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RBOG 2016 Nr. 7

Notwendigkeit einer Kindesvertretung ?


Art. 314 a Abs. 1 bis ZGB


1. a) X und Y sind die geschiedenen Eltern von A, B und C. Bei der Scheidung im Jahr 2010 wurde die elterliche Sorge über die Kinder der Mutter Y zugeteilt; dem Vater X wurde ein Besuchsrecht eingeräumt.

b) Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde entzog der Mutter im Oktober 2013 die Obhut über die drei Kinder und platzierte diese in Pflegefamilien, räumte der Mutter ein Besuchsrecht ein, dessen Ausgestaltung sich nach den Empfehlungen des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensts zu richten habe, und sistierte das Besuchsrecht des Vaters. Zudem erteilte die Behörde den Eltern Weisungen, errichtete für die Kinder eine Beistandschaft und beauftragte Rechtsanwalt Z mit der Rechtsvertretung der Kinder. Eine gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde des Vaters schützte das Obergericht teilweise, hob die ihn betreffende Besuchsrechtsregelung auf und wies die Streitsache für weitere Abklärungen an die Vorinstanz zurück.

c) Mittlerweile sind alle drei Kinder in der gleichen Pflegefamilie untergebracht.

d) Von November 2013 bis Mai 2014 führte der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst eine multisystemische Therapie im Kinderschutz (MST-CAN) durch, um die Beziehung zwischen dem Vater und den Kindern zu verbessern, die Kinder möglichst schnell aus den Pflegefamilien zurück in die Obhut der Mutter zu bringen und die Erziehungskompetenz der Eltern zu verbessern. Die Therapie wurde vorzeitig abgebrochen, weil eine Rückführung der Kinder zur Mutter nicht möglich war.

e) Rechtsanwalt Z beantragte darauf, er sei aus seinem Mandat als Kinderanwalt zu entlassen, weil die Kinder nun definitiv in einer Pflegefamilie untergebracht seien und sich nach der Einschätzung des Beistands die Situation entspannt habe.

f) Auf Antrag des Beistands der Kinder entzog die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde dem Vater superprovisorisch das Recht auf persönlichen Verkehr mit den drei Kindern. Nach Anhörung der Eltern und der Kinder installierte die Behörde als vorsorgliche Massnahme ein begleitetes Besuchsrecht für den Vater, untersagte telefonische oder schriftliche Kontakte zu den Kindern und verpflichtete den Beistand, das begleitete Besuchsrecht zu organisieren. Dagegen erhoben beide Elternteile Beschwerde, welche das Obergericht abwies.

g) Im April 2015 wurde A aufgrund einer schweren depressiven Episode mit akuter Suizidalität für zwei Wochen fürsorgerisch untergebracht.

h) In der Folge wurde die Fachstelle Gutachten und Jugendforensik des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensts beauftragt, das Befinden der drei Kinder und die Erziehungsfähigkeit der Eltern sowie Fragen zum persönlichen Verkehr abzuklären.

i) Am 1. Oktober 2015 hob die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde das Mandat von Rechtsanwalt Z als Kinderanwalt auf. Dieser Entscheid blieb unangefochten.

j) C teilte im November 2015 der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde mit, er möchte bei seinem Vater und nicht mehr bei der Pflegefamilie wohnen. Er hätte gerne einen Rechtsvertreter, der anders als Rechtsanwalt Z auf ihn höre. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde wies dieses Gesuch von C ab und entschied, es werde auch für A und B keine Kindesvertretung angeordnet. Dagegen erhob der Vater Beschwerde mit dem Antrag, den drei Kindern sei ein Vertreter ihrer Wahl beizustellen.

