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RBOG 2016 Nr. 6

Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts samt Obhut


Art. 310 Abs. 1 ZGB


1. a) X lebt seit ihrer Geburt zusammen mit ihrer Mutter, der Beschwerdeführerin, in einer betreuten Wohnform. Im fünften Altersjahr von X beantragte die Beschwerdeführerin, die Platzierung von X in der Pflegefamilie sei aufzuheben, und ihr sei zu gestatten, mit X eine eigene Wohnung zu beziehen. Sie habe von der Erfahrung der Pflegemutter profitieren können. Nun sei sie aber in der Lage, allein für ihre Tochter zu sorgen.

b) Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde hob die elterliche Obhut der Beschwerdeführerin über X auf und verfügte die Unterbringung von X in einer Pflegefamilie. Die Beschwerdeführerin erhob Beschwerde mit dem Antrag, der Entscheid sei in Bezug auf den Obhutsentzug aufzuheben; allenfalls sei die elterliche Sorge der Beschwerdeführerin über ihre Tochter soweit einzuschränken, dass die Beschwerdeführerin nicht mehr allein über den Aufenthalt von X bestimmen könne.

2. a) aa) Kann der Gefährdung des Kindes nicht anders begegnet werden, so hat die Kindesschutzbehörde gestützt auf Art. 310 Abs. 1 ZGB (Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts) das Kind den Eltern oder, wenn es sich bei Dritten befindet, diesen wegzunehmen und in angemessener Weise unterzubringen.

bb) Die Gefährdung muss darin liegen, dass das Kind in der elterlichen Obhut nicht so geschützt und gefördert wird, wie es für seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung nötig wäre. Unerheblich ist, auf welche Ursachen die Gefährdung zurückzuführen ist: Sie können in den Anlagen oder in einem Fehlverhalten des Kindes, der Eltern oder der weiteren Umgebung liegen. Desgleichen spielt keine Rolle, ob die Eltern ein Verschulden an der Gefährdung trifft. Massgebend sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Entziehung. Alle Kindesschutzmassnahmen müssen erforderlich sein, und es ist immer die mildeste erfolgversprechende Massnahme anzuordnen (Proportionalität und Subsidiarität); diese soll elterliche Bemühungen nicht ersetzen, sondern ergänzen (Komplementarität). Die Entziehung der elterlichen Obhut ist daher nur zulässig, wenn andere Massnahmen ohne Erfolg geblieben sind oder von vornherein als ungenügend erscheinen[1].

cc) Wird den sorgerechtsberechtigten Eltern in Anwendung von Art. 310 Abs. 1 ZGB die Obhut über ein Kind entzogen, hat dies zur Folge, dass das Obhutsrecht der Eltern auf die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde übergeht, welche über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmt[2].

b) aa) Der Begriff "Obhut" wurde bis vor Inkrafttreten der Revision über die gemeinsame elterliche Sorge per 1. Juli 2014 in die rechtliche und die faktische Obhut aufgeteilt. Die rechtliche Obhut, auch elterliche Obhut, Obhutsrecht, Aufenthaltsbestimmungsrecht genannt, war das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Die faktische Obhut, auch tatsächliche Obhut, wurde verstanden als Zustand des tatsächlichen Zusammenlebens mit einem Kind in häuslicher Gemeinschaft, die faktische Betreuung, Pflege und Erziehung im Alltag inklusive den Rechten und Pflichten, die damit verbunden sind[3]. In der Rechtsprechung wurde jedoch allgemein nicht zwischen Obhutsrecht und faktischer Obhut unterschieden, sondern generell von Obhut gesprochen, mit welcher das gesamte Rechtsbündel (Aufenthaltsbestimmung, tägliche Betreuung, Pflege und Erziehung) gemeint war[4].

bb) Nach dem neuen Recht beinhaltet die Obhut die Befugnis, mit dem minderjährigen Kind in häuslicher Gemeinschaft zu leben und für seine tägliche Betreuung sowie Erziehung zu sorgen; sie entspricht damit der "faktischen Obhut" des bisherigen Rechts. Demgegenüber entfällt der Begriff der rechtlichen Obhut und wird durch das Aufenthaltsbestimmungsrecht ersetzt. Dieses beinhaltet die Befugnis, den Aufenthaltsort des Kindes und die Art der Unterbringung zu bestimmen[5]. Die Wahrnehmung der Obhut erfordert weiterhin erzieherische Fähigkeit, die allerdings - ähnlich der Urteilsfähigkeit - grundsätzlich vorauszusetzen ist[6].

