RBOG 2016 Nr. 5
Kindeswohlgefährdung bei psychischer Störung eines Elternteils; Weisung und Beistandschaft
Art. 307 Abs. 3 ZGB, Art. 307 Abs. 1 ZGB, Art. 308 Abs. 1 ZGB, Art. 308 Abs. 2 ZGB
1. a) Die Beschwerdeführerin ist die alleinerziehende Mutter der zwölfjährigen X. Im Juni 2013 meldete die Beschwerdeführerin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, sie beabsichtige, X ab 1. August 2013 bei Pflegeeltern als "Wochenendaufenthalterin" anzumelden; ihre Tochter werde dort auch die Schule besuchen. Im Juli 2013 teilte die Beschwerdeführerin der Behörde mit, dass sich X während der Schnupperwoche bei den Pflegeeltern nicht wohlgefühlt habe, weshalb ihre Tochter wieder bei ihr wohne. Alsdann reichte die Primarschulgemeinde bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde eine Gefährdungsmeldung betreffend X ein. Ende 2014 verfasste der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst ein familienpsychologisches und kinderpsychiatrisches Gutachten. Die Gutachter empfahlen eine diagnostische Abklärung sowie eine psychiatrische / therapeutische Behandlung der Beschwerdeführerin.
b) Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde wies die Beschwerdeführerin an, sich bei einer Fachstelle diagnostisch abklären und sich entsprechend psychiatrisch / therapeutisch behandeln zu lassen.
c) Im Bericht an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde führte die Beiständin aus, die Beschwerdeführerin sei ursprünglich in therapeutischer Behandlung gewesen; sie habe jedoch die Behandlung nach nur drei Sitzungen mit der Begründung abgebrochen, dass sie eine Therapie nicht nötig habe. Schliesslich habe sie überzeugt werden können, die Externen Psychiatrischen Dienste aufzusuchen. Die behandelnden Ärztinnen hätten bei der Beschwerdeführerin keine Hinweise auf Schizophrenie oder eine manische Störung finden können; hingegen sei eine "auffällige Persönlichkeit" festgestellt worden. Laut den Ärztinnen seien bei der Beschwerdeführerin weder eine Therapie noch Unterstützungsmassnahmen sinnvoll.
d) Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde genehmigte den Bericht der Beiständin und wies den Antrag der Beiständin auf Aufhebung der Beistandschaft "im Bereich der Überwachung der erteilten Weisungen" ab. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin angewiesen, sich weiterhin psychiatrisch / therapeutisch behandeln zu lassen. Mit Blick auf X werde ausserdem die Beistandschaft im Sinn von Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB fortgesetzt. Dabei wurde die Beiständin beauftragt, im Rahmen regelmässiger Gespräche mit der Beschwerdeführerin zu überprüfen, inwiefern sich diese tatsächlich Unterstützung zukommen lasse. Die Beschwerdeführerin erhob dagegen Beschwerde.
2. a) aa) Die Erfüllung der Grundbedürfnisse des Kindes ist die Voraussetzung für das Kindeswohl. Zu den Grundbedürfnissen des Kindes gehören unter anderem das Bedürfnis nach Ernährung und Versorgung, Erhalt der Gesundheit, Sicherheit beziehungsweise Schutz vor Gefahren, Zuwendung und Liebe, stabile Bindung, die auch Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ermöglicht, sowie Bildung respektive Vermittlung von Wissen, Regeln und Erfahrungen. Ausgegangen wird auch vom Bedürfnis des Kindes nach seiner Beziehung zu beiden Elternteilen. Je jünger das Kind, desto grösser ist seine Abhängigkeit und sein Bedürfnis nach Schutz. Auch ist die Gefährdung deshalb umso höher, weil ernste Störungen in einer frühen Entwicklungsphase starke und andauernde psychische Beeinträchtigungen zur Folge haben können. Die Gefährdung des Wohls des Kindes bezeichnet das Risiko der Nichterfüllung von Basisbedürfnissen[1].
bb) Bei optimaler psychischer Gesundheit wirken innere und äussere Einflüsse in der Weise zusammen, dass die Person sich wohl fühlt, sich optimal entwickelt, von ihren Fähigkeiten Gebrauch machen und durch konstruktives Handeln ihre Ziele erreichen kann, während minimale psychische Gesundheit bedeutet, dass innere und äussere Einflüsse im Konflikt zueinander stehen, was bei der Person zu Unbehagen, eingeschränkter oder fehlender Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, Nichterreichen der persönlichen Ziele und destruktivem Verhalten führt[2]. Dabei ist eine psychische Störung als Syndrom definiert, welches durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person charakterisiert ist. Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen. Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs- / ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten. Eine normativ erwartete und kulturell anerkannte Reaktion auf übliche Stressoren oder Verlust, wie zum Beispiel der Tod einer geliebten Person, sollte nicht als psychische Störung angesehen werden. Sozial abweichendes Verhalten (beispielsweise politischer, religiöser oder sexueller Art) und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft sind keine psychischen Störungen, es sei denn, der Abweichung oder dem Konflikt liegt eine der genannten Dysfunktionen zugrunde[3].