2. a) aa) Gemäss Art. 314abis Abs. 1 ZGB ordnet die Kindesschutzbehörde wenn nötig die Vertretung des Kindes an. Mit dieser Bestimmung kehrte die altrechtliche Regelung von Art. 146 f. aZGB, welche durch Art. 299 f. ZPO abgelöst wurde, wieder ins ZGB zurück. Sie bleibt indes prozessualer Natur und ist in Übereinstimmung mit Lehre und Praxis zur mittlerweilen konsolidierten Ordnung in der ZPO zu handhaben[1].

bb) Die Anordnung der Kindesvertretung liegt im Ermessen der Kindesschutzbehörde; das Gesetz sieht aber für zwei Fallgruppen eine Prüfungspflicht vor[2]: Die Kindesschutzbehörde prüft die Anordnung der Vertretung insbesondere, wenn die Unterbringung des Kindes Gegenstand des Verfahrens ist, oder wenn die Beteiligten bezüglich der Regelung der elterlichen Sorge oder wichtiger Fragen des persönlichen Verkehrs unterschiedliche Anträge stellen[3]. Massgebend ist dabei weniger das Volumen der Rechtsschriften oder ein gewissermassen quantitativer Faktor der Divergenz der Anträge als vielmehr der Eindruck, der sich der Behörde nach ersten Abklärungen und Gesprächen aufdrängt. Ausdrückliche Anträge der Beteiligten und insbesondere des Kindes bilden ein wichtiges Indiz[4]. Die Beurteilung der Notwendigkeit einer Kindesvertretung hat nach einem objektiven Massstab zu erfolgen; die Entscheidung ist unter Würdigung der gesamten Umstände nach Recht und Billigkeit zu treffen. Richtlinien sind dabei das Kindeswohl und in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Untersuchungsmaxime[5]. Für die Notwendigkeit einer Kindesvertretung genügt es somit nicht, dass die Frage der Kinderzuteilung heftig umstritten ist. Anders zu entscheiden hiesse, das vom Gesetzgeber nicht gewünschte Obligatorium einzuführen[6]. Je nach Konstellation des Einzelfalls ist insbesondere bei besonders strittigen Fragen und bei sogenannter qualifizierter Kooperationsunfähigkeit die Anordnung der Kindesvertretung zu prüfen[7]. Kindesvertretungen sind eine sinnvolle Einrichtung und nützen als "Übersetzungshilfe" in der manchmal nicht einfachen Kommunikation zwischen Institutionen und Betroffenen. Allerdings können zu viele Beteiligte ein Verfahren auch komplizieren und die Kommunikation in ihrer Unmittelbarkeit beeinträchtigen. Die Substanz kindesschutzrechtlicher Anordnungen liegt oft weniger in der formalen Phase der Entscheidfindung bezüglich einer konkreten Anordnung als in der weiteren Begleitung im Alltag durch einen geeigneten Beistand. Das kann im Einzelfall in der Abwägung dazu führen, die letztlich beschränkten Ressourcen stärker auf die kindeswohlgerechte Führung des beistandschaftlichen Mandats als in eine vorab rechtlich-verfahrensmässige Unterstützung zu investieren[8].

cc) Gemäss Art. 299 Abs. 3 ZPO ist eine Vertretung zwingend[9] anzuordnen, wenn das urteilsfähige Kind einen entsprechenden Antrag stellt. Die Nichtanordnung kann das Kind mit Beschwerde anfechten. Im Gegensatz zu Art. 299 Abs. 3 ZPO verzichtet Art. 314abis ZGB allerdings auf ein absolut formuliertes Recht des urteilsfähigen Kindes auf eine Vertretung und ein Beschwerderecht gegen deren Verweigerung; indes kann keinem Zweifel unterliegen, dass entsprechende Gesuche möglich sein müssen und ablehnende Entscheide rechtsmittelfähig sind[10]. In der Frage, wann ein Kind hinsichtlich der Vertreterbestellung urteilsfähig ist, besteht ein gewisses Ermessen. Der Zeitpunkt wurde in Art. 299 ZPO wie auch in Art. 298 ZPO offen gelassen, doch dürfte der Zeitpunkt hinsichtlich der Vertreterbestellung und der Anhörung gleich zu beurteilen sein[11]. Die Urteilsfähigkeit muss sich dabei "irgendwo" zwischen dem 7. und 14. Altersjahr lokalisieren lassen, wobei für die Beurteilung der Urteilsfähigkeit stets auf den Entwicklungsstand des betroffenen Kindes abzustellen ist[12]. Ein Teil der Lehre geht beim etwa zehn Jahre alten, durchschnittlich entwickelten Kind von einem persönlichkeitsbezogenen Mitwirkungsrecht aus[13], während ein anderer Teil der Lehre die Voraussetzungen für die Urteilsfähigkeit regelmässig erst ab dem 13. oder 14. Altersjahr als gegeben erachtet[14]. Das Bundesgericht wies in einem Entscheid betreffend Anhörung darauf hin, das Schwellenalter für die Anhörung sei von der kinderpsychologischen Erkenntnis zu unterscheiden, dass formallogische Denkoperationen erst ab ungefähr 11 bis 13 Jahren möglich seien und auch die sprachliche Differenzierungs- und Abstraktionsfähigkeit erst ab ungefähr diesem Alter entwickelt sei[15]. Damit dürfte die Urteilsfähigkeit sowohl in Bezug auf die Thematik von Art. 298 Abs. 3 ZPO als auch Art. 299 Abs. 3 ZPO in der Regel zwischen 10 und 12 Jahren bejaht werden[16], was auch für das Antrags- und Beschwerderecht nach Art. 314abis ZGB Geltung haben muss.

