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RBOG 2016 Nr. 29

Einsicht in das psychiatrische Gutachten eines Mitbeschuldigten


Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO


1. Die Staatsanwaltschaft führt gegen X und Y eine Strafuntersuchung wegen gewerbsmässigen Betrugs und mehrfacher Urkundenfälschung. Sie veranlasste die psychiatrische Begutachtung von Y. X verlangte Einsicht in das Gutachten über Y; dieser beantragte die Abweisung des Gesuchs. Die Staatsanwaltschaft gewährte X Akteneinsicht betreffend die Gutachtenserkenntnisse Ziff. 1 und 6 und wies das Gesuch im Übrigen ab. X verlangte mit Beschwerde Einsicht in das gesamte psychiatrische Gutachten über Y; eventuell sei der Verteidigung ohne Einschränkung Einsicht in das Gutachten zu gewähren. Y beantragte, weder X noch dessen Verteidigung sei Einsicht in das Gutachten zu gewähren.

2. Im Beschwerdeverfahren ist strittig, ob und inwieweit X Anspruch auf Einsicht in das psychiatrische Gutachten über den Mitbeschuldigten Y hat.

a) aa) Die Beschwerdeführer als beschuldigte Personen sind Parteien[1], haben Anspruch auf rechtliches Gehör und Akteneinsicht[2]. X hat daher als Mitbeschuldigter grundsätzlich das Recht auf Einsicht in alle Akten des einheitlichen Strafverfahrens, das gegen ihn und den Mitbeschuldigten Y geführt wird[3].

bb) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht unbegrenzt. Einschränkungen müssen allerdings, soweit der grundrechtliche Bereich betroffen ist, den Anforderungen von Art. 36 BV genügen[4]. Unter anderem können die Strafbehörden das rechtliche Gehör und damit die Akteneinsicht gemäss Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO einschränken, wenn dies zur Wahrung privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist. Bei den privaten Geheimhaltungsinteressen geht es vorab um die Wahrung der Privatsphäre, das heisst des Geheim- und Privatbereichs. Zu denken ist dabei an medizinische Befunde sowie – wie hier – psychiatrische Gutachten[5]. Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts sind jedoch zurückhaltend und unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes anzuwenden[6].

cc) Zu Recht erkannte die Staatsanwaltschaft, ein psychiatrisches Gutachten falle grundsätzlich unter den Schutzbereich der privaten Geheimhaltungsinteressen. Auf die entsprechenden Ausführungen kann verwiesen werden.

b) Ausgehend vom Geheimhaltungsinteresse erwog die Staatsanwaltschaft, es sei abzuwägen, ob das Interesse des Mitbeschuldigten X an einer Einsicht in das Gutachten höher zu gewichten sei als der Schutz des Privatbereichs von Y. Eine generelle Aussage sei nicht möglich, weil dies von den aus dem Gutachten für das Verfahren gegen X theoretisch zu gewinnenden Erkenntnissen abhänge. Das psychiatrische Gutachten habe eine mögliche psychische Störung, eine Einschränkung der Schuldfähigkeit, eine Rückfallgefahr, Massnahmemöglichkeiten und Fragen einer Persönlichkeitsstörung zum Gegenstand gehabt. Ebenfalls sei die Frage aufgeworfen worden, ob eine allfällige Persönlichkeitsstörung gegebenenfalls die Aussagen von Y beeinflussen könnte. Diese Fragestellungen behandelten damit bis auf jene zur Aussagequalität rein täterbezogene Faktoren und wiesen keinen direkten Bezug zur Sachverhaltsabklärung auf. Dies gelte vor allem betreffend Ausführungen zur Schuldfähigkeit und zu möglichen Massnahmen und Therapien. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern sich hier etwas zur objektiven und auch für den Mitbeschuldigten zentralen Sachverhaltsabklärung ableiten liesse.

