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RBOG 2017 Nr. 27

Gutachten zur Glaubhaftigkeit der Aussagen eines 16–jährigen Opfers


Art. 182 StPO, Art. 389 StPO


1. a) Das Opfer, geboren im Jahr 1999, erstattete Anzeige gegen den Berufungskläger. Der Berufungskläger sei ein Freund der Familie und regelmässig bei ihnen zu Besuch gewesen; dort sei es in den Jahren 2005 bis 2011 zu sexuellen Übergriffen gekommen.

b) Das Bezirksgericht sprach den Berufungskläger in Bezug auf die Vorwürfe des Opfers der mehrfachen sexuellen Nötigung und der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind schuldig.

2. Der Berufungskläger beantragt im Berufungsverfahren die Einholung eines gerichtlichen Gutachtens über die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Opfers während der im Jahr 2015 durchgeführten Videobefragungen. Einziges Beweismittel zu den Vorwürfen seien die Aussagen des Opfers. Die Vorinstanz habe in gewissen Punkten auf diese Aussagen abgestellt und in vielen anderen Punkten die Aussagen des Opfers als unmöglich oder unglaubhaft bezeichnet. Eine objektive Beurteilung der Qualität und Validität der Aussagen des Opfers fehle. Eine solche objektive Beurteilung durch einen Gutachter tue dringend not, um dem Gericht einen objektiven Anhaltspunkt für seine Entscheidfindung geben zu können. Der Opfervertreter wendet ein, es werde von Amtes wegen zu prüfen sein, ob der Antrag auf Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nicht verspätet erfolgt sei.

3. a) Das Rechtsmittelverfahren beruht auf den Beweisen, die im Vorverfahren und in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung erhoben worden sind[1]. Eine Aufforderung an die Parteien, wie sie Art. 331 Abs. 2 StPO vorsieht, ist im Berufungsverfahren nicht nötig, da nach der Grundregel von Art. 369 Abs. 1 StPO im Rechtsmittelverfahren keine Beweise mehr abgenommen werden. Beweise werden im Berufungsverfahren nur abgenommen, wenn im bisherigen Verfahren Beweisvorschriften verletzt wurden, die Beweiserhebungen unvollständig waren oder die Akten über die Beweiserhebungen unzuverlässig erscheinen[2]. Die Rechtsmittelinstanz kann von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei die erforderlichen zusätzlichen Beweise abnehmen[3]. Beweisergänzungsanträgen ist im Berufungsverfahren stattzugeben, wenn daraus wesentliche Erkenntnisse zu erwarten sind. Es müssen mindestens glaubhafte konkrete Angaben oder sonstige konkrete Anhaltspunkte für Tatsachen und Umstände vorliegen, die geeignet sind, zur Belastung oder Entlastung des Angeschuldigten beizutragen; demgegenüber sind Beweisanträge abzulehnen, wenn die Beweisergänzung nicht sachdienlich, das Beweismittel untauglich oder unerheblich, die zu beweisende Tatsache bereits anders bewiesen, für die Beurteilung der Schuld- und Straffrage nicht geeignet oder der Aufwand unverhältnismässig ist. Beweisergänzungen durch den Beizug von Sachverständigen rechtfertigen sich nur, wenn sie notwendig und sinnvoll sind[4]. Grundsätzlich können somit auch Beweisanträge erstmals im Berufungsverfahren gestellt werden.

b) Die Einholung eines Gutachtens über die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Opfers wird erstmals im Berufungsverfahren thematisiert. Der Antrag der Verteidigung auf Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann jedoch nicht allein mit der Begründung abgewiesen werden, der Antrag erfolge zu spät, erst recht nicht, wenn er damit begründet wird, die Vorinstanz habe die Aussagen des Opfers nicht durchgehend gleich glaubhaft qualifiziert und sei dem Opfer nur in einzelnen Aussagen gefolgt. Diese Schlussfolgerung konnte der Verteidigung vor der Urteilseröffnung gar nicht bekannt sein.

c) Der Berufungskläger plädierte an der Berufungsverhandlung über sechs Seiten zur Glaubwürdigkeit des Opfers als Person. Während früher die Glaubwürdigkeit des Zeugen im Mittelpunkt stand, ist heute die konkrete Aussage zentral, und die Idee einer allgemeinen Glaubwürdigkeit gilt als überholt[5]. Der allgemeinen Glaubwürdigkeit eines Zeugen kommt deshalb im Sinn einer dauerhaften persönlichen Eigenschaft kaum mehr relevante Bedeutung zu. Weitaus bedeutender für die Wahrheitsfindung als die allgemeine Glaubwürdigkeit ist die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussage[6].

