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RBOG 2018 Nr. 16

Parteistellung der Anzeigeerstatterin


Art. 104 Abs. 1 StPO, Art. 115 Abs. 1 StPO, Art. 118 Abs. 1 StPO, Art. 301 Abs. 1 StPO


1. a) Am 13. Oktober 2017 erhob die X AG Strafanzeige gegen Y wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung nach Art. 158 Ziff. 1 Abs. 1 StGB sowie allfälliger weiterer Straftaten. Die X AG warf Y im Wesentlichen vor, er habe ihr Vermögen während seiner Zeit als CEO unter Verletzung seiner Sorgfalts- und Treuepflichten erheblich geschädigt. Mit Eingabe vom 20. Dezember 2017 ergänzte die X AG die Strafanzeige und ersuchte die Staatsanwaltschaft, die Strafuntersuchung gegen Y auf den Tatbestand des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe nach Art. 148a StGB auszudehnen. Y habe bereits während seiner Anstellung als CEO mindestens zwei weitere Unternehmen geführt. Es sei davon auszugehen, dass er mit diesen Gesellschaften in einem Arbeitsverhältnis stehe und offensichtlich nicht als arbeitslos gelten könne.

b) In der Folge lehnte die Staatsanwaltschaft den Antrag der X AG auf Zulassung als Privatklägerin in Bezug auf den Sachverhalt gemäss Strafanzeige vom 20. Dezember 2017 ab. Dagegen reichte die X AG Beschwerde ein und beantragte, sie sei in der (gesamten) Strafuntersuchung gegen Y als Privatklägerin zuzulassen.

2. a) aa) Parteien sind nach Art. 104 StPO die beschuldigte Person, die Privatklägerschaft, im Haupt- und Rechtsmittelverfahren die Staatsanwaltschaft sowie Behörden, die öffentliche Interessen zu wahren haben und denen das Bundesrecht oder das kantonale Recht volle oder beschränkte Parteirechte einräumt. Art. 105 Abs. 1 StPO nennt als "andere Verfahrensbeteiligte" die geschädigte Person, die Person, die Anzeige erstattet, die Zeugin oder den Zeugen, die Auskunftsperson, die oder den Sachverständigen sowie die durch Verfahrenshandlungen beschwerten Dritten. Werden diese Verfahrensbeteiligten in ihren Rechten unmittelbar betroffen, so stehen ihnen gestützt auf Art. 105 Art. 2 StPO die zur Wahrung ihrer Interessen erforderlichen Verfahrensrechte einer Partei zu.

bb) Privatklägerschaft ist nach Art. 118 Abs. 1 StPO die geschädigte Person, die ausdrücklich erklärt, sich am Strafverfahren als Straf- oder Zivilklägerin oder -kläger zu beteiligen. Als geschädigte Person gilt die Person, die durch die Straftat in ihren Rechten unmittelbar verletzt worden ist[1]. Das Wort "unmittelbar" bezieht sich auf die durch die Straftat verletzten Rechte und hat damit die Funktion, den Kreis der zur Privatklägerschaft prozessrechtlich legitimierten Personen einzuschränken[2]. Unmittelbar verletzt beziehungsweise geschädigt ist, wer Träger des Rechtsguts ist, das durch die fragliche Strafbestimmung vor Verletzung oder Gefährdung geschützt werden soll. Bei Strafnormen, die nicht primär Individualrechtsgüter schützen, gelten praxisgemäss nur diejenigen Personen als Geschädigte, die durch die darin umschriebenen Tatbestände in ihren Rechten beeinträchtigt werden, sofern diese Beeinträchtigung unmittelbare Folge des tatbestandsmässigen Handelns ist. Werden dagegen durch Delikte, die (nur) öffentliche Interessen verletzen, private Interessen auch, aber bloss mittelbar (als Reflex) beeinträchtigt, so ist der Betroffene nicht Geschädigter im Sinn von Art. 115 Abs. 1 StPO[3]. Im Allgemeinen genügt es, wenn das von der geschädigten Person angerufene Individualrechtsgut durch den verletzten Straftatbestand auch nur nachrangig oder als Nebenzweck geschützt wird, selbst wenn der Tatbestand in erster Linie dem Schutz von kollektiven Rechtsgütern dient[4]. Bloss mittelbar verletzt sind Dritte, die durch die Straftat nur deshalb wirtschaftlich beeinträchtigt sind, weil sie in einer besonderen Beziehung zum Träger des verletzten Rechtsguts stehen (sogenannte Reflexgeschädigte). Diesfalls ist der Nachteil nicht unmittelbar, das heisst, er ergibt sich nicht aus der tatbestandsmässigen Handlung selbst, sondern erst aus vermittelnden Faktoren, wie dies etwa bei Schadenersatzpflichten (von Versicherungen) aus Gesetz oder Vertrag der Fall ist[5]. Als Privatkläger scheiden Reflexgeschädigte demnach aus[6].