Es sei jedoch abzuwägen, ob die Gutachtenserkenntnisse zum möglichen Einfluss einer psychischen Störung auf Aussagen von Y auch für den Mitbeschuldigten X von Belang sein könnten. Dies sei für den engen Bereich der Aussagequalität zu bejahen, da gerade auch für X relevante, be- und entlastende Aussagen des Mitbeschuldigten Y von dieser Beurteilung betroffen seien. Der Mitbeschuldigte müsse, wenn schon ein Gutachten dazu vorliege, die Möglichkeit haben, allfällige Erkenntnisse zur Aussagequalität vor allem ihn (mit-)belastender Aussagen zur Kenntnis vorgelegt zu erhalten. Gerade in diesem Verfahren belaste Y sich und seinen Mitbeschuldigten hinsichtlich der Quantität deliktisch erlangter Gerätschaften schwer. Das Gutachten setze sich in Ziff. 6 der Gutachtenserkenntnisse gerade mit dieser Quantifizierung und der Aussagekraft derselben auseinander. Dem Mitbeschuldigten X seien deshalb diese Erkenntnisse zu eröffnen. Ebenfalls zu eröffnen seien als Grunderkenntnis zu Ziff. 6 wie auch zur beschränkten Nachvollziehbarkeit dieser gutachterlichen Schlussfolgerung die Ziff. 1 und damit die Frage, ob eine psychische Störung vorliege und welcher Art diese sei. Der Mitbeschuldigte müsse in Konsequenz das Recht und die Möglichkeit erhalten, abzuschätzen, ob die Schlussfolgerungen zur psychischen Störung und deren Einfluss auf das Aussageverhalten stimmig seien. Dies habe umso mehr zu gelten, als gerade psychische Befunde an einer öffentlichen Hauptverhandlung regelmässig thematisiert und damit einem grösseren Zuschauerkreis zur Kenntnis gebracht würden. In diesen Fällen werde das Gericht auch nur ausnahmsweise einen Ausschluss der Öffentlichkeit verfügen. Entsprechend müsse sich ein Beschuldigter in engen Grenzen auch gefallen lassen, dass dem Mitbeschuldigten eine psychische Störung zur Kenntnis gebracht werde, wenn sich dies auf die Sachverhaltsermittlung auswirken könne.

c) aa) Y wendet ein, seine quantitativen Belastungen des Mitbeschuldigten X seien nicht von Bedeutung, weil grundsätzlich von den Mengenangaben des Mitbeschuldigten X ausgegangen worden sei, zumal beide Beschuldigten in Bezug auf die noch vorgeworfenen Mengen grundsätzlich geständig seien.

bb) X begründet die beantragte volle Einsicht in das Gutachten im Wesentlichen mit der Rollenverteilung und Hierarchie zwischen den Personen, die an den mutmasslichen Delikten beteiligt gewesen seien. Zentral sei die Verteilung der Rollen zwischen den Parteien dieses Beschwerdeverfahrens. Rollenverteilung und Hierarchie seien in den Einvernahmen jeweils ein bedeutendes Thema. Diese Diskussion werfe notwendigerweise auch Fragen zum psychischen Zustand von Y auf. Die Staatsanwaltschaft habe deutlich gemacht, dass der psychische Zustand von Y und dessen intellektuelle Fähigkeiten für die Fallbeurteilung bedeutsam seien. Er (X) sei deshalb nicht nur von be- und entlastenden Aussagen Ys betroffen. Das Gutachten habe auf das Verfahren nicht nur einen Einfluss mit Bezug auf die Aussagequalität von Y. Aus der von der Vorinstanz im Zusammenhang mit der teilweise gewährten Akteneinsicht geltend gemachten Notwendigkeit, dem Mitbeschuldigten eine psychische Störung zur Kenntnis zu bringen, ergebe sich konsequenterweise, dass das gesamte Gutachten auch dem Mitbeschuldigten zur Verfügung stehen müsse.

d) Die Staatsanwaltschaft ging grundsätzlich von zutreffenden Erwägungen aus und stellte die richtigen Fragen. Ihrer Interessenabwägung kann indessen nicht gefolgt werden.

aa) Wie jedes medizinische und psychiatrische Gutachten enthält auch ein forensisch-psychiatrisches Gutachten grundsätzlich schützenswerte sensible persönliche Daten. Dem steht das berechtigte und gewichtige Interesse des Mitbeschuldigten X gegenüber, grundsätzlich in alle Akten des gegen ihn geführten Strafverfahrens Einsicht zu nehmen, weil er nur in Kenntnis der Akten seine Verfahrensrechte wirksam wahrnehmen[7] und sich wirksam verteidigen kann. Nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit rechtfertigt sich eine Geheimhaltung der sensiblen persönlichen Daten in einem psychiatrischen Gutachten und in der Folge eine Beschränkung des Akteneinsichtsrechts oder der Teilnahmerechte eines (Mit-)Beschuldigten soweit, als die privaten Geheimhaltungsinteressen gegenüber den Verteidigungsinteressen eines (Mit-)Beschuldigten offensichtlich überwiegen und nicht anders geschützt werden können[8]. Demnach sind sämtliche Ausführungen, die sich auf die begangenen Straftaten beziehen, grundsätzlich den Mitbeschuldigten offenzulegen. Hingegen sind sanktionsbezogene Ausführungen – wie über Schuldfähigkeit und allfällige Massnahmen – der Privat- oder Geheimsphäre zuzuordnen und dürfen dem Mitbeschuldigten vorenthalten werden.