4. a) Gemäss Art. 182 StPO ziehen Gerichte eine oder mehrere sachverständige Personen bei, wenn sie nicht über die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Feststellung oder Beurteilung eines Sachverhalts erforderlich sind. Das Gutachten soll das fehlende fachliche Wissen der Strafbehörde bei der Abklärung des Sachverhalts ersetzen. Ob die Feststellung oder Beurteilung des rechtlich relevanten Sachverhalts besondere Kenntnisse voraussetzt, ist grundsätzlich anhand eines objektiven Massstabs zu beantworten, wobei dem Gericht ein Ermessensspielraum zusteht. Wenn Umstände vorliegen, welche die Verständnisfähigkeit des Richters an seine Grenzen bringen, so ist er verpflichtet, eine Expertise anzufordern. Zweifeln die Entscheidungsträger, ob sie über die erforderlichen Sachkompetenzen verfügen, so ist dies bereits Anlass dafür, ein Gutachten einzuholen[7].

b) Die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist nach herrschender Lehre und Praxis primär Sache der Gerichte. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände ist auf eine sachverständige Begutachtung zurückzugreifen. Bei "psychisch normalen" prozessbeteiligten Erwachsenen dürfte grundsätzlich kein Experte zur Glaubhaftigkeitsprüfung herbeigezogen werden. Als besondere Umstände, welche medizinisches oder psychologisches Fachwissen nötig machen, gelten etwa Anzeichen für eine ernsthafte psychische Störung oder für Altersdemenz sowie die Beurteilung von vorübergehenden Störungen wie zum Beispiel Alkoholrausch, akuter Drogenentzug oder starker Medikamenteneinfluss. All diese Besonderheiten könnten die Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefähigkeit beeinträchtigen und eine erlebnisbasierte Aussage verunmöglichen. Der Richter ist zudem von Bundesrechts wegen gehalten, ein Gutachten einzuholen, wenn die Beurteilung der Qualität der Aussage eines Zeugen oder einer Auskunftsperson von der Bewertung besonderer Umstände in der Person des Aussagenden abhängig ist, welche Fachwissen auf den Gebieten der Psychiatrie und/oder der Psychologie erfordern. Dies ist etwa der Fall, wenn unklar ist, ob der Zeuge angesichts seines individuell-konkreten Entwicklungs- oder Geisteszustands oder unter den Wirkungen eines aussergewöhnlichen Beziehungsgeflechts überhaupt in der Lage ist, sachgerecht wahrzunehmen, diese Wahrnehmung zu verarbeiten und wiederzugeben. Ferner drängt sich die Bestellung eines Sachverständigen immer auf, wenn der Richter Mühe hat, die Art der Artikulation des Kindes zu verstehen, wenn es also gleichsam einer "Übersetzung" seiner Aussage bedarf[8]. Um zu wissen, in welchen Fällen ein Glaubhaftigkeitsgutachten nötig oder zumindest sinnvoll ist, sollte sich der Richter an den drei aussagepsychologischen Analysebereichen orientieren: Aussagetüchtigkeit, Aussagequalität und Aussagezuverlässigkeit[9].