cc) Für den Anzeigeerstatter gelten demgegenüber spezielle Bestimmungen. Gemäss Art. 301 Abs. 1 StPO ist jede Person berechtigt, Straftaten bei einer Strafverfolgungsbehörde schriftlich oder mündlich anzuzeigen. Die Strafverfolgungsbehörde teilt der anzeigenden Person auf deren Anfrage mit, ob ein Strafverfahren eingeleitet ist und wie es erledigt wird[7]. Der anzeigenden Person, die weder geschädigt noch Privatklägerin oder Privatkläger ist und auch nicht im Sinn von Art. 105 Abs. 2 StPO unmittelbar in ihren eigenen Rechten tangiert wurde, stehen keine weitergehenden Verfahrensrechte zu[8]. Somit bleibt der blosse Anzeigeerstatter stets nur Verfahrensbeteiligter ohne Parteirechte und ist mithin auch von der Beschwerdeführung ausgeschlossen[9].

b) aa) Wer jemanden durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise irreführt oder in einem Irrtum bestärkt, so dass er oder ein anderer Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe bezieht, die ihm oder dem andern nicht zustehen, wird gemäss Art. 148a Abs. 1 StGB bestraft. Der Tatbestand des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe im Sinn von Art. 148a StGB wurde im Zug der Umsetzung der von Volk und Ständen am 28. November 2010 angenommenen Volksinitiative "Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)" geschaffen[10]. Art. 148a StGB basiert auf Art. 121 Abs. 3 lit. b BV, wonach eine ausländische Person aus der Schweiz auszuweisen ist, wenn sie missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezog. Der "missbräuchliche" Bezug von Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe wird somit über den Betrug nach Art. 146 StGB und den neuen Straftatbestand gemäss Art. 148a StGB erfasst. Art. 148a StGB ist ein Auffangtatbestand für leichtere Fälle, in denen der Betrugstatbestand keine Anwendung findet, weil der Täter etwa nicht arglistig handelte[11]. Dem Wortlaut von Art. 148a StGB und dessen Entstehungsgeschichte ist zu entnehmen, dass dieses Delikt öffentliche und nicht private Interessen schützt. Direkt geschützt ist folglich das Interesse des Staates beziehungsweise der Öffentlichkeit, keine unrechtmässigen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeleistungen auszuzahlen. Nur indirekt geht es zusätzlich um die Ausschaffung solcher Täter, wenn sie nicht das Schweizer Bürgerrecht besitzen.

bb) Die Beschwerdeführerin kann somit in Bezug auf den Sachverhalt gemäss ihrer Strafanzeige vom 20. Dezember 2017 grundsätzlich nicht unmittelbar Geschädigte und mithin nicht Privatklägerin sein. Eine allfällige Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen der Beschwerdeführerin ist eine blosse Folge der Subrogation der unmittelbar geschädigten Arbeitslosenkasse. Es handelt sich dabei um einen Reflexschaden. Die Subrogation betrifft ausserdem nur Lohn- oder Entschädigungsansprüche von Y als (ehemaligen) Arbeitnehmer der Beschwerdeführerin für die Zeit des Arbeitsausfalls, für den die Arbeitslosenkasse Leistungen ausrichtet[12]. Solche Lohn- oder Entschädigungsansprüche werden von Art. 148a Abs. 1 StGB nicht geschützt. Die Beschwerdeführerin ist folglich an sich blosse Anzeigeerstatterin; im Übrigen kann sie sich zivilrechtlich gegen unberechtigte arbeitsvertragliche Ansprüche wehren.

cc) Gleich würde es sich verhalten, wenn Y nicht unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe, sondern Betrug im Sinn von Art. 146 StGB vorgeworfen werden würde. Zwar schützt der Tatbestand des Betrugs keine öffentlichen Interessen, sondern die Einzelinteressen des in der Regel privaten Betrugsopfers. Hier ist das potentielle Betrugsopfer aber die Arbeitslosenkasse und nicht die Beschwerdeführerin.

c) Die Staatsanwaltschaft verneinte somit die Stellung der Beschwerdeführerin als Privatklägerin in Bezug auf den Tatvorwurf des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe grundsätzlich zu Recht.