bb) Soweit der Gutachtensauftrag ausdrücklich die bisherigen Aussagen des Beschuldigten Y betrifft, was mit Ziff. 6 des Auftrags der Fall ist, werden unweigerlich die Interessen des Mitbeschuldigten X berührt. Die Aussagen eines Mitbeschuldigten zu Taten, die er gemeinsam mit einem Dritten (oder mehreren Dritten) begangen hat oder haben soll, enthalten immer auch ausdrückliche oder stillschweigende Äusserungen zur Frage nach der Beteiligung des Mitbeschuldigten, dem Umfang seiner Beteiligung und seiner Rolle bei der gemeinschaftlichen Tatverübung. Deshalb muss ein Gutachten zu den bisherigen Aussagen eines Mitbeschuldigten den übrigen Mitbeschuldigten offen gelegt werden. Davon könnte nur abgesehen werden, wenn die konkrete Fragestellung so eingeschränkt wäre, dass die Interessen der Mitbeschuldigten nicht betroffen sind oder nicht betroffen sein können. Dies ist hier nicht der Fall. Vielmehr wird gefragt, ob eine allfällig festgestellte psychische Störung oder Störung der Persönlichkeitsentwicklung einen Einfluss auf das Aussageverhalten haben könne, und wenn ja, wie sich solche Störungen auswirken könnten. Zudem wird schliesslich sogar danach gefragt, ob die bisherigen Aussagen aus psychiatrischer Sicht problematisch oder durch allfällige Störungen beeinflusst und in welcher Hinsicht die Aussagen allenfalls problembehaftet seien. Dies geht schon in Richtung Glaubhaftigkeitsgutachten, womit ein Anspruch von X auf Einsicht in die Antwort und Erkenntnisse der Gutachterin auf Fragen zu den Aussagen, die Y im Strafverfahren gemacht hat, besteht. Die diesbezüglichen Erkenntnisse der Gutachterin betreffen offensichtlich auch den Mitbeschuldigten X.

Weil die Frage 6 bezüglich der bisherigen Aussagen des Beschuldigten Y ausdrücklich auf die allfällige psychische Störung oder Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Begutachteten verweist, muss auch die Antwort der Gutachterin zur in Ziff. 1 gestellten Frage nach der psychischen Störung dem Mitbeschuldigten X offen gelegt werden. Die Antwort der Gutachterin zu Ziff. 6 ist nicht denkbar und nachvollziehbar ohne die Antworten zu Ziff. 1. Diese sind daher X offenzulegen. Insofern ist die angefochtene Verfügung nicht zu beanstanden.

cc) Die Staatsanwaltschaft schützte das Akteneinsichtsgesuch indessen lediglich betreffend die Gutachtenserkenntnisse Ziff. 1 und Ziff. 6 (Auszüge Seiten 32 und 34). Die Auszüge auf den Seiten 32 und 34 des Gutachtens betreffen nur die kurzen zusammenfassenden Antworten der Gutachterin auf die beiden Fragen 1 und 6. Grundlegend für die zusammenfassende Beantwortung sind indessen die eigentlichen Ausführungen zu diesen Themen im Gutachten. Demnach reicht es nicht, dem Mitbeschuldigten X nur die kurzen Antworten auf die Frage nach der gutachterlichen Beurteilung der bisherigen Aussagen des Mitbeschuldigten Y zu eröffnen. X ist durch diese Aussagen direkt betroffen. Die entsprechenden Ausführungen der Gutachterin auf S. 31 des Gutachtens sind deshalb ebenfalls zu eröffnen, zumal sie keine besonders sensiblen Aussagen enthalten. Die Beurteilung der Gutachterin über das Vorliegen einer psychischen Störung und über die Persönlichkeit von Y sind zwar grundsätzlich seiner Privat- oder Geheimsphäre zuzuordnen; sie enthalten aber keine übermässig sensiblen Ausführungen über Y, die schützenswert sind und gegenüber den Verteidigungsinteressen von X überwiegen. Die Ausführungen im Gutachten zu "einer psychischen Störung" und zur "Persönlichkeit" sind daher X zu eröffnen.