cc) Die psychische Erkrankung eines Elternteils stellt für ein Kind eine grosse Belastung dar. Auch wenn die Auswirkungen auf die Kinder je nach Art, Ausprägung und Verlauf der elterlichen Erkrankung sowie in Abhängigkeit weiterer Faktoren unterschiedlich sind, haben alle betroffenen Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko, selber Symptome mit Krankheitswert zu entwickeln. Dies können beispielsweise emotionale oder soziale Probleme, aggressive oder andere Verhaltensauffälligkeiten sowie Konzentrationsprobleme und schulische Leistungsschwierigkeiten sein. Nicht selten übernehmen Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind, Rollen und Aufgaben der Erwachsenen. Es ist zentral, dass der andere Elternteil oder eine andere verlässliche Bezugsperson dem Kind besondere Zuwendung, Schutz und Geborgenheit gibt, mit ihm auf altersgerechte Weise offen über die Erkrankung der Mutter spricht und seine Fragen und Ängste ernst nimmt[4]. Das deutlich erhöhte Risiko des Kindes, selbst psychisch zu erkranken, wird in vielen klinischen Studien belegt. Da die Ressourcen und Belastungen bei jedem Kind und in jeder Familie sehr unterschiedlich verteilt sind und wahrgenommen werden, müssen die Auswirkungen einer elterlichen psychischen Erkrankung in jedem Fall, unter Einbezug der Stärken und Defizite des Kindes sowie der Unterstützung vom Umfeld, individuell geprüft und beurteilt werden. Insgesamt scheint aber die genaue elterliche Diagnose (das heisst, ob der Elternteil unter Depression, Schizophrenie oder Borderline-Störung leidet) weniger eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Kindes und die erlebte kindliche Belastung zu spielen. Zentraler für das Erleben des Kindes ist der Umgang des Elternteils und des Umfelds mit der Erkrankung. Weniger Belastungen sind zu beobachten, wenn die Erkrankung rasch erkannt wird, die Hilfe in Form von Therapie und Medikation in Anspruch genommen wird, über die Erkrankung offen gesprochen wird und das Kind während den symptomfreien Perioden einen positiven Kontakt zum Elternteil erlebt[5].
dd) Die Behörde kann Eltern ermahnen und ihnen Weisungen erteilen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe sorgen oder sie dazu ausser Stande sind[6]. Die Behörde ist unter anderem auch befugt, eine Weisung zur Durchführung einer Therapie zu erlassen[7]. Wenn es die Verhältnisse erfordern, kann die Behörde ausserdem einen Beistand einsetzen, der die Eltern in ihrer Sorge um das Kind mit Rat und Tat unterstützt; zudem kann sie dem Beistand besondere Befugnisse übertragen[8].
b) aa) aaa) Im Gutachten des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes wurde der Beschwerdeführerin eine paranoide (wahnhafte) Symptomatik attestiert. Krankheitsbedingt seien bei der Beschwerdeführerin - so das Gutachten - die Wahrnehmung und Verarbeitung von Ereignissen beeinträchtigt. Die Ärztinnen der Externen Psychiatrischen Dienste entdeckten gemäss Bericht der Beiständin keine Hinweise auf eine Schizophrenie oder auf eine manische Störung; indessen sei eine "auffällige Persönlichkeit" festzustellen. Damit ist erstellt, dass die Psyche der Beschwerdeführerin beeinträchtigt ist; die Beeinträchtigung ist angesichts des allgemeinen Misstrauens der Beschwerdeführerin gegenüber anderen Menschen und ihrer fixen Vorstellung, wonach (nur) die Anderen für ihre unvorteilhafte private und berufliche Situation verantwortlich seien, auch für Laien offensichtlich.
bbb) Damit stellt sich die Frage, ob aufgrund des psychischen Zustands der Beschwerdeführerin die Erziehungsfähigkeit beeinträchtigt ist, mithin die Grundbedürfnisse von X nicht mehr erfüllt sind und damit eine Gefährdung des Wohls des Kindes vorliegt. Die Gutachter des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes gingen von einer solchen Gefährdung aus. Bezeichnenderweise stellten die Experten fest, dass bei der Beschwerdeführerin die Wahrnehmung und Verarbeitung von Ereignissen beeinträchtigt seien, was X nicht verborgen bleibe. X habe die Annahme, dass andere Menschen ihr gegenüber feindlich gesinnt seien, von ihrer Mutter übernommen und diese Sichtweise in Konfliktsituationen hineinprojiziert, mit der Konsequenz, dass die Konflikte dadurch unlösbar geworden seien. Deshalb werde eine diagnostische Abklärung und Behandlung der Kindesmutter vorgeschlagen. Gleichzeitig stellten die Gutachter für den Fall, dass sich an der "psychisch auffälligen Situation" der Beschwerdeführerin nichts ändere, den Verbleib von X bei ihrer Mutter in Frage. Damit ist hier von einer Gefährdung des Wohls des Kindes auszugehen, zumal festzustellen ist, dass X mit ihrem Verhalten in der Schule immer wieder aneckt. Ausserdem scheint das Kind keine Freundschaften zu gleichaltrigen Kindern zu pflegen; vielmehr ist X offenbar hauptsächlich auf die Mutter und die Grossmutter fixiert. Das Fehlen von sozialen Beziehungen und das ständige Führen von unnötigen Konflikten sind Belastungen, welche das Wohl des Kindes gefährden[9]. Vor diesem Hintergrund erscheint mit Blick auf X eine Beistandschaft im Sinn von Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB nach wie vor als angezeigt.