3. a) Das Strafverfahren gegen Y umfasst jedoch nicht nur den Sachverhalt gemäss der Strafanzeige vom 20. Dezember 2017 (Vorwurf des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe), sondern auch den Sachverhalt gemäss der Strafanzeige vom 13. Oktober 2017 (Vorwurf der ungetreuen Geschäftsbesorgung und allfällig weiterer Delikte). Für letzteren Sachverhalt kommt der Beschwerdeführerin die Eigenschaft als unmittelbar Geschädigte und als Privatklägerin zu; sie ist in Bezug auf diesen Sachverhalt folglich Partei. Es stellt sich somit die Frage, ob der Beschwerdeführerin die Parteistellung gestützt darauf für das gesamte einheitliche Strafverfahren zu gewähren ist.

b) aa) Im von der Staatsanwaltschaft erwähnten Entscheid des Obergerichts ging es um mutmassliche Widerhandlungen gegen das UWG[13], das HMG[14] und das KVG[15], welche die Staatsanwaltschaft in einem einheitlichen Strafverfahren verfolgte. Das Obergericht erwog, in Bezug auf die behaupteten UWG-Verletzungen sei die Anzeigeerstatterin unmittelbar Geschädigte und somit Partei. Gemäss dem Grundsatz der Verfahrenseinheit nach Art. 29 Abs. 1 StPO seien Straftaten grundsätzlich gemeinsam zu verfolgen und zu beurteilen, wenn eine beschuldigte Person mehrere Straftaten verübt habe oder Mittäterschaft oder Teilnahme vorliege. Selbst wenn der Anzeigeerstatterin bezüglich (mutmasslicher) Verletzung des HMG und des KVG keine Parteistellung zukommen sollte, habe sie folglich die Parteistellung im gesamten Verfahren inne, da sie gestützt auf die Anzeige wegen Widerhandlungen gegen das UWG Partei sei. Das Obergericht bezog sich dabei auf einen früheren Entscheid zwischen denselben Parteien, wo es ausgeführt hatte, anders sähe es in Bezug auf die Parteistellung aus, wenn die Staatsanwaltschaft eine Verfahrenstrennung verfügen würde. Eine solche Verfahrenstrennung müsste die Staatsanwaltschaft aber auf sachliche Gründe stützen und entsprechend begründen. Grundsätzlich könnten nur Strafuntersuchungen getrennt werden, die auf verschiedenen Sachverhalten beruhten; eine Unterscheidung lediglich nach dem gesetzlichen Tatbestand genüge nicht. Diesem Punkt hätte die Staatsanwaltschaft bei einer beabsichtigten Verfahrenstrennung besondere Beachtung zu schenken.

bb) An dieser Praxis ist grundsätzlich festzuhalten. Eine andere Betrachtungsweise wäre auch mit dem Grundsatz "ne bis in idem"[16] nicht vereinbar. Gemäss diesem Grundsatz darf niemand wegen einer Straftat vom Staat erneut verfolgt oder bestraft werden, für die er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht desselben Staats rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wurde[17]. Das Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids ist für ein neues Verfahren mit dem gleichen Gegenstand ein Verfahrenshindernis, das in jeder Lage von Amtes wegen zu beachten ist[18]. Der Grundsatz verbietet die separate Beurteilung eines Lebenssachverhalts nach mehreren in Betracht fallenden Straftatbeständen. Wegen ein und derselben Tat im prozessualen Sinn kann nicht aus einem rechtlichen Gesichtspunkt verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt werden. Es muss darüber einheitlich entschieden werden[19]. Wenn die Privatklägerschaft in Bezug auf den einen Straftatbestand keine Parteistellung hätte, könnte sie sich beispielsweise nicht gegen eine Einstellung in diesem Bereich wehren und stünde danach vor dem Problem, dass der Beschuldigte in demjenigen Bereich, in dem die Privatklägerschaft Parteistellung hat, die Sperrwirkung des eingestellten Verfahrens vorbringen könnte[20].

