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RBOG 2017 Nr. 20

Mehrere Beschuldigte: Kein abgekürztes Verfahren ohne rechtskräftige Verfahrenstrennung; Nichtigkeit eines rechtskräftigen Urteils aus einem unzulässigen abgekürzten Verfahren


Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO, Art. 30 StPO, Art. 358 StPO


1. a) Im Zusammenhang mit dem Brand einer Liegenschaft eröffnete die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen den Beschwerdeführer wegen Brandstiftung und versuchten Betrugs sowie gegen A wegen Brandstiftung. A hatte bei seiner Verhaftung angegeben, den Brand im Auftrag des Beschwerdeführers gelegt zu haben; der Beschwerdeführer bestritt, etwas mit der Brandstiftung zu tun zu haben.

b) Auf Antrag von A bewilligte die Staatsanwaltschaft das abgekürzte Verfahren und beantragte wegen Brandstiftung und Gehilfenschaft zu versuchtem Betrug eine Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Das Bezirksgericht befand das abgekürzte Verfahren gegen A für rechtmässig und erhob die Straftatbestände sowie die Sanktion zum Urteil.

c) Rund ein Jahr später erhob die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht gegen den Beschwerdeführer (im ordentlichen Verfahren) Anklage wegen Anstiftung zur Brandstiftung und versuchten Betrugs. Der Beschwerdeführer beantragte, es seien die in gleicher Sache ergangene Anklageschrift im abgekürzten Verfahren und das gestützt darauf ergangene Urteil gegen A sowie die Anklageschrift gegen den Beschwerdeführer nichtig zu erklären. Die Strafsachen gegen A und den Beschwerdeführer seien für eine gemeinsame korrekte Anklage oder korrekte Verfahrenstrennung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Das Bezirksgericht wies diese Anträge ab. Der Beschwerdeführer erhob Beschwerde und hielt an seinen vor dem Bezirksgericht gestellten Begehren fest.

2. a) aa) Straftaten werden gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO gemeinsam verfolgt und beurteilt, wenn Mittäterschaft oder Teilnahme vorliegt. Nach Art. 30 StPO können die Staatsanwaltschaft und die Gerichte aus sachlichen Gründen Strafverfahren trennen oder vereinen. Gemäss Art. 33 Abs. 1 StPO werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Straftat von den gleichen Behörden verfolgt wie die Täterin oder der Täter.

bb) Art. 29 StPO regelt gemäss Marginalie den Grundsatz der Verfahrenseinheit. Dieses Prinzip bildet seit langem ein Wesensmerkmal des schweizerischen Straf- und Strafverfahrensrechts. Es besagt unter anderem, dass Straftaten in der Regel in einem einzigen Verfahren verfolgt und beurteilt werden, wenn Mittäterschaft oder Teilnahme vorliegt[1]. Der Grundsatz der Verfahrenseinheit bezweckt die Verhinderung sich widersprechender Urteile, sei dies bei der Sachverhaltsfeststellung, der rechtlichen Würdigung oder der Strafzumessung. Er gewährleistet somit das Gleichbehandlungsgebot von Art. 8 BV. Überdies dient er der Prozessökonomie[2]. Die materielle Verfahrenseinheit bezieht sich insbesondere auf die innerkantonale sachliche Zuständigkeit[3].

cc) Eine Verfahrenstrennung ist gemäss Art. 30 StPO nur bei Vorliegen sachlicher Gründe zulässig und muss die Ausnahme bleiben. Die sachlichen Gründe müssen objektiv sein. Die Verfahrenstrennung soll dabei vor allem der Verfahrensbeschleunigung dienen oder eine unnötige Verzögerung vermeiden helfen. Als sachliche Gründe werden etwa die bevorstehende Verjährung einzelner Straftaten oder die Unerreichbarkeit einzelner beschuldigter Personen genannt. Alle Beispiele beziehen sich auf Charakteristika des Verfahrens, des Täters oder der Tat, nicht aber auf organisatorische Aspekte auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden[4]. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann es sogar verfassungsrechtlich geboten sein, Strafverfahren gegen Teilnehmer zu vereinigen, insbesondere wenn die Gefahr besteht, dass die Art und der Umfang der Beteiligung wechselseitig bestritten werden und ein Teilnehmer die Schuld dem anderen zuweisen will[5].