bb) aaa) Gemäss Bericht der Beiständin kamen die Ärztinnen der Externen Psychiatrischen Dienste im Zusammenhang mit der Weisung, wonach sich die Beschwerdeführerin einer Therapie zu unterziehen habe, zum Schluss, dass eine Behandlung unter Zwang keine Aussicht auf Erfolg habe. Demgegenüber scheinen die Gutachter des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes anderer Auffassung zu sein. Allerdings gingen auch die Externen Psychiatrischen Dienste davon aus, dass die Beschwerdeführerin eine wohlwollende Unterstützung und Stärkung in ihrer Rolle als Mutter "mit dem Fokus auf das Wohl ihrer Tochter" benötige. Die Therapie bei den Externen Psychiatrischen Diensten wurde denn auch nicht deshalb beendet, weil keine Notwendigkeit mehr bestanden hätte, sondern weil die Beschwerdeführerin die Behandlung abgebrochen hat. Die Notwendigkeit einer Unterstützung und Behandlung der Beschwerdeführerin ist offensichtlich, zumal X gemäss Gutachten des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes durch die psychische Verfassung ihrer Mutter belastet wird. So stellten die Gutachter fest, dass X dazu neige, für ihre Mutter die Verantwortung zu übernehmen, was nicht altersadäquat sei; ausserdem habe das Kind bereits die misstrauische Sicht ihrer Mutter auf andere Menschen übernommen, weshalb das Kind auch sehr schnell davon überzeugt sei, dass es in der Schule unfair behandelt werde.
bbb) Somit stellt sich hier die Frage, ob die Weisung, sich psychiatrisch / therapeutisch behandeln zu lassen, auch tatsächlich geeignet ist, die psychische Verfassung der Beschwerdeführerin zu verbessern und so die Gefährdung des Wohls von X zu verringern. Eine Therapie kann grundsätzlich auch gegen den Willen der Betroffenen angeordnet werden[10]. Es ist in einem solchen Fall allerdings nicht auszuschliessen, dass eine zwangsweise Therapie das Misstrauen der Betroffenen gegenüber der Behörde und den Fachärzten schürt, was dem Erfolg der Behandlung abträglich ist. Ohne psychiatrische / therapeutische Behandlung der Beschwerdeführerin besteht indessen die Gefahr, dass eine Fremdplatzierung von X notwendig wird, was einen äusserst schweren Eingriff in die Mutter-Tochter-Beziehung bildet, der nicht leichtfertig in Kauf genommen werden sollte. Allerdings stellte sich hier die Beschwerdeführerin nicht vehement gegen eine Therapie. So gab die Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer Anhörung zu Protokoll, dass "sie dann halt eine Therapie mache", wenn die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde eine solche anordne. Die vorinstanzliche Anordnung erweist sich daher mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip[11] als gerechtfertigt, und die Beschwerdeführerin tut gut daran, sich zum Schutz des Wohls des Kindes der Weisung zu unterziehen. Sollte sie dies nicht tun, ist es der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde nach der nächsten Berichterstattung durch die Beiständin unbenommen, die Situation neu zu überprüfen und gegebenenfalls weiterführende Massnahmen zu ergreifen. Zusammenfassend ist die angefochtene Weisung zu bestätigen.
Obergericht, 1. Abteilung, 13. Januar 2016, KES.2015.73
[1] Ludewig/Baumer/Salzgeber/Häfeli/Albermann, Richterliche und behördliche Entscheidfindung zwischen Kindeswohl und Elternwohl: Erziehungsfähigkeit bei Familien mit einem psychisch kranken Elternteil, in: FamPra 2015 S. 570
[2] Ludewig/Baumer/Salzgeber/Häfeli/Albermann, S. 579
[3] Ludewig/Baumer/Salzgeber/Häfeli/Albermann, S. 581
[4] Vgl. www.kinderschutz.ch (Suchbegriff: Kinder psychisch belasteter Eltern)
[5] Ludewig/Baumer/Salzgeber/Häfeli/Albermann, S. 572 - 574
[6] Art. 307 Abs. 1 und 3 ZGB
[7] BGE vom 3. Februar 2015, 5A_411/2014, Erw. 3.3.2
[8] Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB
[9] Vgl. Ludewig/Baumer/Salzgeber/Häfeli/Albermann, S. 571
[10] Vgl. BGE vom 10. Januar 2007, 5P.316/2006, Erw. 4.2
[11] Art. 389 Abs. 2 ZGB