c) Die Staatsanwaltschaft stellte in ihrer Beschwerdeantwort die Praxis des Obergerichts, wonach der Anzeigeerstatterin die Privatkläger- und mithin die Parteistellung im gesamten einheitlichen Verfahren zukommt, auch wenn sie bloss in Bezug auf gewisse Vorwürfe unmittelbar, in Bezug auf andere Vorwürfe hingegen nicht (unmittelbar) geschädigt ist, bei thematisch klar voneinander abgegrenzten Lebenssachverhalten in Frage. Die Beschwerdeführerin bestritt hingegen, dass zwei klar voneinander abgegrenzte Lebenssachverhalte vorlägen. Es ist deshalb vorab zu prüfen, ob es sich hier um zwei klar voneinander abgegrenzte Lebenssachverhalte handelt, denen bei einer separaten strafrechtlichen Beurteilung die Sperrwirkung der abgeurteilten Sache nicht entgegenstehen würde.

aa) Gemäss der Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts ist ein abgetrenntes Verfahren ausgeschlossen, wenn Identität von Täter und Tat gegeben ist. Der genaue Umfang der Tatidentität ist auf dem Wege der Rechtsfindung weiter zu präzisieren[21]. Hauser/Schweri/Hartmann[22] stellen die verschiedenen Kriterien dar, nach welchen der Umfang der Sperrwirkung erfasst werden kann. Sie umschreiben die Tat im prozessualen Sinn als das, was vom Anklageprinzip, der Aufklärungspflicht des Gerichts und dem Grundsatz "iura novit curia" abgedeckt werde, alles, was der Richter dabei festgestellt habe oder bei sorgfältiger Beurteilung hätte feststellen können. Daraus folgern sie, dass der Grundsatz nicht gelte, wenn keine ernsthafte Veranlassung zur Untersuchung und Prüfung eines anderen Delikts bestanden habe, sich später indessen eine andere Beurteilung aufdränge. Als Beispiel führen sie die Verurteilung wegen unberechtigter Abgabe eines Rauschgiftes und die spätere Feststellung, dass der Täter den Abnehmer habe töten wollen, an. Dem stellen sie den "faktischen" Tatbegriff gegenüber, welcher sich von einer natürlichen Betrachtungsweise leiten lasse. Diese Betrachtungsweise umfasse den geschichtlichen Vorgang, innerhalb dem der Angeklagte einen Tatbestand verwirklicht habe, das heisse sein gesamtes Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten historischen Vorgang nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bilde. Das Bundesgericht verneint die Sperrwirkung bei mehreren Lebensvorgängen oder Taten im prozessualen Sinn[23]. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung gilt jedenfalls, dass die Anwendung des Prinzips "ne bis in idem" voraussetze, dass dem Richter im ersten Verfahren die Möglichkeit zugestanden werden müsse, den Sachverhalt unter allen tatbestandsmässigen Punkten zu würdigen[24].

bb) aaa) Beim Sachverhalt gemäss der Strafanzeige vom 13. Oktober 2017 geht es um Handlungen von Y als CEO der Beschwerdeführerin in der Zeit vom 10. Februar 2015 bis zum 12. Dezember 2016, mit denen er unter Verletzung seiner Sorgfalts- und Treuepflichten das Vermögen der Beschwerdeführerin geschädigt haben soll. Konkret soll er nicht seine volle Arbeitskraft und -zeit für seine Arbeitgeberin investiert haben, sondern daneben entgegen seiner ausdrücklichen vertraglichen Verpflichtungen mindestens zwei weitere Unternehmen geführt haben.

bbb) Beim Sachverhalt gemäss der Strafanzeige vom 20. Dezember 2017 geht es um Handlungen beziehungsweise Unterlassungen von Y, mit denen er seit dem 12. Januar 2017 die Arbeitslosenkasse getäuscht haben soll, um unrechtmässig Versicherungsleistungen für eine nicht bestehende Arbeitslosigkeit zu erhalten. Er habe dabei namentlich seine Tätigkeit für mindestens zwei weitere Unternehmen nicht angegeben.

