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RBOG 2016 Nr. 25

"Hinterlader" ist keine Beschimpfung


Art. 177 Abs. 1 StGB


1. a) Der Tatbestand der Beschimpfung gemäss Art. 177 StGB ist erfüllt, wenn jemand in anderer Weise (als durch üble Nachrede oder Verleumdung) durch Wort, Schrift, Bild, Gebärde oder Tätlichkeiten in seiner Ehre angegriffen wird. Somit geht es beim Tatbestand der Beschimpfung um Ehrverletzungen unter vier Augen oder analog auf dem Korrespondenzweg und um Ehrverletzungen in Form von Formalinjurien[1]. Eine Formal- oder Verbalinjurie – das heisst ein reines Werturteil – ist ein blosser Ausdruck der Missachtung, ohne dass sich die Aussage erkennbar auf bestimmte Tatsachen stützt (zum Beispiel Schwein, Luder, Psychopath, Halunke, Hure, Schmierlappen, Halsabschneider)[2]. Das Werturteil bezieht sich nicht erkennbar auf bestimmte, dem Beweis zugängliche Tatsachen, sondern höchstens auf einen diffusen Sachverhalt. Dabei ist der Übergang zu gemischten Werturteilen fliessend. Ob ein reines oder ein gemischtes Werturteil vorliegt, muss aus dem ganzen Zusammenhang der Äusserung erschlossen werden. Bestimmte Ausdrücke wie "Dirne", "Schwein" oder "Verräter" können das eine oder das andere bedeuten. Als Beschimpfungen wurden auch Äusserungen bewertet, die sich ausdrücklich oder implizit an eine Tatsachenbehauptung anlehnten (zum Beispiel kein Ehrenmann, Produkt grösster menschlicher Schlechtigkeit, Strolchenfahrer, Hochstapler, Gauner). Auch wenn ein eigentliches gemischtes Werturteil vorliegt, kann eine Bestrafung wegen Beschimpfung in Frage kommen, wenn sich die Bewertung erwiesener oder für wahr gehaltener Tatsachen nicht im Rahmen des sachlich Vertretbaren hielt[3].

Voraussetzung für die Strafbarkeit nach Art. 173 ff. StGB ist das Vorliegen eines relevanten Eingriffs in die Ehre, das heisst der Vorwurf eines unehrenhaften Verhaltens[4]. Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung beschränkt sich der strafrechtliche Schutz der Ehrverletzungsdelikte auf den menschlich-sittlichen Bereich. Geschützt wird (allein) der Ruf, ein ehrbarer Mensch zu sein, das heisst, sich so zu benehmen, wie nach allgemeiner Anschauung ein charakterlich anständiger Mensch sich zu verhalten pflegt. Den Tatbestand erfüllen danach nur Behauptungen sittlich vorwerfbaren, unehrenhaften Verhaltens. Äusserungen, die geeignet sind, jemanden in anderer Hinsicht, zum Beispiel als Geschäfts- oder Berufsmann, als Politiker oder Künstler, in seiner gesellschaftlichen Geltung oder sozialen Funktion herabzusetzen, sind demgegenüber nicht ehrverletzend, solange die Kritik nicht zugleich die Geltung als ehrbarer Mensch trifft[5]. Auch der Ruf besonderer Fähigkeit oder Tüchtigkeit ist nicht geschützt, und jeder muss in seiner menschlichen Unvollkommenheit ein gewisses Mass an Kritik hinnehmen[6]. Massgebend ist in der Regel die Durchschnittsmoral oder Durchschnittsauffassung über die Bedeutung der zur Diskussion stehenden Ausdrucksweisen[7]. Der Angriff muss von einiger Erheblichkeit sein; verhältnismässig unbedeutende Übertreibungen bleiben straflos[8]. Im Ergebnis ist somit nicht jede Kritik oder negative Darstellung eine Ehrverletzung, auch nicht jede unwahre Behauptung[9], wobei gerade in Kommunikationssituationen mit spezifischen Erwartungshaltungen besondere Zurückhaltung am Platz ist.

b) Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Besteht die Beschimpfung in einem Werturteil (Formalinjurie), muss sich der Vorsatz nur darauf richten, dass die Äusserung ehrenrührig ist, nicht auch darauf, dass sie nicht vertretbar ist[10]. Eventualvorsatz genügt. Eine besondere Beleidigungsabsicht ist nicht erforderlich. Der Vorsatz braucht sich nicht auf die tatsächliche Schädigung des Rufs zu beziehen; der Täter muss sich nur der Ehrenrührigkeit seiner Behauptung bewusst gewesen sein und sie trotzdem erhoben haben[11].