aa) Die Aussagetüchtigkeit bezieht sich auf die kognitiven Fähigkeiten eines Zeugen, einen spezifischen Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen, diesen im Gedächtnis zu speichern und später wieder weitgehend selbstständig abzurufen sowie tatsächlich erlebte Begebenheiten von anderweitig generierten Vorstellungen zu unterscheiden. Bei der Aussagetüchtigkeit geht es um die Fähigkeiten des Zeugen, überhaupt eine zuverlässige Aussage machen zu können und nicht darum, ob die im Einzelfall geschilderte Darstellung glaubhaft oder fehlerfrei ist. Es ist unklar, welche Aussagequalität ein Zeuge potentiell erzielen können muss, um als aussagetüchtig zu gelten. Weder Fehlerfreiheit noch die durchschnittliche Aussageleistung eines psychisch gesunden Erwachsenen kann gefordert werden. Entscheidend ist das Überschreiten einer unteren Mindestschwelle: die Fähigkeit, in zentralen Aspekten erlebnisbasierte Aussagen zu machen. Allein die Diagnose einer psychiatrischen Erkrankung führt nicht zwangsläufig zur Aufhebung der Aussagetüchtigkeit eines Zeugen[10]. Eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung sollte nach Massgabe der Rechtsprechung namentlich in Fällen angeordnet werden, in welchen Anzeichen ernsthafter geistiger Störungen vorliegen, welche die "Aussageehrlichkeit des Betroffenen" beeinträchtigen könnten, oder wenn es besondere psychiatrische oder psychologische Fachkenntnisse braucht, um die Auswirkung einer bestimmten Abnormität auf das Aussageverhalten des "psychisch erheblich Beeinträchtigten" deuten zu können[11]. Allein aufgrund bejahter Aussagetüchtigkeit lässt sich noch keine Aussage über die Glaubhaftigkeit der Aussagen machen. Umgekehrt führt fehlende Aussagetüchtigkeit jedoch dazu, dass die Zeugenaussage in der Regel nicht positiv als erlebnisbasiert eingestuft werden kann[12].

bb) Die Aussagequalität befasst sich mit der Abgrenzung zwischen erlebnisbasierten Schilderungen und absichtlichen Falschaussagen[13]. Zur Unterscheidung zwischen erlebnisgestützten Aussagen und unabsichtlichen Falschaussagen muss demgegenüber die Konstruktebene beziehungsweise der Analysebereich der Aussagezuverlässigkeit bemüht werden. Es geht um die Frage, ob eine qualitativ hochwertige Aussage (Ebene der Aussagequalität) unter Berücksichtigung individueller und kontextueller Rahmenbedingungen auch als zuverlässig beurteilt werden kann[14].

cc) Diese Kategorienbildung hilft, die Komplexität der Materie zu reduzieren und mögliche Schwierigkeiten als solche zu erkennen[15]. Glaubhaftigkeitsgutachten werden unter anderem angefordert, wenn die potentiellen Opfer sehr junge Kinder sind, wenn Entwicklungsverzögerungen, Einschränkungen oder Behinderungen der geistigen Leistungsfähigkeit vorliegen, oder wenn es bei kindlichen, jugendlichen oder erwachsenen potentiellen Opfern Hinweise auf spezielle psychische Schwierigkeiten gibt[16]. Eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung durch eine sachverständige Person drängt sich in der Regel sachlich erst auf, wenn das Gericht aufgrund besonderer Umstände auf zusätzliches medizinisches oder psychologisches Fachwissen angewiesen ist. Dies ist etwa der Fall, wenn Anzeichen bestehen, dass die betreffende Person wegen einer ernsthaften geistigen Störung, Drogensucht oder sonstiger Umstände in ihrer Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefähigkeit beeinträchtigt und zur wahrheitsgemässen Aussage nicht fähig oder nicht willens sein könnte. Dem Gericht steht bei der Beantwortung der Frage, ob aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls der Beizug eines Sachverständigen zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung notwendig ist oder nicht, ein Ermessensspielraum zu[17].