b) Die Staatsanwaltschaft begründete die Verfahrenstrennung mit der Bewilligung des abgekürzten Verfahrens. Diese Begründung überzeugt nicht. Die Staatsanwaltschaft hätte vor einer allfälligen Bewilligung des abgekürzten Verfahrens zunächst prüfen müssen, ob eine Verfahrenstrennung überhaupt zulässig ist. Wäre sie zum Schluss gekommen, eine Verfahrenstrennung sei möglich, hätte sie eine formelle und beschwerdefähige Abtrennungsverfügung erlassen müssen. Beides unterliess die Staatsanwaltschaft. Der Hinweis auf den Bundesgerichtsentscheid 1B_187/2015 geht fehl. In diesem Fall stellte das Bundesgericht klar, die Staatsanwaltschaft sei verkehrt vorgegangen. Sie habe nämlich zunächst die Voraussetzungen des abgekürzten Verfahrens geprüft, und sei zum Schluss gekommen, da diese erfüllt seien, sei das Verfahren abzutrennen. Richtigerweise hätte sie zuerst prüfen müssen, ob die Verfahrenstrennung in einem Fall wie hier, wo sich die Beschuldigten gegenseitig belasten würden, im Licht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung überhaupt in Frage komme. Verneinendenfalls hätte sich die Frage des abgekürzten Verfahrens erübrigt.

c) aa) Sachliche Gründe, welche ausnahmsweise eine Verfahrenstrennung rechtfertigen würden, sind hier keine ersichtlich. Wenn der beschuldigte Haupttäter den beschuldigten Anstifter belastet, dieser aber die Anstiftung bestreitet und seinerseits den Haupttäter belastet, zusammen mit Dritten die Tat verübt zu haben, sowie sich selber als Geschädigten des ihn beschuldigenden Haupttäters bezeichnet und für sich die Privatklägerstellung in Anspruch nimmt, kommt eine Verfahrenstrennung nicht in Frage. Es ist nicht ersichtlich, weshalb eine solche Konstellation nicht zu den vom Bundesgericht umschriebenen Fällen gehören soll, in denen der Umfang und die Art der Beteiligung wechselseitig bestritten sind und somit die Gefahr besteht, dass der eine Teilnehmer die Schuld dem andern zuweisen will. Auch der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft zwei verschiedene Dossiers mit zwei verschiedenen Verfahrensnummern führt, stellt keinen sachlichen Grund für eine Verfahrenstrennung dar. Die Argumentation der Staatsanwaltschaft, wonach sich eine Verfahrenstrennung aufgrund zwei separat geführter Verfahren rechtfertige, geht damit fehl. Da kein sachlicher Grund für die Verfahrenstrennung vorliegt, erübrigt sich sie Frage der Zulässigkeit des abgekürzten Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft hätte folglich weder die Verfahren gegen den Beschwerdeführer und A trennen noch das abgekürzte Verfahren gegen A bewilligen dürfen.

bb) Das Obergericht hielt überdies im Rahmen dieses Strafverfahrens bereits fest, die Staatsanwaltschaft verdächtige den Beschwerdeführer, A mit der Brandlegung beauftragt zu haben. Es liege somit ein Fall von Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO vor. Auch wenn die Staatsanwaltschaft aus verwaltungsinternen Gründen zwei separate Dossiers führe, gelte der Grundsatz der Verfahrenseinheit; es handle sich um ein Verfahren gegen zwei Beschuldigte (Täter und Anstifter)[6]. Trotzdem führte die Staatsanwaltschaft zwei getrennte Strafverfahren. Es handelt sich beim Beschwerdeführer und A um zwei Beschuldigte und nicht je nach Dossier um einen Beschuldigten und eine Auskunftsperson. Zudem gehören die Untersuchungsakten des Beschwerdeführers und A zu den einheitlichen Akten des Strafverfahrens. Dass die Staatsanwaltschaft keine beschwerdefähige Abtrennungsverfügung erliess, obwohl sie vom Obergericht darauf hingewiesen wurde, dass es sich um ein Verfahren gegen zwei Beschuldigte handle, lässt den Fehler umso schwerer erscheinen.

