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RBOG 2018 Nr. 15

Zuständigkeit zum Entscheid über ein an der Hauptverhandlung gestelltes Ausstandsgesuch gegen die Staatsanwaltschaft


Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO


1. a) Die Staatsanwaltschaft führte eine Strafuntersuchung gegen X und weitere Beschuldigte. Mit Entscheid vom 27. April 2015[1] versetzte das Bundesgericht mit Wirkung ab 28. November 2013 die fallführenden Staatsanwälte Y und Z in den Ausstand.

b) Die Staatsanwaltschaft erhob am 23. Januar 2015 beim Bezirksgericht Anklage gegen X. An der Hauptverhandlung vom 26. Juni 2017 stellte X gestützt auf die Aussagen eines Zeugen an der Hauptverhandlung vom 19. Juni 2017 ein Ausstandsbegehren gegen Oberstaatsanwalt Y "mit sämtlichen Konsequenzen in Bezug auf die Verwertbarkeit der im Nachhinein getätigten Beweiserhebungen und Beweise", das heisst ab 6. Dezember 2012.

c) Mit Schreiben vom 28. August 2017 teilte der verfahrensleitende Richter den Parteien unter dem Titel "Ausstandsbegehren betreffend Oberstaatsanwalt Y vom 26. Juni 2017: Entscheid des Bezirksgerichts" mit, es lägen ab dem relevanten Zeitpunkt (6. Dezember 2012) keine Anhaltspunkte vor, die bei objektiver Betrachtungsweise den Eindruck einer Befangenheit oder einer einseitigen Ermittlungsführung erwecken würden.

d) Mit Beschwerde vom 8. September 2017 beantragte X, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Es sei festzustellen, dass gegen Oberstaatsanwalt Y Ausstandsgründe vorlägen, welche zur Unverwertbarkeit der von ihm ab 6. Dezember 2012 getätigten Amtshandlungen führten.

2. Eine in einer Strafbehörde tätige Person tritt gemäss Art. 56 StPO in den Ausstand, wenn sie in der Sache ein persönliches Interesse hat (lit. a), wenn sie in einer anderen Stellung, insbesondere als Mitglied einer Behörde, als Rechtsbeistand einer Partei, als Sachverständige oder Sachverständiger, als Zeugin oder Zeuge, in der gleichen Sache tätig war (lit. b), wenn sie aus anderen Gründen, insbesondere Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte (lit. f). Will eine Partei den Ausstand einer in einer Strafbehörde tätigen Person verlangen, so hat sie der Verfahrensleitung gemäss Art. 58 Abs. 1 StPO ohne Verzug ein entsprechendes Gesuch zu stellen, sobald sie vom Ausstandsgrund Kenntnis hat; die den Ausstand begründenden Tatsachen sind glaubhaft zu machen. Die betroffene Person nimmt zum Gesuch Stellung[2]. Wird ein Ausstandsgrund nach Art. 56 lit. a oder f StPO geltend gemacht oder widersetzt sich eine in einer Strafbehörde tätige Person einem Ausstandsgesuch einer Partei, das sich auf Art. 56 lit. b-e StPO abstützt, so entscheidet ohne weiteres Beweisverfahren und endgültig die Beschwerdeinstanz, wenn die Staatsanwaltschaft, die Übertretungsstrafbehörden oder die erstinstanzlichen Gerichte betroffen sind[3]. Der Entscheid ergeht schriftlich und ist zu begründen[4]. Bis zum Entscheid übt die betroffene Person ihr Amt weiter aus[5]. Amtshandlungen, an denen eine zum Ausstand verpflichtete Person mitgewirkt hat, sind aufzuheben und zu wiederholen, sofern dies eine Partei innert fünf Tagen verlangt, nachdem sie vom Entscheid über den Ausstand Kenntnis erhalten hat[6].