c) Ab einem gewissen Alter können Kinder forensisch brauchbare Aussagen machen. Als allgemein anerkannte Faustregel gilt, dass Kinder ab etwa vier Jahren aussagetüchtig sind[18]. Zwar sind Kinderaussagen mit der gebotenen Zurückhaltung und Vorsicht zu würdigen, zumal das Erinnerungsvermögen und andere intellektuelle Fähigkeiten bei Kindern regelmässig noch weniger weit entwickelt sind als bei Erwachsenen. Besonders Kleinkinder können sich (je nach Sachthema und Lebenssituation) auch noch in einer mehr oder weniger ausgeprägten kindheitsadäquaten "Phantasiewelt" bewegen, in der sich reale Erlebnisse und fiktive Geschehnisse teilweise überschneiden. Bei Kindern besteht ausserdem eine gewisse Gefahr einer "Überanpassung" an allfällige Erwartungen und Suggestionen von Erwachsenen. Auf der anderen Seite sind gerade schulpflichtige Kinder in der Regel fähig, wesentliche Lebensvorgänge in ihrem Kern zutreffend darzustellen. Um Aussagefehler möglichst zu vermeiden und zu erkennen, ist bei der Befragung von mutmasslichen kindlichen Opfern von Sexualdelikten der Rückgriff auf kinderpsychologisch geschulte Fachpersonen geboten[19].

5. a) Das Opfer war im Zeitpunkt seiner Aussagen gegenüber der Polizei knapp 16 Jahre alt. Es berichtete über die erlebten sexuellen Übergriffe, die es laut seinen Angaben im Alter von sechs bis zwölf Jahren erlebt hatte, die also bis zu zehn Jahre zurücklagen. Die Aussagetüchtigkeit kann beim Opfer grundsätzlich vermutet werden. Es bestehen keine Anzeichen, wonach seine kognitiven Fähigkeiten, den Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen, diesen im Gedächtnis zu speichern und später wieder weitgehend selbstständig abzurufen, nicht vorhanden gewesen wären. Auch hatte es die Fähigkeit, eine für Dritte nachvollziehbare Schilderung zu produzieren[20].

b) Was die Aussagequalität betrifft, so äusserte sich das Opfer in den Befragungen klar und deutlich und schilderte die Ereignisse sowie seine Gefühle bei dem Erlebten. Es wäre kognitiv in der Lage, falsche Aussagen mit Hilfe seines Alltags- und Allgemeinwissens zu konstruieren. Eine Würdigung nach den allgemeinen Kriterien der Aussagewürdigung ist damit grundsätzlich möglich. Auch diesbezüglich bestehen keine erheblichen Probleme im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung.

c) Im Zusammenhang mit der Aussagezuverlässigkeit sind insbesondere die Suggestionsproblematik und die Aussagemotivation von Bedeutung. Generell gilt nämlich, dass mit zunehmendem Zeitablauf mit einer Abnahme des Aussageumfangs und der generellen Aussagegenauigkeit zu rechnen ist. Jedoch ist es möglich, mit wiederholten Befragungen neue Details in freien Berichten von Kindern und Erwachsenen zutage zu fördern. Es zeigte sich, dass bei Kindern bezüglich länger zurückliegenden Ereignissen auf Befragungswiederholungen zu verzichten ist. Gerade bei Schilderungen von Kindern besteht die Gefahr, dass sie mit zunehmendem Zeitablauf deutlich ungenauer werden, zugleich aber suggerierte Angaben im Zug von wiederholten Befragungen immer detaillierter werden[21]. Dem Bericht der Perspektive Thurgau folgend thematisierte das Opfer im November 2012 erstmals sexuelle Übergriffe. Offenbar erwähnte das Mädchen auch gegenüber seiner Schwester und den Nachbarsmädchen, dass der Berufungskläger ihm zu nahe gekommen sei. Bis zur Anzeige bei der Polizei im Januar 2015 und den darauf folgenden Video-Aussagen wurden die sexuellen Übergriffe auch während ihres stationären Aufenthalts in der Psychiatrischen Klinik im Frühling 2014 thematisiert, sowohl gegenüber den Therapeuten als auch gegenüber den Mitpatienten. Was genau der Berufungskläger mit dem Opfer gemacht hatte, erzählte das Mädchen offenbar nicht. Das Opfer wurde von gewissen gleichaltrigen Kindern aus der Nachbarschaft und von seinen Mitpatienten in der Psychiatrischen Klinik in dem Sinn beschrieben, dass es bei jeder Gelegenheit Aufmerksamkeit auf sich ziehen wolle. Das Opfer räumte in der zweiten Videobefragung ein, früher habe es Geschichten erzählt, die nicht zugetroffen hätten, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Im Austrittsbericht der Psychiatrischen Klinik werden die Diagnosen einer mittelgradigen depressiven Episode und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung aufgeführt. Dem Bericht ist ferner zu entnehmen, dass in der Grundschule eine ADHS-Abklärung stattgefunden habe, wobei kein ADHS festgestellt worden sei. Seit fünf Jahren bestehe ein selbstverletzendes Verhalten, seit etwa drei Jahren ein restriktives Essverhalten. Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst führte 2015 als Diagnose eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen auf. Das Zentrum für Kind, Jugend, Familie nannte 2016 in seinem Bericht als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung und eine posttraumatische Belastungsstörung. Das Opfer habe das Bedürfnis, mit einer Person über den in der Vergangenheit erlebten sexuellen Missbrauch zu sprechen, und leide auch unter wiederkehrenden Flashbacks, welche plötzlich und für das Mädchen unvorbereitet auftreten und zu Aggression mit anschliessendem Rückzug führen würden. Die Flashbacks würden es an die Missbrauchserfahrungen in der Vergangenheit erinnern. Es habe teilweise Vermeidungsverhalten bestanden, um das Erleben solcher Flashbacks zu umgehen. Man ordne die beschriebene Symptomatik als rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig leichter bis mittelgradiger Episode und posttraumatische Belastungsstörung nach erlebtem sexuellem Missbrauch in der Vergangenheit ein. Hinzu kämen Probleme im Aufbau von verlässlichen Beziehungen, der Regulation von Nähe und Distanz und dem Umgang mit Stress, unter anderem verursacht durch Druck, Bedrängung oder Flashbacks. Man habe deswegen die Überprüfung von beruflichen Massnahmen bei der IV eingeleitet.