dd) Ob und inwieweit Geständnisse der beiden Mitbeschuldigten vorliegen, ist unerheblich. Geständnisse entbinden den Strafrichter nicht davon, Schuld- und Strafpunkt genau zu prüfen. Gerichtsnotorisch ist überdies, dass – gerade bei gemeinschaftlich verübten Delikten und erst recht bei einer Mehrzahl von eher komplizierten Delikten – die "Geständnisse" der Beteiligten in der Regel nicht deckungsgleich sind. Desgleichen spielt keine Rolle, ob Aussagen Dritter vorhanden sind. Die Aussagen eines Mitbeschuldigten sind zu wichtig, um sie ausblenden zu können. Gutachterliche Erkenntnisse zu den Aussagen und zum Aussageverhalten eines Mitbeschuldigten sind deshalb offenzulegen.

e) aa) Gutachterliche Ausführungen zur Frage der Schuldfähigkeit (Ziff. 2), zur Rückfallgefahr (Ziff. 3), zu einer Massnahme (Ziff. 4) und zu einer Massnahme für junge Erwachsene (Ziff. 5) sind sanktionsbezogen und gehören daher zur schützenswerten Privat- oder Intimsphäre von Y. Demnach hat der Anspruch des Mitbeschuldigten X auf Einsicht in diesen Teil des Gutachtens vor dem Schutz der Privatsphäre des Mitbeschuldigten Y grundsätzlich zurückzutreten.

bb) Die sensiblen, geschützten, die Privatsphäre des Begutachteten betreffenden Aussagen finden sich allerdings – wie hier – regelmässig nicht in dem Teil des Gutachtens, in dem kurz, häufig in einem Satz, die gestellten Fragen beantwortet werden, sondern im ausführlichen Teil, in dem der Experte begründet, wie und weshalb er zu seinen Antworten gekommen ist. Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb nicht Einsicht in alle Antworten des Experten gegeben werden soll. Die Frage der Schuldfähigkeit, der Rückfallgefahr und der Massnahmen wird an der öffentlichen Hauptverhandlung ohnehin diskutiert werden. Zudem muss jeder Beschuldigte und Mitbeschuldigte damit rechnen, dass diese Fragen gestellt und beantwortet werden. Solange es sich um kurze Antworten ohne sensible private Daten handelt, gilt der grundsätzliche Anspruch auf Akteneinsicht für alle Parteien.

cc) Zudem enthält jedes psychiatrische Gerichtsgutachten auch Bereiche ohne sensible Personendaten und Bereiche mit bereits bekannten Inhalten sowie Ausführungen der Gutachterin zu solchen Bereichen. Diesbezüglich besteht kein schützenswertes Interesse auf Geheimhaltung. Kein schützenswertes Interesse auf Geheimhaltung besteht auch bei den umfangreichen Ausführungen der Gutachterin zu den vorgeworfenen Straftaten, einschliesslich dem kurzen Abschnitt über die strafrechtlich relevante Vorgeschichte, die aus dem Auszug aus dem schweizerischen Strafregister stammt. Ebenso wenig ist ein Anspruch auf Geheimhaltung von Ausführungen der Gutachterin über Aussagen des Begutachteten "zum Tatvorlauf" und "zu den Taten selbst" ersichtlich. Neben dem fehlenden Geheimhaltungsschutz ist zu beachten, dass diese Ausführungen dem Strafrichter bekannt sein werden und der Begutachtete die Möglichkeit hat, in seiner Verteidigung mit diesen Aussagen zu argumentieren. Auch unter diesem Aspekt muss der Mitbeschuldigte X die Möglichkeit haben, diese Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und allenfalls zu verwenden. Die übrigen Teile des Gutachtens betreffend Akten der Invalidenversicherung, gutachterliche Untersuchung (ausgenommen "Tatvorlauf" und Taten selbst[9]), Untersuchungsbefunde, Fremdangaben[10] und die Beurteilung (ausgenommen Aussageverhalten[11]) fallen demgegenüber ohne weiteres unter den Geheimnisschutz.

dd) Die Staatsanwaltschaft hält fest, nicht eröffnete Passagen des Gutachtens dürften nicht zulasten des Mitbeschuldigten X verwendet werden. In der Beschwerdeantwort erklärt sie, sie werde das Gutachten nicht zur Beweisführung betreffend den geplanten Anklagesachverhalt und hierbei auch nicht zur Rollenverteilung verwenden. Diese Hinweise und Absichtserklärungen sind nicht geeignet, eine Einschränkung des Einsichtsrechts zu begründen, denn der Anspruch auf Akteneinsicht hängt nicht davon ab, was die Staatsanwaltschaft mit den Akten zu tun gedenkt und wie sie deren Verwertbarkeit einschätzt. Zudem macht X zu Recht geltend, die Einsicht sei deshalb zu gewähren, weil es auch um entlastende Umstände gehe, die für die Verteidigung von Nutzen wären.