d) aa) Die Staatsanwaltschaft scheint auch den Nachteil zu übersehen, der sich für den Beschwerdeführer aus der Abtrennung des Verfahrens gegen A und dessen separate gerichtliche Beurteilung ergibt. Das Obergericht wies bereits in einem früheren Entscheid darauf hin, dass sich der Grundsatz der Verfahrenseinheit, der Anspruch der beschuldigten Teilnehmer einer Straftat auf ein einziges einheitliches Verfahren, nicht nur auf die Einsicht in die Akten, sondern auf die Durchführung eines einzigen einheitlichen Vor- und Hauptverfahrens beziehe. Dabei bestehe der rechtliche und praktische Nachteil, der dem Beschwerdeführer widerfahren würde, darin, dass durch den Erlass eines Strafbefehls gegen den einen Beschuldigten mit Bezug auf diesen Beteiligten vollendete Tatsachen geschaffen würden, die dem Beschwerdeführer im (eigenen) Strafverfahren zum Nachteil gereichen könnten[7]. Gleiches gilt für die separate Beurteilung des einen Beteiligten im abgekürzten Verfahren. Die "Reflexwirkung" und die Gefahr sich widersprechender Urteile lassen sich nicht wegdiskutieren. Bei einem engen Sachzusammenhang, mithin einer objektiven Konnexität zwischen den den Beschuldigten vorgeworfenen Handlungen, ist folglich grundsätzlich ein einheitliches Verfahren durchzuführen. In einer solchen Konstellation besteht für einen geständigen Mitbeschuldigten kein Anspruch auf Durchführung eines abgekürzten Verfahrens.

bb) Ein Anspruch auf Durchführung eines abgekürzten Verfahrens lässt sich auch nicht aus dem Gleichheitsgebot ableiten. So hat ein geständnisbereiter Beschuldigter, der allfällige Zivilansprüche anerkennt, keinen Anspruch auf die Durchführung des abgekürzten Verfahrens. Im Gegenteil erfordert das Gleichheitsgebot, dass alle Tatbeteiligten grundsätzlich in einem einheitlichen Verfahren beurteilt werden, ansonsten eine Ungleichbehandlung vorliegt[8].

e) Schliesslich überzeugt auch das Argument der Verfahrensbeschleunigung nicht. Zwar kann die drohende Verletzung des Beschleunigungsgebots einen sachlichen Grund gemäss Art. 30 StPO darstellen, auf eine Verfahrensvereinigung zu verzichten[9]. Das Bundesgericht erachtete die Abtrennung von Verfahren von Mittätern verschiedentlich als zulässig, wenn das Verfahren eines oder mehrerer Mittäter weiter fortgeschritten war als die Verfahren anderer Mittäter und das Zuwarten gegen das Beschleunigungsgebot verstossen hätte[10]. Eine solche Konstellation liegt hier jedoch nicht vor. Die beiden Beschuldigten wurden kurz nacheinander festgenommen und blieben längere Zeit in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft konnte das Verfahren gegen die beiden Beschuldigten ohne drohende Verfahrensverzögerung führen und die notwendigen Untersuchungshandlungen vornehmen. Entsprechend hielt die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift im abgekürzten Verfahren gegen A fest, das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer stehe vor der Anklageerhebung (im ordentlichen Verfahren).

f) Zusammenfassend hätte die Staatsanwaltschaft den Beschwerdeführer und A in einem gemeinsamen Verfahren verfolgen müssen, weshalb sich die Frage nach der Zulässigkeit der Durchführung eines separaten abgekürzten Verfahrens gegen A erübrigt hätte. Eine Verfahrenstrennung kommt in einer Konstellation, wie sie hier vorliegt, nicht in Frage. Im Übrigen hätte die Staatsanwaltschaft bei der Trennung der Verfahren eine Abtrennungsverfügung erlassen müssen. Die Vorinstanz stellte somit zutreffend schwerwiegende Verfahrensfehler fest.