6. a) Wie weit gerade die Vorwürfe der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung einer Weiterentwicklung des wiederholt Erzählten des Opfers entsprechen oder auf tatsächlich Erlebtem basieren, ist für das Gericht angesichts der verhaltensauffälligen Persönlichkeit des Opfers nicht leicht zu beantworten. Den Akten folgend erzählte das Opfer im November 2012 erstmals von sexuellen Übergriffen, ohne offenbar ins Detail zu gehen. So wird im Austrittsbericht der Clienia Littenheid vom Juli 2014 erwähnt, die Ausgestaltung der sexuellen Übergriffe sei unklar. Bei der Perspektive Thurgau hatte das Opfer von November 2012 bis März 2014 Einzelsitzungen. Während eines Klinikaufenthalts von März bis Mai 2014 hatte das Mädchen drei Einzelsitzungen. In der Folge überwies der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst das Opfer zur Einzeltherapie an die Zentren für Kind, Jugend, Familie. Von Dezember 2014 an war das Mädchen dort in psychotherapeutischer Behandlung. Wie viele Einzelsitzungen es hatte, ergibt sich aus den Akten allerdings nicht. Es wäre hilfreich zu wissen, ob das Opfer bereits in seinen Therapien detaillierte Angaben über die Übergriffe machte, oder ob es erstmals bei der Polizei darüber Auskunft gab. Dies soll im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbegutachtung abgeklärt werden.

b) Die Perspektive Thurgau beschrieb in ihrem Bericht vom April 2015 ein auffälliges sexualisiertes Verhalten des Opfers. Es stellt sich einerseits die Frage, ob dieses Verhalten mit den Übergriffen erklärbar ist. Andererseits muss abgeklärt werden, ob dieses Verhalten dazu führte, dass das Opfer den Geschlechtsverkehr, den Oralsex und das Eindringen mit dem Finger in die Scheide - also diejenigen Handlungen, welche die Vorinstanz als nicht erfolgt betrachtete - hinzufügte, ohne dass diese sich wirklich ereigneten. Auch dieser Frage muss mit der Glaubhaftigkeitsbegutachtung nachgegangen werden.