c) Die Vorinstanz verfügte die Unterbringung von X in eine Pflegefamilie. Im Dispositiv wird weder festgehalten, dass die Tochter zusammen mit ihrer Mutter dort wohnen soll, noch wird für die Beschwerdeführerin ein Besuchsrecht geregelt. Laut ihren Erwägungen geht die Vorinstanz davon aus, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Tochter (zumindest vorderhand) dort zusammen wohnen kann. Sie entzog also der Beschwerdeführerin gemäss Dispositiv das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die "Obhut", obwohl sie davon ausging, dass Mutter und Tochter zusammenbleiben. Die Obhut umfasst jedoch nicht nur das Recht, mit dem Kind zusammen zu wohnen; dazu gehören auch die Rechte und Pflichten betreffend die alltägliche Betreuung und Erziehung des Kindes. Weil die Vorinstanz im Dispositiv anordnete, es werde die "Obhut" aufgehoben, ist davon auszugehen, dass sie der Beschwerdeführerin auch diese Rechte und Pflichten entziehen wollte. In der Begründung des angefochtenen Entscheids wird dazu ausgeführt, die Fremdplatzierung in irgendeiner Form (mit oder ohne Mutter) sei weiterhin unumgänglich, und die Beschwerdeführerin sei nicht fähig, für X allein zu sorgen. Indem X in der Pflegefamilie untergebracht ist und mit einer Fremdplatzierung die Pflegeeltern die Obhut mit den Rechten und Pflichten im Zusammenhang mit der Pflege und Erziehung des Kindes erhalten, kann der angefochtene Entscheid nichts anderes bedeuten, als dass die Beschwerdeführerin zwar (derzeit) mit ihrer Tochter zusammen lebt, aber mangels Obhut nicht mehr die Verantwortung für die Pflege und Erziehung der Tochter trägt.

3. a) aa) Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie führte in seiner ärztlichen Stellungnahme aus, ihm sei die Beschwerdeführerin zugewiesen worden, nachdem es zu einem Vorfall gekommen sei, bei welchem die Beschwerdeführerin eine Episode geschildert habe, die ein Produkt ihrer Phantasie gewesen sei. Es hätten anschliessend acht Konsultationen stattgefunden. Es seien keine weiteren Konsultationen mehr vorgesehen, da Therapiemotivation und Therapiefähigkeit in Frage gestellt seien und die Beschwerdeführerin kein Interesse an weiteren Gesprächen geäussert habe. Auf Grundlage der acht erfolgten Gespräche und unter Berücksichtigung der fremdanamnestischen Angaben habe sich der Eindruck ergeben, dass bei der Beschwerdeführerin eine Intelligenzminderung respektive eingeschränkte Urteilsfähigkeit vorliege, welche eine recht enge Betreuung sowie Aufrechterhaltung der Beistandschaft notwendig erscheinen lasse. Das Betreuungssetting, wie es sich derzeit darstelle, erscheine sinnvoll und notwendig. Zunächst bestehe eine Platzierung in einer Pflegefamilie, in welcher auf eine regelmässige Tagesstruktur geachtet werde, Risikoverhalten frühzeitig erkannt und entsprechend gehandelt werden könne; es komme zu einem angemessenen Eingreifen, wenn es auf der Verhaltensebene – insbesondere im Kontaktverhalten – offensichtlich zu Entgleisungen komme. Zudem sei eine Verbeiständung erforderlich, um der Beschwerdeführerin bei allen finanziellen und behördlichen Angelegenheiten zu helfen, welche sie sicherlich nicht allein werde übernehmen können. Weiter bedürfe es einer Betreuung und Verbeiständung der Tochter, da der Beschwerdeführerin nicht in vollem Umfang die Fürsorge für das Kindeswohl übertragen werden könne. Schliesslich sei die geschützte Arbeitstätigkeit in einer sozialen Einrichtung fortzuführen, um die Ressourcen und das Sozialverhalten der Beschwerdeführerin zu fördern und einer Regression entgegenzuwirken. Im Lauf der Gespräche habe sich gezeigt, dass der Grad der Intelligenzminderung höher liege, als es zunächst den Anschein gemacht habe. Es habe sich der Eindruck fehlender Reflexionsfähigkeit, deutlich verminderter inhaltlicher Aufnahmefähigkeit, oftmals fehlender Logik in der Argumentation, deutlich eingeschränkter Abschätzung der Konsequenzen des eigenen Handelns, inkonstanter Einschätzung der eigenen Situation und Bewertung der Sinnhaftigkeit beziehungsweise Notwendigkeit der aufgegleisten Unterstützungsleistungen, und eine bedenklich unkritische Haltung bezüglich sozialer Kontakte eingestellt. Der Facharzt empfahl abschliessend, wenn möglich die betreute Wohnform für die Beschwerdeführerin und ihre Tochter beizubehalten; falls dies nicht möglich sei, sei eine anderweitige Platzierung zu suchen, notfalls getrennt. Die Beistandschaft für die Beschwerdeführerin und ihre Tochter seien beizubehalten, und die geschützte Beschäftigung der Beschwerdeführerin sei fortzuführen. Schliesslich sei für ausreichende Fürsorge für das Kindeswohl zu sorgen, mit der Frage, ob es dem Kind nütze oder schade, wenn es weiterhin gemeinsam mit der Beschwerdeführerin platziert bleibe.