3. a) Die Vorinstanz erwog, hätte die Staatsanwaltschaft ein gemeinsames Verfahren gegen den Beschwerdeführer und A geführt, hätte sich der Beschwerdeführer nicht gleichzeitig auch als Privatkläger konstituieren können. Es wäre daher stossend, wenn sich der Beschwerdeführer einzig aufgrund der Verfahrenstrennung nun doch als Privatkläger konstituieren könnte. Der Hinweis auf BGE 138 IV 29, auf den sich der Beschwerdeführer berufe, ziele ins Leere. Im zitierten Entscheid des Bundesgerichts sei der Beschuldigte das Opfer einer anderen Straftat (Körperverletzung) als derer, welcher er auch selbst beschuldigt sei (Gewalt und Drohung gegen Beamte). Zudem habe sich in diesem Fall die Frage gestellt, ob die Körperverletzung in Ausübung von Notwehr erfolgt sei.

b) Das Bundesgericht führte in BGE 138 IV 29 aus, der Grundsatz der Verfahrenseinheit bezwecke die Verhinderung sich widersprechender Urteile und diene der Prozessökonomie. Werde jemand, nachdem er Polizeibeamte angegriffen haben solle, durch diese verletzt, seien die deswegen gegen das Opfer und die Polizeibeamten eröffneten Strafverfahren von einer einzigen Staatsanwaltschaft zu führen. Das Argument der Vorinstanz und der Staatsanwaltschaft, wonach der Beschwerdeführer unmöglich in ein und demselben Strafverfahren sowohl beschuldigte Person (mit Bezug auf die Anstiftung zur Brandstiftung) als auch Privatkläger (mit Bezug auf die Brandstiftung) sein könne, ist mit Blick auf BGE 138 IV 29 nicht stichhaltig. Auch in jenem Entscheid war der vom Bundesgericht genannte X sowohl Opfer (und Privatkläger) in Bezug auf die den Polizeibeamten vorgeworfene Körperverletzung als auch Beschuldigter mit Bezug auf die Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie die versuchte Körperverletzung. Wie der Beschwerdeführer zutreffend geltend macht, ist entscheidend, dass die Interessen und Ziele des Beschwerdeführers mit Blick auf beide Rollen ein und dieselben sind. Der Beschwerdeführer wird sich ausschliesslich als Geschädigter präsentieren, wobei er wohl geltend machen wird, er habe A nicht zum Brand angestiftet. Im Gegensatz dazu wird A wohl den Standpunkt einnehmen, der Beschwerdeführer habe ihn zum Brand angestiftet. Gerade diese in höchstem Mass divergierenden Darstellungen verlangen, dass der Sachverhalt in einem einzigen Verfahren untersucht und beurteilt wird. Nur auf diese Weise lassen sich widersprüchliche Urteile verhindern. Ebenso muss es bei einer solchen Konstellation möglich sein, dass sich der Beschwerdeführer in Bezug auf die Brandstiftung auch als Privatkläger konstituieren kann. Im Übrigen hätte die Staatsanwaltschaft eine anfechtbare Verfügung erlassen müssen, wenn sie dem Beschwerdeführer die Privatklägerstellung nicht hätte gewähren wollen. Nur auf diese Weise hätte die Frage mittels Beschwerde im Vorverfahren geklärt werden können.

4. a) Die Vorinstanz stellte fest, für eine Nichtigerklärung müssten drei Voraussetzungen kumulativ gegeben sein: Der dem Entscheid anhaftende Mangel müsse besonders schwer sein, der Mangel müsse zudem offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar sein, und die Rechtssicherheit dürfe durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet werden. Das abgekürzte Verfahren gegen A hätte nicht durchgeführt werden dürfen. Dieser gravierende Verfahrensmangel sei auch offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar gewesen. Die Anklageschrift im abgekürzten Verfahren und das gestützt darauf ergangene Urteil der Vorinstanz seien somit in einem unzulässigen Verfahren ergangen, weshalb es diese Rechtsakte nie hätte geben dürfen. Indessen würde die Rechtssicherheit erheblich gefährdet, wenn nun, lange Zeit nach Verbüssung der Strafe, ein erneutes Verfahren für den gleichen Sachverhalt gegen A eröffnet und er hierfür erneut angeklagt würde. Zudem habe A mangels ergangener Abtrennungsverfügung und Rechtsmittelverfahrens nicht damit rechnen müssen, dass die Anklageschrift im abgekürzten Verfahren und das gestützt darauf ergangene Urteil plötzlich hinfällig werden könnten. Damit behalte das Urteil im abgekürzten Verfahren gegen A seine Gültigkeit.