3. a) X beantragt im Eventualfall, die volle Einsicht sei der Verteidigerin zu gewähren. Einschränkungen des rechtlichen Gehörs und damit des Anspruchs auf Akteneinsicht gegenüber Rechtsbeiständen seien gemäss Art. 108 Abs. 2 StPO nur zulässig, wenn der Rechtsbeistand selbst Anlass für die Beschränkung gebe.

b) Die Staatsanwaltschaft verwies zwar auf Art. 108 Abs. 2 StPO und darauf, dass gemäss Lehre einem Rechtsbeistand die Einsicht auch in medizinische Gutachten mit vertraulichem Inhalt über Drittpersonen ermöglicht werden solle, allenfalls unter Anordnung sichernder Auflagen, wobei in der Lehre zugestanden werde, dass eine Anordnung sichernder Auflagen im Hinblick auf ein Vertrauensverhältnis immer problembehaftet sei. Indessen erwog die Staatsanwaltschaft, Akten mit Inhalten aus der höchstpersönlichen Sphäre müssten vor der generellen Einsichtnahme jeglicher Dritter geschützt sein, da ansonsten dieser Schutzbereich durch strafprozessuale Auflockerungen unterminiert werde. Eine immer vorzunehmende Verhältnismässigkeitsprüfung habe sich regelmässig mit der Frage auseinanderzusetzten, ob im Fall eines tangierten Geheimnisschutzes die Interessen an einem Eingriff in einen Schutzbereich gerechtfertigt seien oder einem zu gewährenden Schutz anderweitig gerecht werden könne. Wenn diese Prüfung ergebe, dass ein gewisser Schutzbereich vor der Einsichtnahme Dritter zu schützen sei und damit unangetastet bleiben müsse, sei nicht einzusehen, weshalb dieser Schutzbereich nicht absolut gelten solle und gegenüber Rechtsbeiständen aufgelockert werde. Dies gelte umso mehr, wenn es sich beim Rechtsbeistand um die Verteidigung eines Dritten handle und diese Verteidigung gemäss Art. 128 StPO einzig und allein den Interessen des Dritten verpflichtet sei. In solchen Fällen eine Akteneröffnung unter sichernden Auflagen zu genehmigen, sei weltfremd und illusorisch, wenn man bedenke, dass gerade eine Verteidigung aufgrund des Mandats- und hieraus erwachsenden Vertrauensverhältnisses verpflichtet sei, der Mandantschaft spätestens auf deren Verlangen hin vom Inhalt der eröffneten Akten geeignet Kenntnis zu verschaffen. Es stelle sich rein faktisch die Frage, wie einer Verteidigung die Einsichtnahme gewährt werden könne, ihr aber zugleich vorzuschreiben sei, ihrem Mandanten vom Inhalt keine Kenntnis zu geben. Ganz abgesehen davon, dass eine solche Regelung eine Verteidigung in einen gewissen Interessenkonflikt bringe, sei sie nicht kontrollierbar. Deshalb habe die Einschränkung einer allfälligen Akteneinsicht in diesem Fall auch gegenüber der Verteidigung des Mitbeschuldigten Bestand.

