 allgemeingültig fest, Art. 725 (a)OR regle nur das Verfahren bis zu einer allfälligen Konkurseröffnung. Sei der Konkurs dagegen einmal eröffnet, so bleibe für eine Anwendung dieser Bestimmung kein Raum mehr. Es kämen dann vielmehr die Vorschriften des SchKG zur Anwendung, und auch die Zulässigkeit eines Konkurswiderrufs beurteile sich dann grundsätzlich nur nach Art. 195 SchKG, da das OR hierüber für Aktiengesellschaften und Genossenschaften keinerlei Sonderbestimmungen enthalte. Dementsprechend könne das blosse Bestehen einer Überschuldung weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinn von Art. 725 (a)OR einen Grund dafür bilden, einer Aktiengesellschaft den Widerruf des Konkurses zu verweigern, wenn die Voraussetzungen des Art. 195 SchKG erfüllt seien[8]. Daran ändere nichts, dass die Regelung des Art. 725 (a)OR nicht nur den Interessen der bereits Beteiligten, das heisse namentlich der Gläubiger diene, sondern auch den Schutz allfälliger zukünftiger Kreditgeber im Auge habe und insoweit ein öffentliches Interesse verfolge. Es sei nach der dargelegten gesetzlichen Ordnung allein dem verantwortlichen Gesellschaftsorgan anheimgestellt, ob und zu welchem Zeitpunkt eine richterliche Intervention nach Art. 725 (a)OR erfolgen solle[9]. Das gelte nur schon deshalb, weil die nach erfolgtem Widerruf neuerliche Benachrichtigung des Richters, um das in Art. 725 (a)OR vorgesehene Verfahren einzuleiten, nicht zwingend zu einer neuerlichen Konkurseröffnung führe, sondern auch Sicherungsmassnahmen zur Folge haben könne[10].

c) aa) Im Fall des nicht gewährten Widerrufs wird der Gesellschaft nicht nur die Möglichkeit der Abwendung des Konkurses durch den Rangrücktritt der Gesellschaftsgläubiger im Ausmass der Unterdeckung nach Art. 725 Abs. 2 OR genommen, sondern auch des Konkursaufschubs durch das Konkursgericht. Zwar eröffnet der Richter nach Art. 725a Abs. 1 OR den Konkurs, jedoch erst auf Benachrichtigung des Verwaltungsrats hin[11]. Der Richter kann ihn sodann auf Antrag des Verwaltungsrats oder eines Gläubigers aufschieben, falls Aussicht auf Sanierung besteht; in diesem Fall trifft er Massnahmen zur Sicherung des Vermögens. Eine dieser Massnahmen ist gemäss Art. 725a Abs. 2 OR die Bestellung eines Sachwalters. Diesfalls kann der Richter dem Verwaltungsrat die Verfügungsbefugnis entziehen oder dessen Beschlüsse von der Zustimmung des Sachwalters abhängig machen. Er umschreibt dann die Aufgaben des Sachwalters. Um alle diese Möglichkeiten wird die Beschwerdeführerin im Fall des nicht gewährten Konkurswiderrufs gebracht[12]. Das könnte dann hingenommen werden, wenn die Überschuldung klar ausgewiesen wäre und sie klar feststünde, so wie dies im Fall von BGE 99 Ia 10 gewesen zu sein scheint. Gegen jene Gesellschaft mussten "chronisch" Konkursverhandlungen angesetzt werden, allein von Anfang 1971 bis zur Konkurseröffnung im April 1972 insgesamt 194 solche Verhandlungen. Deshalb und weil die Überschuldung aus den konkursamtlichen Inventarisationsakten eindeutig hervorging, war dort der Konkurs gemäss Obergericht Thurgau im Interesse der Allgemeinheit durchzuführen[13]. Demnach mag der Verzicht auf den Konkurswiderruf in dem praktisch schlecht vorstellbaren Fall einer feststehenden ausgewiesenen Überschuldung bei gleichzeitiger Tilgung sämtlicher Forderungen noch angehen, nicht jedoch dort, wo die Überschuldung – wie hier – unsicher ist.