cc) Die beanzeigten Tathandlungen beziehen sich folglich auf verschiedene Zeiträume. Der erste Sachverhalt betrifft den Zeitraum vom 10. Februar 2015 bis 12. Dezember 2016, der zweite Sachverhalt die Zeit nach der fristlosen Kündigung durch die Beschwerdeführerin Ende 2016. In Bezug auf den ersten Sachverhalt ist materiell die Frage zu klären, ob Y die Beschwerdeführerin als deren CEO mit Nebentätigkeiten, einem Warenverkauf und Spesenabrechnungen in Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten schädigte; in Bezug auf den zweiten Sachverhalt geht es um die Frage, ob Y als Privatperson die Arbeitslosenkasse über seine tatsächliche Situation täuschte. Ein Zusammenhang besteht nur insoweit, als der (Haupt-)Grund sowohl für die mutmassliche Vermögensschädigung der Beschwerdeführerin als auch für die mutmassliche Täuschung der Arbeitslosenkasse in der behaupteten Tätigkeit von Y für mindestens zwei Unternehmen liegen soll. Das allein sowie der Umstand, dass die beiden Zeiträume unmittelbar aufeinander folgen und einzig durch die fristlose Entlassung von Y abgetrennt werden, rechtfertigt nicht, von einem einheitlichen Lebenssachverhalt beziehungsweise einer einzigen prozessualen Tat auszugehen. Entscheidend ist die eigentliche Tathandlung, wobei hier die mutmassliche Vermögensschädigung der Beschwerdeführerin (ungetreue Geschäftsbesorgung und allfällig weitere Delikte) zeitlich vor der mutmasslichen Täuschung der Arbeitslosenkasse (Betrug oder unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe) erfolgte. Ausserdem richten sich die beiden mutmasslichen Tathandlungen gegen verschiedene Personen, nämlich zum einen gegen die Beschwerdeführerin und zum anderen gegen die Arbeitslosenkasse. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern eine allfällige spätere Bestrafung wegen Betrugs oder unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe zum Nachteil der Arbeitslosenkasse nach einer allfälligen Bestrafung wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung und allfällig weiterer Delikte zum Nachteil der Beschwerdeführerin eine unzulässige Doppelbestrafung darstellen sollte.

dd) Hier geht es im Grunde genommen nicht um die Doppelbestrafung, sondern vielmehr darum, ob der allfällige zweite Strafrichter an die Beurteilung des ersten Strafrichters zur Frage, ob Y mindestens zwei weitere Unternehmen geführt hatte, gebunden ist. Diese Problematik ist nach dem Grundsatz der Verfahrenseinheit zu lösen, wonach Straftaten gemeinsam verfolgt werden, wenn eine beschuldigte Person mehrere Straftaten verübt hat[25]. Die Staatsanwaltschaft führt hier somit zu Recht ein einheitliches Strafverfahren. Damit wird sichergestellt, dass beide Vorwürfe und mithin die erwähnte heikle Sachverhaltsfrage einheitlich verfolgt und beurteilt werden. Eine Verfahrenstrennung stünde dem entgegen. Es ist folglich von zwei voneinander abgegrenzten Lebenssachverhalten beziehungsweise von zwei prozessualen Taten auszugehen, weshalb die Einwände der Staatsanwaltschaft gegen die Praxis des Obergerichts zur Parteistellung der Privatklägerin im gesamten Verfahren bei klar voneinander abgegrenzten Lebenssachverhalten zu prüfen sind.

d) aa) Die Staatsanwaltschaft brachte in der Beschwerdeantwort gegen die von der Beschwerdeführerin beanspruchte Parteistellung im gesamten Verfahren vor, ein durch einen Diebstahl unmittelbar geschädigter Privatkläger könnte so etwa auch in der Strafuntersuchung wegen sexueller Nötigung Verfahrensrechte ableiten. Zwar könnten diese spätestens über Art. 108 Abs. 1 StPO und die darin enthaltene Interessenabwägung unterbunden werden, doch liefe die Staatsanwaltschaft bei Ausschluss eines nicht betroffenen Privatklägers Gefahr, ohne ausdrückliche Verfügung Teilnahmerechte zu verletzen. Zudem müsste die Staatsanwaltschaft vor geplanten (Teil-)
Einstellungen von Lebenssachverhalten, welche einen Privatkläger zwar nicht beträfen, nichtsdestotrotz vor Einstellung betreffend jeden Sachverhalt über Art. 30 StPO abtrennen. Der nicht betroffene Privatkläger wäre mangels Beschwer nicht zur Beschwerde legitimiert, was aber der grundsätzlichen Stellung als Privatkläger keinen Abbruch täte. Solche Konstellationen könnten sich bei einer extensiven Auslegung des Grundsatzes der Verfahrenseinheit ergeben, seien aber kaum die Absicht des Gesetzgebers gewesen. Die Staatsanwaltschaft sieht folglich bei einer Parteistellung der Privatklägerschaft im gesamten Verfahren bei klar voneinander abgegrenzten Lebenssachverhalten Probleme, namentlich beim rechtlichen Gehör und der Rechtsmittellegitimation. Diese Verfahrensrechte sind zwar an die Parteistellung gebunden, doch lassen sich die von der Staatsanwaltschaft thematisierten Probleme lösen. Zu berücksichtigen sind dabei die Interessen aller Beteiligten.