c) Auch die Aussagemotivation des Opfers ist angesichts seiner psychisch auffälligen Persönlichkeitsstruktur schwierig zu beurteilen. Der Vorwurf, sie wolle sich in den Mittelpunkt stellen oder Aufmerksamkeit erheischen, könnte beispielsweise – muss aber nicht – für die Aussagen in Bezug auf die Vergewaltigung ursächlich sein. Allerdings bestehen für das Gericht keine Zweifel, dass sexuelle Übergriffe stattfanden. Aus den verschiedenen Aussagen von Familienangehörigen und Beteiligten, aber auch des Opfers und des Berufungsklägers, zeichnet sich ein deutliches Bild eines seit Kindheit verhaltensauffälligen Mädchens ab, das schon seit Jahren mit Problemen zu kämpfen hatte. Wie weit diese Probleme mit dem sexuellen Missbrauch zusammenhängen und die Aussagequalität des Opfers beeinträchtigten, kann ohne Fachwissen nicht ohne weiteres beurteilt werden.

7. a) Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens drängt sich damit aus mehreren Gründen auf: Zum einen ist nicht ausgeschlossen, dass die schweren Vorwürfe, welche die Staatsanwaltschaft gegen den Berufungskläger erhob, zutreffen. Zum anderen hat das Opfer eine verhaltensauffällige Persönlichkeit, namentlich mit den Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Zudem kann es sein, dass das Opfer vor seiner Aussage bei der Polizei bereits mindestens zwei Jahre mit Therapeuten über die Missbräuche gesprochen hatte; es ist nicht bekannt, ob und wenn ja inwiefern die sexuellen Übergriffe thematisiert wurden.

b) Ein Glaubhaftigkeitsgutachten kann anhand der Akten und der Videoaufnahmen erstellt werden. Der Sachverständige hat dabei nicht nur der Frage nachzugehen, welche Sexualdelikte sich ereigneten, sondern auch abzuklären, in welcher Häufigkeit diese geschehen waren. Eine nochmalige Befragung des Opfers, das in der Zwischenzeit ohnehin wieder zwei Jahre älter ist, wird wohl kaum neue Erkenntnisse bringen, weshalb darauf zu verzichten ist, sofern nicht der Gutachter eine Befragung für notwendig hält. Zudem ist der Gutachter anzuweisen, bei den Therapeuten weitere Auskünfte einzuholen, die darüber Aufschluss geben sollen, ob und was das Opfer diesen von den Übergriffen erzählte.

Obergericht, 1. Abteilung, 3. April 2017, SBR.2016.33


[1] Art. 389 Abs. 1 StPO

[2] Art. 389 Abs. 2 StPO

[3] Art. 389 Abs. 3 StPO

[4] Zweidler, Die Praxis zur thurgauischen Strafprozessordnung, Bern 2005, § 202 N 16 und 18

[5] Berlinger, Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Strafprozess, Diss. Luzern 2014, S. 15

[6] BGE 133 I 45; Donatsch, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 162 N 15; Riedo/Fiolka/Niggli, Strafprozessrecht sowie Rechtshilfe in Strafsachen, Basel 2011, N 1442; Ruck­stuhl/Dittmann/Arnold, Strafprozessrecht, Zürich/Basel/Genf 2011, N 505; Zweidler, § 151 StPO TG N 35, 58

[7] Berlinger, S. 272 ff.

[8] Berlinger, S. 275 f.

[9] Berlinger, S. 283

[10] Berlinger, S. 24 f. und Fn. 135

[11] Möller/Maier, Grenzen und Möglichkeiten von Glaubwürdigkeitsbegutachtungen im Strafprozess, in: SJZ 96, 2000, S. 254

[12] Berlinger, S. 24

[13] Berlinger, S. 28 ff.

[14] Berlinger, S. 48

[15] Berlinger, S. 283

[16] Kling, Qualitätsbeurteilung und Fehlererkennung bei aussagepsychologischen Gutachten, in: AJP 2015 S. 713

[17] Wiprächtiger, Aussagepsychologische Begutachtung im Strafrecht, in: forumpoenale 2010 S. 41

[18] Berlinger, S. 26

[19] Wiprächtiger, S. 41 f.

[20] Vgl. auch Berlinger, S. 24

[21] Berlinger, S. 57 f.

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