bb) Die beim Konkursrichter deponierte Zwischenbilanz der Beschwerdeführerin per 31. Dezember 2014 weist unter den Aktiven Fr. 646'632.58 Delkredere als Minusposten zu Fr. 746'632.58 Debitoren aus, und unter den Passiven Fr. 232'200.00 "Passive Rechnungsabgrenzung". Bei einem Delkredere von 86,6% aller Debitoren fragt sich ernsthaft, ob hier buchhalterisch nicht Debitoren im Umfang des Delkredere ganz einfach hätten abgeschrieben werden müssen. Dies kann hier offen bleiben, geht es doch allein um die passive Rechnungsabgrenzung. Aufgrund der Eingaben der Beschwerdeführerin handelt es sich dabei jedoch nicht um passive Rechnungsabgrenzungen, sondern um Rückstellungen. Rückstellungen sind indes keine passiven Rechnungsabgrenzungen und umgekehrt. Der Grund dafür liegt darin, dass bei den passiven Rechnungsabgrenzungen der Eintritt der Verbindlichkeit nicht ungewiss ist, sondern feststeht[14]. Terminologisch ebenso ungenau bis falsch ist die Bezeichnung Eventualverbindlichkeiten. Diese sind gemäss Art. 959c Abs. 2 Ziff. 10 OR rechtliche oder tatsächliche Verpflichtungen, bei denen ein Mittelabfluss entweder als unwahrscheinlich erscheint oder in der Höhe nicht verlässlich geschätzt werden kann. Während Rückstellungen bilanziert werden (müssen), sind Eventualverbindlichkeiten "bloss" im Anhang aufzuführen. Erst wenn der Mittelabfluss wahrscheinlich und abschätzbar ist, muss eine Rückstellung gebildet werden[15].

Rückstellungen sind gemäss Art. 959a Abs. 2 Ziff. 2 lit. c OR langfristiges Fremdkapital. Sie werden (zu Lasten der Erfolgsrechnung) gebildet, wenn vergangene Ereignisse einen Mittelabfluss in künftigen Geschäftsjahren erwarten lassen[16]. Sie dürfen zudem insbesondere gebildet werden für regelmässig anfallende Aufwendungen aus Garantieverpflichtungen, zur Sanierung von Sachanlagen (zusätzliche Abschreibungen), für Restrukturierungen sowie zur Sicherung des dauernden Gedeihens des Unternehmens. Wenn nicht mehr begründete Rückstellungen nicht aufgelöst werden, handelt es sich um stille (Willkür-)Reserven und damit wirtschaftlich (nicht rechtlich) nicht mehr um Fremd-, sondern um Eigenkapital[17]. Rückstellungen heben sich damit von den übrigen kurz- und langfristigen Verbindlichkeiten ab. Die Bildung von Rückstellungen hat sodann mit Abschreibungen und Wertberichtigungen gemeinsam, dass es sich um Aufwandpositionen handelt, denen im Rechnungsjahr kein Bargeldabfluss entspricht. Es ist nicht-barer Aufwand[18].

Damit sind Rückstellungen ein besonderer Posten auf der passiven Seite der Bilanz, der unsichere, mögliche Mittelabflüsse erfasst, die sich aus einem vergangenen Ergebnis ergeben können. Vom echten Fremdkapital unterscheiden sie sich dadurch, dass sie (noch) keine Schulden der Gesellschaft sind, sondern mögliche Schulden. Damit ist die Rückstellung eigentlich gar keine Schuld, sondern eine klassische oder besondere Risikoreserve[19]. Wenn das Unternehmen eine Rückstellung bildet, reduziert es den Betrag, den es ansonsten an die Gesellschafter ausschütten könnte. Damit verhindert es kurzfristige Gewinnentnahmen der Gesellschafter, um mögliche spätere Verpflichtungen zu erfüllen. Das Unternehmen erhöht damit seine bilanzielle Risikofähigkeit durch die Festsetzung einer entsprechenden Reserve zu Lasten des Gewinns[20]. Dabei gibt es nebst der vorerwähnten Form der Rückstellung noch weitere Formen der Rückstellungen in der schweizerischen Rechnungslegungspraxis. Sie alle zeigen den Reservecharakter. Rückstellungen kommen als Delkredere vor, um das Risiko abzudecken, dass Debitorenverluste entstehen. Diese Delkredererückstellung ist nichts anderes als eine Bewertungsreserve[21].