b) aa) Ein rechtswidriger Entscheid ist im Allgemeinen anfechtbar. Von der Anfechtbarkeit zu unterscheiden ist die Nichtigkeit. Einem nichtigen Entscheid geht jede Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit ab. Die Nichtigkeit ist jederzeit und von sämtlichen staatlichen Instanzen von Amtes wegen zu beachten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist ein Entscheid nichtig, wenn der ihm anhaftende Mangel besonders schwer und offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtigkeitsgrund fallen hauptsächlich funktionelle und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie schwerwiegende Verfahrensfehler in Betracht[11].

bb) Nach der Gesetzessystematik betrifft die Verfahrenstrennung die Zuständigkeit. Das erstinstanzliche Gericht wird wegen des Problems der Vorbefassung im abgekürzten und ordentlichen Verfahren in anderer Besetzung urteilen. Die Verfahrenstrennung führt somit dazu, dass sich zwei verschiedene Spruchkörper in unterschiedlichen Verfahrensformen mit dem Delikt befassen müssen. Bei Verfahrenseinheit würde das ein einziger Spruchkörper in einem einheitlichen Verfahren tun. Die Verfahrenstrennung dürfte somit zu einer Änderung der Zuständigkeit führen. Damit wäre der angefochtene Entscheid als solcher über die Zuständigkeit zu betrachten[12].

c) aa) Die Vorinstanz erwog zutreffend, die ersten beiden Voraussetzungen - besonders schwerer Mangel und offensichtliche oder zumindest leichte Erkennbarkeit - seien gegeben. Gegen den Beschwerdeführer kann kein abgekürztes Verfahren geführt werden. Er muss sich deshalb im ordentlichen Verfahren verantworten. Da die Abtrennung des Verfahrens gegen A unzulässig ist, muss auch er sich dem ordentlichen Verfahren stellen. Das abgekürzte Verfahren hätte daher nie durchgeführt werden dürfen. Es fehlt an einer Grundlage für eine separate Anklageerhebung und ein separates Urteil. Die Anklageschrift und der Entscheid der Vorinstanz im abgekürzten Verfahren gegen A ergingen somit in einem unzulässigen Verfahren, weshalb es diese Rechtsakte nie hätte geben dürfen. Dieser Mangel wiegt besonders schwer. Hinzu kommen weitere Verfahrensfehler, nämlich dass die Staatsanwaltschaft keine Abtrennungsverfügung erliess und dem Beschwerdeführer die Privatklägerstellung nicht gewährte, ohne darüber eine Verfügung zu erlassen.

bb) Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft war der Mangel für alle Beteiligten offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar. Offenkundig handelt es sich um einen Fall von Teilnahme. Damit war für den anwaltlich vertretenen A eindeutig erkennbar, dass das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer und ihn gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO grundsätzlich gemeinsam zu führen war. Er kann sich nicht auf die Rechtmässigkeit der Verfahrensabtrennung berufen, da ihm hätte bewusst sein müssen, dass es dafür einer formellen Abtrennungsverfügung bedurfte. Für die Staatsanwaltschaft war ohnehin klar, dass es sich um einen Fall von Teilnahme handelte, bei dem die Beschuldigten gemeinsam zu verfolgen sind, nachdem das Obergericht ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht hatte. Auch der Einwand der Staatsanwaltschaft, die Parteien hätten sich nicht in einem hängigen Rechtsmittelverfahren betreffend die Verfahrenstrennung befunden, überzeugt nicht. Die Staatsanwaltschaft trennte nicht nur die Verfahren gegen den Beschwerdeführer und A in unzulässiger Weise, sondern zeigte die Trennung auch nicht mit einer anfechtbaren Verfügung an. In einem solchen Fall kann das fehlende Rechtsmittelverfahren über die Trennung nicht als Argument für die fehlende Erkennbarkeit herangezogen werden. Das wäre rechtsmissbräuchlich. Zudem durfte sich der Beschwerdeführer gestützt auf die Vorgabe des Obergerichts darauf verlassen, dass die Staatsanwaltschaft ein einziges Verfahren gegen ihn und A führt.