3. a) Die Vorinstanz erwog, bei korrekter Betrachtungsweise könne die Beschwerdeinstanz für die Behandlung von Ausstandsbegehren gegen die Staatsanwaltschaft nur dann zuständig sein, wenn das Verfahren noch vor der Behörde, die als ganzes oder teilweise vom Ausstand betroffen sei, anhängig sei. Sinn und Zweck der Zuständigkeitsregel von Art. 59 Abs. 1 StPO sei, dass eine andere als die vom Ausstand betroffene Behörde über das Ausstandsgesuch entscheide. Sei die Sache beim erstinstanzlichen Gericht anhängig, habe nicht die Beschwerdeinstanz über die gegen die Staatsanwaltschaft geltend gemachten Ausstandsgründe zu entscheiden. Dies gelte jedenfalls dann, wenn sich die Verwirklichung des behaupteten Ausstandsgrunds auf das Stadium des staatsanwaltschaftlichen Verfahrens beziehe. Diesbezüglich stünden keine Amtshandlungen der betreffenden Amtsperson mehr an, bei welchen sie in den Ausstand treten könnte beziehungsweise müsste. Offen sei nur noch die Zulässigkeit beziehungsweise Verwertbarkeit von bereits erfolgten Erhebungen im Untersuchungsverfahren. Das erstinstanzliche Gericht habe über die Anklagevorwürfe zu entscheiden, wobei es auch die im Vorverfahren erhobenen Beweise berücksichtige (Art. 350 StPO). Werde in gerichtlichen Verfahren in Bezug auf die Staatsanwaltschaft zu Recht ein sich vor Anklageerhebung verwirklichter Ausstandsgrund geltend gemacht, liege hinsichtlich der nach der Verwirklichung des Ausstandsgrunds vom Betroffenen vorgenommenen prozessrechtlichen Handlungen in aller Regel ein Verfahrensfehler vor. Das Gericht müsse daher von Amtes wegen prüfen, ob jene Handlungen dennoch zu berücksichtigen seien oder ob sie - soweit noch möglich - zu wiederholen seien. Mit anderen Worten stelle sich die Frage der Verwertbarkeit jener Handlungen. Vorliegend frage sich demnach, ob aufgrund der geltend gemachten Äusserungen von Oberstaatsanwalt Y spätere von ihm vorgenommene Verfahrenshandlungen unzulässig beziehungsweise unverwertbar seien. Aufgrund des Umstands, dass für Oberstaatsanwalt Y bereits ab 28. November 2013 eine Ausstandspflicht festgestellt worden sei, stelle sich diese Frage nur noch für den Zeitraum vom 6. Dezember 2012 bis 27. November 2013.

b) aa) Die Erwägungen der Vorinstanz entsprechen denjenigen des Obergerichts des Kantons Zürich im Beschluss vom 28. Oktober 2016, UA160021[7]. Allerdings stellen die im Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich genannten Verweise auf Boog[8] und Keller[9] keine Begründung für die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Strafgerichts statt der Beschwerdeinstanz dar; es handelt sich vielmehr um (zutreffende) Überlegungen zu den Folgen der Verletzung von Ausstandsvorschriften, die in Art. 60 StPO geregelt sind. Offensichtlich stützte sich das Obergericht des Kantons Zürich auf prozessökonomische Überlegungen. Es erwog, müsse das Sachgericht gestützt auf ein gestelltes Ausstandsgesuch im genannten Sinn ohnehin über dessen Berechtigung und allfällige Folgen entscheiden, könne es nicht Sinn und Zweck der StPO sein, dass über den Ausstand gleichzeitig auch noch die Beschwerdeinstanz entscheide, zumal diese gegebenenfalls nur das Ausstandsgesuch gutheissen würde, ohne sich über die daraus resultierenden prozessualen Folgen zu äussern[10].