bb) Die Beiständin von X führte in ihrem ordentlichen Rechenschaftsbericht aus, die Beschwerdeführerin werde in ihrer Aufgabe als Mutter von der Pflegemutter von X unterstützt, begleitet und angeleitet. Jeder Entwicklungsschritt müsse eingeübt werden. Die Beschwerdeführerin fühle sich oft eingeengt und äussere, sie sei in der Ausübung ihrer Mutterrolle eingeschränkt, und die Pflegemutter mische sich zu sehr in die Erziehung ein. Es sei wichtig, dass für X und die Beschwerdeführerin eine neue Wohnform gefunden werde, wo X in einem kindgerechten Umfeld untergebracht sei, aber auch die Beschwerdeführerin bestens betreut und begleitet werde. Nur durch eine intensive Begleitung sei eine optimale Entwicklung und Förderung von X gewährleistet. Die Beiständin beantragte, die bestehende Beistandschaft weiterzuführen und die Beschwerdeführerin in ihrer elterlichen Sorge soweit einzuschränken, dass sie bezüglich des Aufenthalts von X nicht mehr selber entscheiden könne. An der aktuellen Wohnform sei festzuhalten; es sei zwingend notwendig, dass die Beschwerdeführerin in der Ausübung ihrer Mutterrolle intensiv begleitet und unterstützt werde. Bei der künftigen Wohnform sei deshalb nur eine betreute Wohnform möglich.

b) aa) Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen den Entzug der Obhut über ihre Tochter; hingegen ist sie ausdrücklich damit einverstanden, dass die Beistandschaft für X beibehalten werde. Weiter akzeptierte die Beschwerdeführerin auch, dass ihr Recht auf Bestimmung des Aufenthalts von X eingeschränkt werde, und sie war bereit, mit X in die neue Pflegefamilie umzuziehen. Sie anerkennt damit konkludent, dass sie einer Unterstützung bei der Pflege und Erziehung ihrer Tochter bedarf.

bb) Das Verhältnis zwischen der vormaligen Pflegemutter und der Beschwerdeführerin trübte sich offensichtlich wegen unterschiedlicher Auffassungen über die Erziehung. Dies ergibt sich aus dem Beistandsbericht, aber auch aus dem Schreiben der Beschwerdeführerin an die Vorinstanz. Darin rügt sie unter anderem, es werde ihr vorgeschrieben, wie sie allein mit ihrer Tochter die Freizeit und die Ferien verbringen dürfe, und die Pflegemutter mische sich in Erziehungsfragen ein oder treffe ohne ihre Einwilligung entsprechende Entscheidungen.

cc) Im Sinn des Kindeswohls sollte vermieden werden, dass es wieder zu einem Zerwürfnis und zu einem erneuten Wechsel der Pflegefamilie kommt. Deshalb ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz das Aufenthaltsbestimmungsrecht samt Obhut entzog, ohne zuvor ein Erziehungsgutachten einzuholen. In der Tat kann auf ein solches verzichtet werden, denn dass die Beschwerdeführerin Unterstützung braucht, ist offensichtlich und wird von ihr auch nicht in Frage gestellt.

dd) Damit die Unterstützung, welche der Beschwerdeführerin in Erziehungsfragen gewährt wird, auch effizient ist, muss sie durchsetzbar sein. Die bisherige Situation zeigte gerade, dass das betreute Wohnen mit Mutter und Kind ohne klare Kompetenzen in Erziehungsfragen zu Problemen führte. Bei Unsicherheiten und Streit in Erziehungsfragen, die mit dem Älterwerden von X immer anspruchsvoller werden, soll aber im Sinn des Kindeswohls die Pflegefamilie, allenfalls die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, entscheiden können, weil die Beschwerdeführerin gerade bei der Erziehung auf Hilfe angewiesen ist. Die von der Kindes- und Erwachsenenbehörde getroffene Anordnung ist daher nicht zu korrigieren.

Obergericht, 1. Abteilung, 1. März 2016, KES. 2016.7


[1] BGE vom 7. September 2015, 5A_401/2015, Erw. 5.2; BGE vom 17. Mai 2013, 5A_188/2013, Erw. 3; BGE vom 12. März 2012, 5A_701/2011, Erw. 4.2.1

[2] BGE vom 8. Januar 2015, 5A_736/2014, Erw. 2.2; BGE 128 III 10

[3] Gloor, Der Begriff der Obhut, in: FamPra.ch 2015 S. 338 ff.

[4] BGE 136 III 356

[5] Schwenzer/Cottier, Basler Kommentar, Art. 296 ZGB N 6 f.; vgl. Gloor, S. 347 f.

[6] Breitschmid, Basler Kommentar, Art. 133 ZGB N 15

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