d) aa) Die Rechtssicherheit ist im Bereich des Strafrechts von besonderer Bedeutung[13]. Die Rechtssicherheit darf durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet werden; eine einfache Gefährdung genügt entsprechend nicht. Es kann daher nicht angehen, allenfalls noch nach Jahren ein unangefochten gebliebenes und in formelle Rechtskraft erwachsenes Strafurteil nichtig zu erklären, dessen fehlerhaftes Zustandekommen ohne Aktenkenntnis nicht erkennbar ist[14]. Dies gilt es auch in diesem Verfahren zu beachten.

bb) Eine erhebliche Gefährdung der Rechtssicherheit ist hier nicht ersichtlich, was sich schon daran zeigt, dass das fehlerhafte Zustandekommen des Strafurteils betreffend A problemlos ohne Aktenkenntnis erkennbar war. Alle Beteiligten wussten, dass es sich um einen Fall von Teilnahme und mithin um ein einheitliches Verfahren handelt, bei dem es ohne rechtskräftige Abtrennung gar kein separates abgekürztes Verfahren geben konnte. Ausserdem verlangte der Beschwerdeführer die Nichtigkeit des Urteils betreffend A entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht erst nach Jahren, sondern nach 15 Monaten.

cc) Beim Gebot der Rechtssicherheit geht es immer auch um Treu und Glauben[15]. Darauf kann sich A nicht berufen, musste ihm doch klar sein, dass er grundsätzlich mit dem von ihm beschuldigten Beschwerdeführer beurteilt werden musste. Sein Einwand, wonach die Rechtsprechung des Bundesgerichts und Obergerichts zur Verfahrenseinheit erst später ergangen sei, überzeugt nicht, zumal sich der Grundsatz der Verfahrenseinheit bei Teilnahmedelikten bereits aus Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO ergibt. Abgesehen davon bezieht sich das Gebot der Rechtssicherheit nicht nur auf die Perspektive von A, der an seinem rechtskräftigen Urteil festhalten will. Vielmehr geht es generell um eine klare und voraussehbare Regelung rechtlicher Verhältnisse, um Grundlagen, die nicht zu häufig ändern, um eine konstante Rechtsprechung und letztlich um ein stabiles, funktionierendes Rechtssystem, das Rechtsfrieden garantieren soll. Dazu gehört, dass eine offenbar rechtswidrige Praxis einer Untersuchungsbehörde gestoppt wird. Die Aufhebung eines einzigen rechtskräftigen Strafurteils gegen einen einzigen Beschuldigten ist dabei hinzunehmen.

dd) Auch die erfolgreiche Reintegration von A und die guten Voraussetzungen für eine dauerhafte Deliktsprävention begründen keine erhebliche Gefährdung der Rechtssicherheit. Seine Bewährung seit Entlassung aus dem Strafvollzug kann im neuen Verfahren im Fall eines Schuldspruchs ohne weiteres berücksichtigt werden. Ebenso wären ihm die Untersuchungshaft und der Strafvollzug anzurechnen.

e) Es führt folglich kein Weg an der Nichtigerklärung der Anklageschrift und des Urteils im abgekürzten Verfahren gegen A vorbei. Die Nichtigkeit hat zur Folge, dass jederzeit ein zweites Verfahren in derselben Sache eingeleitet werden kann, da der Grundsatz "ne bis in idem" mangels rechtskräftigen Urteils nicht greift[16]. In analoger Anwendung von Art. 362 Abs. 3 StPO ist das Verfahren daher zur Durchführung und zum Abschluss eines ordentlichen Vorverfahrens gegen A an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen, damit dieser zusammen mit dem Beschwerdeführer beurteilt werden kann.