bb) Die Erwägungen des Obergerichts des Kantons Zürich und der Vorinstanz stehen im Widerspruch zu Art. 59 Abs. 1 StPO und dienen entgegen der Auffassung des Obergerichts des Kantons Zürich auch nicht der Prozessökonomie. Ausstandsgesuche sind Teil jener Verfahrenshandlungen, die gestützt auf das Beschleunigungsgebot ohne Verzug entschieden werden müssen. Art. 59 Abs. 1 StPO sieht entsprechend vor, dass die Streitsache "ohne weiteres Beweisverfahren" und "endgültig" entschieden werden muss, sofern ein Ausstandsgrund nach Art. 56 lit. a oder f StPO – wie hier – geltend gemacht wird, oder wenn sich eine in einer Strafbehörde tätige Person einem Ausstandsgesuch einer Partei widersetzt, das sich auf Art. 56 lit. a-e StPO abstützt[11]. Wäre entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO (auch) das erstinstanzliche Gericht zuständig, wenn - wie hier - die Staatsanwaltschaft vom Ausstandsgesuch einer Partei betroffen ist, so wäre der Entscheid nicht endgültig, sondern könnte mit Beschwerde nach Art. 393 ff. StPO oder gar mit Berufung nach Art. 398 ff. StPO an die zweite Instanz weitergezogen werden, je nachdem, ob das Ausstandsgesuch mit einem Zwischenentscheid oder erst im Endentscheid erledigt wurde. Ein entsprechender Zwischenentscheid des erstinstanzlichen Gerichts wäre mit Beschwerde zwar nur dann anfechtbar, wenn er für die rechtssuchende Partei einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur bewirken würde[12], doch dieser könnte darin erblickt werden, dass die rechtssuchende Partei ihren Rechtsanspruch gemäss Art. 60 Abs. 1 StPO auf Aufhebung und Wiederholung von Amtshandlungen, an denen eine zum Ausstand verpflichtete Person mitgewirkt hat, verlöre. Dies hätte zur Folge, dass sich mehrere Instanzen mit dem Ausstandsgesuch befassen müssten und dass der entsprechende Entscheid nicht "endgültig" wäre, was mitnichten der Prozessökonomie dient. Zudem sind das Ausstandsverfahren und das Verfahren betreffend die Folgen des Ausstands kraft Gesetzes nicht einheitlich, sondern zweigeteilt. Ist die Staatsanwaltschaft betroffen, entscheidet gemäss Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO ohne weiteres Beweisverfahren und endgültig die Beschwerdeinstanz über den Ausstandsgrund. Danach kann eine Partei gemäss Art. 60 Abs. 1 StPO innert fünf Tagen, nachdem sie Kenntnis vom Entscheid über den Ausstand erhalten hat, verlangen, dass Amtshandlungen, an denen eine zum Ausstand verpflichtete Person mitgewirkt hat, aufzuheben und zu wiederholen sind. Ausstandsgesuche sind somit in jedem Fall im Rahmen eines separaten Zwischenverfahrens durch die dafür vorgesehene Behörde - hier die Beschwerdeinstanz - zu entscheiden[13].

cc) Dementsprechend hätte die Vorinstanz über das Ausstandsgesuch nicht entscheiden dürfen, sondern sie hätte dieses an die Beschwerdeinstanz zum Entscheid weiterleiten müssen. Das Verfahren ist kein Beschwerde-, sondern ein Ausstandsverfahren. Die "Beschwerde" ist somit "materiell" keine Beschwerde, sondern ein Ausstandsgesuch. Das Obergericht entscheidet laut Gesetz erstinstanzlich und endgültig über Ausstandsgesuche. Die Frage, ob der angefochtene Entscheid nichtig oder bloss anfechtbar sei, kann offen gelassen werden. Er hat so oder anders keinen Bestand. Damit ist die Beschwerde zu schützen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.

Obergericht, 2. Abteilung, 25. Januar 2018, SW.2017.91


[1] BGE 141 IV 178 ff.

[2] Art. 58 Abs. 2 StPO

[3] Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO

[4] Art. 59 Abs. 2 StPO

[5] Art. 59 Abs. 3 StPO

[6] Art. 60 Abs. 1 StPO

[7] Publiziert in: ZR 116, 2017, Nr. 7, S. 33 f.

[8] Basler Kommentar, Art. 60 StPO N 4

[9] Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/ Lieber), 2.A., Art. 60 N 5

[10] ZR 116, 2017, Nr. 7, S. 33 f.

[11] BGE vom 15. Oktober 2013, 1B_227/2013, Erw. 4.1; Keller, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 59 N 8

[12] Vgl. BGE vom 21. August 2017, 1B_171/2017, Erw. 2.3; BGE 140 IV 204 f.

[13] Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N 167

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