c) Die Erwägungen der Staatsanwaltschaft weisen zutreffend auf die Problematik hin, wonach einerseits Art. 108 Abs. 2 StPO ein Missbrauchspotential beim Rechtsbeistand selber erfordert und andererseits ein gewisses Missbrauchspotential bei einer wirksamen und gebotenen Interessenwahrung, erst recht bei einer kompromisslosen Interessenwahrung, gleichsam im Licht der anwaltlichen Treue- und Sorgfaltspflicht gemäss Art. 12 lit. a BGFA "systemimmanent" ist. Eine wirksame Interessenwahrung ist kaum möglich, ohne der Mandantschaft auf die eine oder andere Art Angaben offen zu legen, welche die Strafuntersuchungsakten dazu enthalten. Auch kann die Gefahr nicht ausgeschlossen werden, dass die Beauftragten unabsichtlich diesbezügliche Indiskretionen begehen[12]. Zudem kann die Geheimhaltung durch den Verteidiger nicht gestützt auf Art. 73 Abs. 2 StPO gesichert werden, namentlich durch ein Verbot gemäss Art. 292 StGB, weil diese Bestimmung nur für die Privatklägerschaft und andere Verfahrensbeteiligte (Zeugen) sowie deren Rechtsbeistände, nicht jedoch für Beschuldigte und deren Verteidiger gilt[13]. Somit blieben letztlich wohl nur standesrechtliche Sanktionen, wobei allerdings nicht absehbar ist, ob und wie bei einem solchen Interessenkonflikt sanktioniert würde. Ob ein solcher Interessenkonflikt genügen kann, um ein in der Person des Verteidigers liegendes Missbrauchspotenzial im Sinn von Art. 108 Abs. 2 StPO zu begründen[14], kann hier offen gelassen werden.

Im Umgang mit Mitmenschen vermittelt Art. 28 ZGB das Recht auf Achtung der Privatsphäre. Grundrechtlich garantieren das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens[15] sowie das Recht auf persönliche Freiheit[16] den Schutz der Persönlichkeit. Mit den materiellen strafrechtlichen Normen zum Schutz verschiedener Geheimnisse und der Geheim- und Privatsphäre[17] wird der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz verstärkt[18]. Dieser "verstärkte" Persönlichkeits- und Geheimnisschutz ist insofern von Bedeutung, als er dem Schutz von Informationen dient und deren Bekanntgabe auch im Rahmen eines Strafverfahrens und Strafprozesses gegenüber jedermann Grenzen setzt[19]. Demnach geht das Einsichtsrecht der Verteidigerin nicht über dasjenige ihres Mandanten X hinaus. Der Eventualantrag von X, der Verteidigerin sei die volle Einsicht in das Gutachten zu gewähren, ist somit abzuweisen.

Obergericht, 2. Abteilung, 4. Mai 2016, SW.2016.30/33

Auf eine dagegen erhobene Beschwerde trat das Bundesgericht am 10. Januar 2017 nicht ein (1B_261/2016).


[1] Art. 104 Abs. 1 lit. a StPO

[2] Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO

[3] RBOG 2013 Nr. 25; BGE 139 IV 35

[4] Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hans­jakob/Lieber), 2.A., Art. 108 N 1 (gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse oder Schutz von Grundrechten Dritter; Verhältnismässigkeit)

[5] Lieber, Art. 108 StPO N 6b; Schmid, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2.A., N 626

[6] BGE vom 11. Mai 2015, 1B_315/2014, Erw. 4.4

[7] Vgl. BGE vom 2. September 2014, 1B_130/2014, Erw. 1.4.2

[8] Zuberbühler, Geheimhaltungsinteressen und Weisungen der Strafbehörden an die Verfahrensbeteiligten über die Informationsweitergabe im ordentlichen Strafverfahren gegen Erwachsene, Diss. Zürich 2011, N 113

[9] Eigenangaben zur Lebensgeschichte, psychiatrische Vorgeschichte, aktuelle Medikation, Drogenanamnese, medizinische Vorgeschichte und aktuelle Situation

[10] Telefonat mit Beiständin

[11] Psychische Störung, Persönlichkeit, Schuldfähigkeit, Rückfallgefahr, Massnahme

[12] Schmutz, Basler Kommentar, Art. 101 StPO N 20; Lieber, Art. 108 StPO N 11a; BGE 139 IV 300 f. (= Pra 103, 2014, Nr. 8)

[13] Saxer/Thurnheer, Basler Kommentar, Art. 73 StPO N 13; Brüschweiler, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lie­ber), 2.A., Art. 73 N 6; Schmid, N 557; vgl. BGE vom 11. Juli 2013, 1C_547/2013, Erw. 2.5

[14] Vgl. Lieber, Art. 108 StPO N 11a

[15] Art. 13 BV, Art. 8 Ziff. 1 EMRK und Art. 17 IPBPR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, SR 0.103.2)

[16] Art. 10 BV

[17] Art. 320 und Art. 293 StGB (Amtsgeheimnis), Art. 321 f. StGB (Berufsgeheimnis), Art. 162 und 273 StGB (Fabrikations- und Geschäftsgeheimnis) sowie Art. 179 - 179novies StGB (Schutz der Geheim- und Privatsphäre)

[18] Zuberbühler, N 114

[19] Zuberbühler, N 115

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