b) aa) Die Frage, ob die Vorinstanz das Gesuch von C um Anordnung einer Kindesvertretung mangels Urteilsfähigkeit zu Recht abwies, kann offen bleiben, da allein mit der Urteilsfähigkeit noch kein Anspruch auf einen Kinderanwalt im Sinn von Art. 314abis ZGB begründet werden kann. Voraussetzung der Anordnung einer Kindesvertretung ist deren Notwendigkeit.

bb) Die Vorinstanz erachtete die Kindesvertretung zunächst als notwendig. Daher ordnete sie mit Entscheid vom 21. / 24. Oktober 2013 eine Kindesvertretung an und beauftragte Rechtsanwalt Z mit der Rechtsvertretung von A, B und C. Mit Entscheid vom 1. Oktober 2015 hob die Vorinstanz die Rechtsvertretung der drei Kinder wieder auf und entliess Rechtsanwalt Z als Kinderanwalt auf dessen eigene Anregung hin. Dieser Entscheid wurde sämtlichen Betroffenen - auch dem Beschwerdeführer - zugestellt und erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Der Beschwerdeführer hätte den Entscheid der Vorinstanz folglich anfechten müssen, wenn er mit der Aufhebung der Kindesvertretung nicht einverstanden gewesen wäre und eine Vertretung nach wie vor als notwendig erachtet hätte. Dies tat er indessen nicht. Er führte in der Beschwerdeschrift auch nicht aus, inwiefern sich die Situation in der Zwischenzeit derart verändert haben soll, so dass nur kurze Zeit später - zwischen der Rechtskraft des Entscheids vom 1. Oktober 2015 und seiner Beschwerde gegen die angefochtenen Entscheide vergingen lediglich etwa zwei Monate - die Anordnung einer Kindesvertretung wieder notwendig würde. Aus den Akten sind ebenfalls keine solchen Veränderungen ersichtlich. Bereits aus diesem Grund ordnete die Vorinstanz zu Recht keine Kindesvertretung an.

c) aa) Selbst wenn man entgegen dem rechtskräftigen Entscheid vom 1. Oktober 2015 die Notwendigkeit eines Kinderanwalts für die drei Kinder bejahen würde, wäre die Frage zu prüfen, wer als solcher einzusetzen wäre. Art. 314abis Abs. 1 ZGB bestimmt, dass als Beistand eine in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person zu bezeichnen ist. Im Kontext des Kindesschutzverfahrens gehören auf rechtlicher Seite die Vertrautheit mit dem materiellen Kindesrecht wie dem Verfahrensrecht, auf der psychologischen Seite Kenntnisse zur Entwicklung von Kindern, insbesondere in Gefährdungssituationen (Misshandlung, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung) oder nach einer Platzierung wie auch eine Ausbildung im Bereich der Gesprächsführung mit (gefährdeten) Kindern. Es ist eine laufende Weiterbildung zu fordern[17]. Ein wesentliches Element des Instituts des "Anwalts des Kindes" ist die Unabhängigkeit der Vertretung[18]. Wünsche zur Person des Beistands sind unter der Bedingung der Eignung zum konkreten Mandat grundsätzlich zu berücksichtigen[19]. Zu beachten ist aber, dass ein allfälliger Anspruch auf Einsetzung einer Vertretung für die Kinder nicht auch das absolute Recht des Kindes auf die Wahl eines bestimmten Vertreters beinhaltet. Ausserdem kann dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass ein vom Kind gemachter Vorschlag in Wirklichkeit auf Drängen der Eltern oder eines Elternteils zustande kam, was eine verkappte Verdoppelung einer Elternvertretung zur Folge hätte; der Verfahrensbeistand des Kindes muss zwingend auch zu den Eltern die nötige (innere) Unabhängigkeit haben[20].