f) Da das abgekürzte Verfahren wegfällt, dürfen die Zugeständnisse von A, die dieser im Zusammenhang mit dem abgekürzten Verfahren abgab, nicht verwertet werden[17]. Diesbezügliche Aktenstücke sind aus den Akten zu entfernen und bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss unter Verschluss zu halten. Das Verwertungsverbot gilt aber nicht für Erklärungen von A vor dem Antrag auf Durchführung eines abgekürzten Verfahrens und ausserhalb des abgekürzten Verfahrens[18].

Obergericht, 2. Abteilung, 9. Februar 2017, SW.2016.126


[1] Art. 29 Abs. 2 lit. b StPO

[2] BGE 138 IV 31, 138 IV 219; BGE vom 24. März 2015, 6B_751/2014, Erw. 1.3; Fingerhuth/Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 29 N 1; Riklin, Schweizerische Strafprozessordnung, Kommentar, Zürich 2010, Art. 29 N 1; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N 173 f.; Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2.A., Art. 29 N 1; RBOG 2013 Nr. 25, Erw. 4b

[3] Bartetzko, Basler Kommentar, Art. 29 StPO N 3; Fingerhuth/Lieber, Art. 29 StPO N 2; Schmid, Art. 29 StPO N 2; vgl. Riklin, Art. 29 StPO N 3

[4] BGE 138 IV 219; BGE vom 21. Juli 2015, 1B_86/2015 und 1B_105/2015, Erw. 2.1; Bartetzko, Art. 30 StPO N 3 ff.

[5] BGE vom 23. Mai 2016, 1B_11/2016, Erw. 2.2; BGE 134 IV 334, 116 Ia 313

[6] Entscheid des Obergerichts vom 6. Juni 2014, SW.2014.70, Erw. 2b

[7] Entscheid des Obergerichts vom 25. Februar 2016, SW.2016.5, Erw. 4b

[8] Vgl. Kaufmann, Das abgekürzte Verfahren bei mehreren Tatbeteiligten, in: recht 2009 S. 154

[9] BGE vom 24. März 2015, 6B_751/2014, Erw. 1.4

[10] BGE vom 17. Juni 2013, 1B_200/2013, Erw. 2.2 (ein Mittäter, wohnhaft im Ausland, dessen Einvernahme rechtshilfeweise durchgeführt werden musste); BGE vom 21. Dezember 2011, 1B_684/2011 und 1B_686/2011, Erw. 3.2 (ein Mittäter wurde erst später von Ecuador in die Schweiz ausgeliefert); BGE vom 24. März 2015, 6B_751/2014, Erw. 1.5 (ein Mittäter war schon acht Monate in Untersuchungshaft, als die Untersuchung gegen den Beschwerdeführer eröffnet wurde).

[11] BGE vom 23. Mai 2016, 1B_11/2016, Erw. 3.2

[12] BGE vom 6. Oktober 2015, 1B_187/2015, Erw. 1.5.2

[13] BGE vom 24. Dezember 2014, 6B_968/2014, Erw. 1.4; BGE vom 23. Januar 2009, 6B_744/2008, Erw. 1.3

[14] BGE vom 23. Januar 2009, 6B_744/2008, Erw. 1.3

[15] Vgl. Schindler/Tschumi, in: Die schweizerische Bundesverfassung (Hrsg.: Ehrenzeller/Schind­ler/Schweizer/Vallender), 3.A., Art. 5 N 10

[16] Ackermann, Absolute Nichtigkeit von amtlichen Prozesshandlungen im Zürcher Strafprozess, in: Festschrift 125 Jahre Kassationsgericht des Kantons Zürich, Zürich 2000, S. 322

[17] Art. 362 Abs. 4 StPO analog

[18] Schwarzenegger, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 362 N 9; Schmid, Art. 362 StPO N 11 f.; Greiner/Jaggi, Basler Kommentar, Art. 358 StPO N 21 ff. und Art. 362 StPO N 30 ff.

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