2. a) Der Grundsachverhalt ist unstrittig. Der Beschwerdeführer sass oder stand am Sonntag, 24. Januar 2016, etwa um 17.00 Uhr, an der Bar. Der Beschwerdegegner kam in Begleitung herein und machte zum Beschwerdeführer die umstrittene Äusserung. Gemäss dem Beschwerdeführer lautete die Äusserung "so du huerä Hinterlader", gemäss dem Beschwerdegegner "jetzt isch dä Hinterlader au no do".

b) aa) Hinterlader sind Schusswaffen, die (in Schussrichtung gesehen) von hinten geladen werden. Im Gegensatz dazu werden beim Vorderlader Treibladung und Projektil durch die Laufmündung geschoben[12]. Der Duden spricht von einer Feuerwaffe, die vom hinteren Ende des Laufs oder Rohres her geladen wird, oder (veraltet) von einer Kinderhose mit aufknöpfbarer hinterer Klappe[13]. Abgeleitet von dieser waffentechnischen Bedeutung wird der Begriff Hinterlader manchmal umgangssprachlich auch für homosexuelle Männer gebraucht oder für Männer, die auf Analsex stehen[14]. Dieser Begriff mit sexuellem Gehalt wird häufig abwertend verwendet.

bb) Auf die Frage, warum der Beschwerdegegner zum Beschwerdeführer "Hinterlader" gesagt habe, antwortete dieser, weil der Beschwerdeführer relativ unehrenhaft in der Öffentlichkeit über ihn gesprochen habe, weil er zum Gemeindepräsidenten gegangen sei und sich über ihn beschwert habe, und weil jemand einen anonymen Brief an seine Partnerin geschickt habe. Die Vermutung, dass es der Beschwerdeführer gewesen sei, liege nahe. In diesem Brief sei er beleidigt worden. Es sei "primitiver Partner" darin gestanden. Nach der Einsprache gegen den Strafbefehl sagte der Beschwerdegegner in der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme aus, er verstehe unter der Bezeichnung "Hinterlader" keine sexistische Bedeutung. Der Beschwerdeführer habe immer hinten herum agiert, so dass er den früheren Kontakt mit ihm abgebrochen habe. Er habe nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Er habe zum Ausdruck bringen wollen, dass der Be­schwerdeführer immer von hinten komme, so eine Art Wadenbeisser.

cc) Die Betitelung mit "Hinterlader", zumal wie in diesem Fall aus heiterem Himmel und ohne erklärende Zusätze in einer Bar, kann nur wegen eines abwertenden sexuellen Inhalts als Beschimpfung qualifiziert werden, wenn der durchschnittliche Zuhörer diesem Begriff in einer solchen Situation die dargestellte abwertende Anspielung auf die entsprechende Sexualpraktik entnimmt. Das ist zu verneinen, weil diese umgangssprachliche Bedeutung zu wenig bekannt ist. Zudem sagte der Beschwerdegegner aus, er verstehe darunter keine sexistischen Andeutungen. Die Aussage erscheint glaubhaft, weil die Bedeutung, die der Beschwerdegegner dem von ihm verwendetem Begriff gibt, plausibel ist (hintenherum erzählen und agieren, "Wadenbeisser"). Nachvollziehbar ist sie sowohl wegen der vom Beschwerdegegner behaupteten Vorgeschichte als auch hinsichtlich der Umschreibung mit "Hinterlader". Ferner begründete auch der Beschwerdeführer seine Anzeige nicht mit einer sexuellen Bedeutung; er machte in keiner seiner Eingaben und Aussagen entsprechende Hinweise. Auch er mass dem Begriff "Hinterlader" offensichtlich keine sexuelle Bedeutung zu. Ob der Durchschnittszuhörer dem Begriff die Bedeutung des Beschwerdegegners zumisst, kann offen bleiben, weil damit die Schwelle zur Ehrenrührigkeit nicht erreicht ist. Damit fehlt es am objektiven Tatbestand der Beschimpfung. Der Beschwerdegegner machte sich nicht strafbar, auch wenn seine Aussage erwiesen ist.

Obergericht, 2. Abteilung, 16. Juni 2016, SW.2016.42


[1] Riklin, Basler Kommentar, Art. 177 StGB N 3

[2] Riklin, Art. 177 StGB N 4

[3] Riklin, Art. 177 StGB N 6

[4] Riklin, vor Art. 173 StGB N 20

[5] BGE 131 IV 157, 117 IV 28 f.; Riklin, vor Art. 173 StGB N 7 ff.; Trechsel/Lieber, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 2.A., vor Art. 173 N 3 ff.

[6] Trechsel/Lieber, vor Art. 173 StGB N 10

[7] Riklin, vor Art. 173 StGB N 28

[8] Trechsel/Lieber, vor Art. 173 StGB N 1

[9] Riklin, vor Art. 173 StGB N 27

[10] Riklin, vor Art. 177 StGB N 14

[11] Riklin, Art. 173 StGB N 9 f.

[12] Gerichtsnotorietät

[13] Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 7.A. (Online-Version)

[14] Z.B. www.mundmische.de; www.gutefrage.net

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