bb) Es wäre naheliegend, wiederum Rechtsanwalt Z als Kinderanwalt für die drei Kinder einzusetzen. Dieser kennt die Beteiligten, die Situation sowie die Akten und müsste sich nicht neu in den Fall einarbeiten. Er vertrat die Interessen der drei Kinder bis zur Aufhebung der Kindesvertretung ohne Beanstandungen und führte das Mandat dem Kindeswohl entsprechend. Er ist auf solche Fälle spezialisiert und ausserdem Mitglied von "Kinderanwaltschaft Schweiz". Zudem publizierte er zu Themen der Jugendstrafverteidigung und der Kindesvertretung in verschiedenen Zeitschriften. Der Wunsch nach einem Anwaltswechsel bei einer allfälligen Wiederaufnahme der Kindesvertretung müsste näher begründet werden, wobei der Umstand, dass allfällige Anträge der Kinder nicht unbesehen vom Kinderanwalt vertreten worden sein sollten, selbstverständlich nicht genügen würde.

Obergericht, 1. Abteilung, 10. Februar 2016, KES.2016.3

Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht am 6. Juni 2016 ab, soweit es darauf eintrat (5A_278/2016).


[1] Breitschmid, Basler Kommentar, Art. 314a/314abis ZGB N 5

[2] Cottier, in: FamKommentar Erwachsenenschutz (Hrsg.: Büchler/Häfeli/Leuba/Stett­ler), Bern 2013, Art. 314abis ZGB N 4

[3] Art. 314abis Abs. 2 ZGB

[4] Breitschmid, Art. 314a/314abis ZGB N 7; Cottier, Art. 314abis ZGB N 6; Biderbost, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht (Hrsg.: Breitschmid/Rumo-Jungo), 2.A., Art. 314abis ZGB N 2

[5] Steck, Basler Kommentar, Art. 299 ZPO N 11

[6] BGE vom 3. Juni 2002, 5P.139/2002, Erw. 2

[7] Reichlin, Umsetzung gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall, in: Empfehlungen der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) vom 13. Juni 2014, S. 4 (vgl. www.kokes.ch; Dokumentation; Empfehlungen gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall)

[8] Breitschmid, Art. 314a/314abis ZGB N 8

[9] Sypcher, Berner Kommentar, Art. 299 ZPO N 12

[10] Breitschmid, Art. 314a/314abis ZGB N 5

[11] Spycher, Art. 299 ZPO N 12

[12] Spycher, Art. 298 ZPO N 11

[13] Sutter/Freiburghaus, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, Art. 144 aZGB N 36

[14] Reusser, in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht (Hrsg.: Hausheer), Bern 1999, S. 198

[15] BGE 131 III 556 f.

[16] Spycher, Art. 298 ZPO N 11

[17] Cottier, Art. 314abis ZGB N 8; Biderbost, Art. 314abis ZGB N 4; Spycher, Art. 299 ZPO N 8; Steck, Art. 299 ZPO N 8 und 10

[18] Cottier, Art. 314abis ZGB N 9

[19] Biderbost, Art. 314abis ZGB N 4; Spycher, Art. 299 ZPO N 9; Steck, Art. 299 ZPO N 9

[20] Biderbost, Art. 314abis ZGB N 4

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