Demnach sind Rückstellungen als solche und erst recht deren Höhe nicht unumstösslich. Vielmehr besteht ein betriebswirtschaftlicher Ermessensspielraum[22]. Zudem fallen die Rückstellungen hier weg, wenn die diversen Verfahren dereinst keine Kosten- und Entschädigungsfolgen für die Beschwerdeführerin nach sich ziehen sollten. Diesfalls wäre der Verzicht auf den Konkurswiderruf geradezu stossend, weil dann eine aufrecht stehende Gesellschaft vernichtet worden wäre. Soweit sich die Beschwerdeführerin für ihren Standpunkt schliesslich noch auf ZR 94, 1995, Nr. 60 S. 185 beruft und daraus zitiert, es seien auch Forderungen im Sinn von Eventualverbindlichkeiten zu berücksichtigen, die in naher Zukunft fällig werden, übersieht sie, dass in jenem Entscheid der Konkursrichter des Bezirks Zürich zutreffend Brunner[23] zitierte, wonach die Deckung auch Forderungen erfassen muss, die erst in naher Zukunft fällig werden. Die Fälligkeit bei Rückstellungen für Prozessrisiken ist aber ungewiss. Davon ist hier deshalb und so lange auszugehen, als die Beschwerdeführerin das Gegenteil nicht durch Urkunden belegt hat, wie dies Art. 254 ZPO für das summarische Verfahren vorgibt. Im Beschwerdeverfahren sodann sind neue Anträge, Tatsachenbehauptungen und Beweismittel ausgeschlossen.

3. Damit ist der Konkurs über die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 195 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG zu widerrufen. Dem (neuen) Verwaltungsrat der Beschwerdeführerin steht dann für den Fall, dass er aufgrund der dannzumal gegebenen finanziellen Verhältnisse begründete Besorgnis einer Überschuldung hat, offen, zunächst eine (neue) Zwischenbilanz zu erstellen, diese von einem zugelassenen Revisor prüfen zu lassen, und im Fall, dass die Forderungen der Gesellschaftsgläubiger weder zu Fortführungs- noch zu Veräusserungswerten gedeckt sein sollten, den Richter zu benachrichtigen, sofern nicht Gesellschaftsgläubiger im Ausmass der Unterdeckung im Rang hinter alle anderen Gesellschaftsgläubiger zurücktreten[24]. Alsdann stehen dem Konkursrichter die Möglichkeiten nach Art. 725a OR offen. All dem darf hier nicht vorschnell vorgegriffen, und es dürfen nicht durch die Liquidation der Beschwerdeführerin vollendete Tatsachen geschaffen werden, die dann unumkehrbar sind. Dies gilt hier erst recht, weil die Voraussetzungen für den Konkurswiderruf nach Art. 195 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG erfüllt sind, da sämtliche Forderungen einschliesslich Kosten getilgt sind, und sogar noch ein Überschuss von rund Fr. 24'000.00 resultiert.

Obergericht, 2. Abteilung, 13. Oktober 2016, BR.2016.48


[1] Art. 195 Abs. 1 SchKG

[2] Art. 195 Abs. 2 SchKG

[3] Art. 195 Abs. 3 SchKG

[4] Zahlung sämtlicher Forderungen (Ziff. 1), Rückzugserklärung aller Gläubiger (Ziff. 2), Nachlassvertrag nach Konkurseröffnung (Ziff. 3)

[5] Brunner/Boller, Basler Kommentar, Art. 195 SchKG N 11

[6] BGE 99 Ia 15

[7] BGE 99 Ia 16 f.

[8] BGE 99 Ia 15

[9] BGE 99 Ia 16

[10] BGE 99 Ia 17

[11] Art. 725 Abs. 2 i.V.m. Art. 716a Abs. 1 Ziff. 7 OR

[12] Vgl. dazu Brunner/Boller, Art. 195 SchKG N 11

[13] BGE 99 Ia 11 f.

[14] Handschin, in: Schweizerisches Privatrecht, VIII/9, Basel 2013, N 773

[15] Handschin, N 752

[16] Art. 960e Abs. 2 OR

[17] Art. 960e Abs. 3 und 4 OR

[18] Handschin, N 763

[19] Handschin, N 105

[20] Handschin, N 765

[21] Handschin, N 766

[22] Brunner, Insolvenz und Überschuldung der Aktiengesellschaft, in: AJP 1992 S. 818

[23] Brunner, S. 818

[24] Art. 725 Abs. 2 OR

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