bb) In Bezug auf den Anspruch des rechtlichen Gehörs[26] geht es insbesondere um das Akteneinsichtsrecht und das Teilnahmerecht.

aaa) Bei Gewährung der Parteistellung in einem einheitlichen Verfahren bloss für einen, nicht aber für einen anderen Lebenssachverhalt ergeben sich im Zusammenhang mit der Akteneinsicht praktische Probleme. Die Übersicht und die Kontrolle über den gesamten Aktenbestand und damit über die Akten, welche den Teil des Verfahrens betreffen, für den die Privatklägerschaft zugelassen ist, wird erheblich erschwert oder sogar verunmöglicht. Die lediglich teilweise Gewährung der Parteistellung birgt die Gefahr, dass die Staatsanwaltschaft formal zwar ein einheitliches, materiell jedoch separate Verfahren mit verschiedenen Aktenbeständen führt, was nicht zulässig wäre. Ein einheitlicher Aktenbestand in einem einheitlichen Verfahren ist indessen zentral und zwingend, da er das wohl wichtigste Verfahrensinstrument ist. Da die Akten die verfahrensrelevanten Vorgänge und Umstände des bisherigen Verfahrens festhalten, stellen sie die Entscheidungsgrundlage für sämtliche künftigen Verfahrensschritte und -stufen dar. Sie dienen der Information der Verfahrensbeteiligten und ermöglichen den Parteien sowie den Rechtsmittelinstanzen die Kontrolle, ob korrekt ermittelt und beurteilt wurde. Die Akten sind aber auch die Grundlage einer effizienten Wahrnehmung der Verfahrensrechte und mithin des rechtlichen Gehörs[27]. Hinzu kommt, dass die Gewährung der Akteneinsicht in den gesamten Aktenbestand eines einheitlich geführten Verfahrens unproblematischer und in der Umsetzung praktikabler ist als die Gewährung der Akteneinsicht in bloss beschränktem Umfang. Die Gewährung der Akteneinsicht in bloss beschränktem Umfang erfordert eine Triage, welche mit Aufwand verbunden und fehleranfällig ist. Wie die Staatsanwaltschaft selber einräumte, besteht im Übrigen die Möglichkeit, die grundsätzlich umfassend zu gewährende Akteneinsicht bei Bedarf mittels einer anfechtbaren und begründeten Verfügung einzuschränken. Eine Einschränkung der Akteneinsicht beziehungsweise generell des rechtlichen Gehörs ist laut Art. 108 Abs. 1 StPO möglich, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht (lit. a) oder dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist (lit. b). Beim Akteneinsichtsrecht ergeben sich somit bei einer Parteistellung der Privatklägerschaft im gesamten Verfahren auch bei klar voneinander abgegrenzten Lebenssachverhalten keine unlösbaren Probleme.

bbb) Im Zusammenhang mit der Gewährung und Ausübung der Teilnahmerechte stellt sich das Problem der Übersicht und Kontrolle nicht, weil alle Beweisabnahmen in die Akten aufzunehmen sind und über die Akteneinsicht nachvollzogen werden können. Ausserdem ist die Gewährung und Ausübung der Teilnahmerechte zum Teil mit erheblichem Aufwand und Kosten verbunden. Dieser Umstand dürfte allerdings nicht von praktischer Relevanz sein, weil die Privatklägerschaft kaum zu einer Einvernahme erscheinen wird, welche sie nicht betrifft. Das gilt namentlich, wenn die Privatklägerschaft anwaltlich vertreten ist, denn für solchen Aufwand müsste sie in jedem Fall selber aufkommen, da der Rechtsvertreter im Strafverfahren nur den notwendigen Aufwand in Rechnung stellen kann[28]. Auch in Bezug auf die Teilnahmerechte stellen sich jedoch keine unlösbaren oder sonst wie praktischen Probleme, wenn der Privatklägerschaft die Parteistellung für das gesamte einheitliche Verfahren umfassend gewährt wird. Vielmehr können auch die Teilnehmerechte bei Bedarf mittels einer anfechtbaren und begründeten Verfügung eingeschränkt oder verweigert werden. Die gesetzliche Grundlage dafür ergibt sich wiederum aus Art. 108 Abs. 1 StPO, ferner auch aus Art. 146 Abs. 4 und Art. 149 Abs. 2 lit. b StPO[29].

ccc) Hier macht eine generelle Verweigerung der Teilnahmerechte der Beschwerdeführerin für den Sachverhalt gemäss der Strafanzeige vom 20. Dezember 2017 allerdings kaum Sinn. Zwar handelt es sich um zwei voneinander abgrenzbare Lebenssachverhalte, doch sind bestimmte Sachverhaltselemente für beide Lebenssachverhalte von Bedeutung. So ist etwa für beide Sachverhalte abzuklären, ob Y weitere Unternehmen führte beziehungsweise für diese tätig war. Einvernahmen zu diesem Thema sind folglich für beide Sachverhalte relevant, weshalb der Beschwerdeführerin diesbezüglich das Teilnahmerecht nicht verweigert werden kann. Eine zweimalige Einvernahme zu diesem Thema, einmal in Bezug auf den ersten Sachverhalt im Beisein der Beschwerdeführerin und einmal in Bezug auf den zweiten Sachverhalt ohne Anwesenheit der Beschwerdeführerin, wäre auch unter dem Aspekt des Beschleunigungsgebots[30] und der Prozessökonomie kaum sinnvoll. Ohnehin sind Teilnahmerechte im Zweifelsfall zu gewähren. Als unproblematisch erweist sich alsdann auch das von der Staatsanwaltschaft genannte Beispiel eines einheitlich geführten Verfahrens gegen einen Beschuldigten wegen Diebstahls und sexueller Nötigung. Diesfalls könnten der durch den Diebstahl unmittelbar geschädigten Privatklägerschaft für den Sachverhalt, auf dem der Vorwurf der sexuellen Nötigung beruht, generell die Teilnahmerechte verweigert werden, da sie nicht davon betroffen ist[31].

cc) Die Staatsanwaltschaft warf weiter die Frage der Rechtsmittellegitimation der Privatklägerschaft in einem einheitlichen Strafverfahren auf. Auch daraus ergeben sich keine unlösbaren Probleme. Gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO kann jede Partei, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines Entscheids hat, ein Rechtsmittel ergreifen. Die Rechtsmittellegitimation ist eine Prozessvoraussetzung und daher vorab von der mit der Sache befassten Rechtsmittelinstanz von Amtes wegen zu prüfen. Fehlt sie, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten[32]. Ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines Entscheids und damit eine Beschwer ist unabhängig von der Parteistellung im Strafverfahren (nur dann) gegeben, wenn der Beschwerdeführer selbst in seinen eigenen Rechten unmittelbar und direkt betroffen ist[33]. Da die Beschwerdeführerin in Bezug auf den Sachverhalt gemäss der Strafanzeige vom 20. Dezember 2017 nicht unmittelbar geschädigt ist, dürfte ihr dafür entsprechend auch keine Rechtsmittellegitimation zukommen.

dd) Folglich ist an der bisherigen Praxis des Obergerichts, wonach der Anzeigeerstatterin die Privatkläger- und mithin die Parteistellung im gesamten einheitlichen Verfahren zukommt, auch wenn sie bloss in Bezug auf gewisse Vorwürfe unmittelbar, in Bezug auf andere Vorwürfe hingegen nicht (unmittelbar) geschädigt ist, auch bei mehreren klar voneinander abgegrenzten Lebenssachverhalten festzuhalten. Zwar geht dies nicht ausdrücklich aus der StPO hervor, doch findet sich dort auch keine anderslautende oder gegenteilige Bestimmung. Diese Lösung ergibt sich implizit aus der Parteistellung. Für eine Aufspaltung der Parteirechte innerhalb eines Verfahrens sind keine erheblichen Gründe ersichtlich; gegen eine solche Aufspaltung spricht auch, dass die Staatsanwaltschaft diesfalls jeweils von Amtes wegen eine entsprechende Verfügung erlassen müsste, ansonsten sie eine Amtsgeheimnisverletzung riskieren würde. Die Parteistellung bezieht sich somit auf das gesamte Verfahren, wobei das Akteneinsichts- und Teilnahmerecht bei mangelndem schutzwürdigen Interesse entsprechend eingeschränkt beziehungsweise verweigert werden kann.

4. Zusammenfassend ist die Beschwerde zu schützen, und die Beschwerdeführerin ist für das gesamte Strafverfahren, auch für den Sachverhalt gemäss der Strafanzeige vom 20. Dezember 2017, als Privatklägerin zuzulassen. Die Privatklägerstellung beziehungsweise die Verfahrensrechte der Beschwerdeführerin als Partei können allerdings im Sinn der Erwägungen mit anfechtbarer begründeter Verfügung eingeschränkt werden, wobei eine solche Einschränkung im pflichtgemäss und sachgerecht zu handhabenden Ermessen der Staatsanwaltschaft liegt.

Obergericht, 2. Abteilung, 22. März 2018, SW.2018.11


[1] Art. 115 Abs. 1 StPO

[2] BGE 138 IV 265

[3] BGE 141 IV 457, 140 IV 157 f., 138 IV 263, 129 IV 98 f., 128 I 223

[4] BGE 141 IV 457, 140 IV 157 f., 138 IV 263

[5] RBOG 2011 Nr. 29 S. 180 f.

[6] BGE 140 IV 171

[7] Art. 301 Abs. 2 StPO

[8] Art. 301 Abs. 3 StPO; Küffer, Basler Kommentar, Art. 105 StPO N 12

[9] RBOG 2011 Nr. 29 S. 179 f.

[10] Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 2013, BBl 2013 S. 5976

[11] BBl 2013 S. 6004

[12] Art. 29 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 AVIG

[13] Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, SR 241

[14] Heilmittelgesetz, SR 812.21

[15] Bundesgesetz über die Krankenversicherung, SR 832.10

[16] "Sperrwirkung der abgeurteilten Sache"

[17] BGE 137 I 364

[18] Tag, Basler Kommentar, Art. 11 StPO N 13

[19] BGE vom 20. September 2017, 6B_756/2017 und 6B_757/2017, Erw. 5.2.1; BGE vom 4. Dezember 2015, 6B_1056/2015, Erw. 1.3; BGE vom 20. März 2014, 6B_653/2013, Erw. 3.2

[20] Eine rechtskräftige Einstellungsverfügung gemäss Art. 320 Abs. 4 StPO kommt einem freisprechenden Endentscheid gleich und entfaltet insoweit die Sperrwirkung des Grundsatzes "ne bis in idem" (Tag, Art. 11 StPO N 13).

[21] Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 S. 1133

[22] Schweizerisches Strafprozessrecht, 6.A., S. 425 f.

[23] BGE vom 4. Dezember 2015, 6B_1056/2015, Erw. 1.2; BGE vom 20. März 2014, 6B_653/2013, Erw. 3.2

[24] BGE 135 IV 10; BGE vom 23. Januar 2015, 6B_823/2014, Erw. 2.3.1

[25] Art. 29 Abs. 1 lit. a StPO

[26] Gemäss Art. 107 Abs. 1 StPO haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör; sie haben namentlich das Recht, Akten einzusehen, an Verfahrenshandlungen teilzunehmen, einen Rechtsbeistand beizuziehen, sich zur Sache und zum Verfahren zu äussern und Beweisanträge zu stellen.

[27] Schmutz, Basler Kommentar, Art. 100 StPO N 4 ff.

[28] Vgl. Art. 433 Abs. 1 StPO

[29] Vgl. BGE 143 IV 403

[30] Art. 5 Abs. 1 StPO

[31] Vgl. Riklin, Schweizerische Strafprozessordnung, Kommentar, 2.A., Art. 147 N 3

[32] Guidon, Die Beschwerde gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung, Zürich/ St. Gallen 2011, N 215 f.; Ziegler/Keller, Basler Kommentar, Art. 382 StPO N 1

[33] BGE vom 17. November 2016, 1B_339/2016, Erw. 2.4; BGE vom 22. Oktober 2015, 1B_242/2015; Erw. 4.3.1; Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 382 N 7; Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2.A., Art. 382 N 1 f.; Guidon, N 232; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N 1557

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