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RBOG 2018 Nr. 19

Ablehnung des abgekürzten Verfahrens durch den Privatkläger


Art. 360 Abs. 2 und 3 StPO


1. a) Beschwerdeobjekt ist die Verfügung der Staatsanwaltschaft mit der Feststellung, die Ablehnung des abgekürzten Verfahrens durch den Beschwerdeführer (den Privatkläger) sei nichtig und sein Ablehnungsrecht sei verwirkt.

b) Die Staatsanwaltschaft will im abgekürzten Verfahren dem Bezirksgericht die Verurteilung des Beschwerdegegners wegen mehrfachen Pfändungsbetrugs gemäss Art. 163 Abs. 1 StGB und mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen gemäss Art. 292 StGB beantragen.

c) Der Beschwerdeführer lehnte das abgekürzte Verfahren mit der Begründung ab, die beantragte Strafe sei zu mild.

d) Die Staatsanwaltschaft erwog in der angefochtenen Verfügung, die StPO sage nicht ausdrücklich, aus welchen Gründen eine Partei die Durchführung des abgekürzten Verfahrens ablehnen könne, und ob es dafür einer Begründung bedürfe. Allerdings würden Lehre und Rechtsprechung übereinstimmend davon ausgehen, dass sich die Ablehnung nur auf den Zivil- und / oder Schuldpunkt, nicht aber auf den Strafpunkt beziehen könne. Dies sei "logisch", habe der Privatkläger doch auch in der Hauptverhandlung kein Antragsrecht bezüglich der auszufällenden Sanktion. Ebenso wenig könne er ein Urteil hinsichtlich der Sanktion anfechten. Damit fehle es an einer gültigen Ablehnung, womit der Beschwerdeführer sein Ablehnungsrecht verwirkt habe, soweit es überhaupt bestanden habe.

2. a) Die beschuldigte Person kann gemäss Art. 358 StPO der Staatsanwaltschaft bis zur Anklageerhebung die Durchführung des abgekürzten Verfahrens beantragen, wenn sie den Sachverhalt, der für die rechtliche Würdigung wesentlich ist, eingesteht und die Zivilansprüche zumindest im Grundsatz anerkennt. Das abgekürzte Verfahren ist ausgeschlossen, wenn die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verlangt. Die Staatsanwaltschaft entscheidet laut Art. 359 StPO über die Durchführung des abgekürzten Verfahrens endgültig. Die Verfügung muss nicht begründet werden. Die Staatsanwaltschaft teilt den Parteien die Durchführung des abgekürzten Verfahrens mit und setzt der Privatklägerschaft eine Frist von zehn Tagen an, um Zivilansprüche und die Forderung auf Entschädigung für notwendige Aufwendungen im Verfahren anzumelden. Nach Art. 360 Abs. 2-5 StPO eröffnet die Staatsanwaltschaft den Parteien die Anklageschrift mit den notwendigen Angaben gemäss Art. 360 Abs. 1 StPO. Diese haben innert zehn Tagen zu erklären, ob sie der Anklageschrift zustimmen oder sie ablehnen. Die Zustimmung ist unwiderruflich. Lehnt die Privatklägerschaft die Anklageschrift innert Frist nicht schriftlich ab, gilt dies als Zustimmung. Stimmen die Parteien zu, so übermittelt die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift mit den Akten dem erstinstanzlichen Gericht. Stimmt eine Partei nicht zu, führt die Staatsanwaltschaft ein ordentliches Verfahren durch.

b) Die Staatsanwaltschaft beruft sich für ihren Standpunkt auf ein Urteil des Einzelrichters des Bundesstrafgerichts vom 14. Oktober 2011[1], in dem der Privatkläger das abgekürzte Verfahren ablehnte, weil er ausschliesslich mit dem vorgeschlagenen Strafmass nicht einverstanden war. Der Einzelrichter erwog ohne Angabe von Quellen, dem Privatkläger stehe im ordentlichen Verfahren (auch) nicht das Recht zu, sich zum Strafmass zu äussern, und er könne im Rechtsmittelverfahren die ausgesprochene Sanktion nicht anfechten. Folglich wäre es systemwidrig, dem Privatkläger, der sich ausschliesslich gegen das vorgeschlagene Strafmass wende, für die Durchführung des abgekürzten Verfahrens ein Vetorecht einzuräumen, das ihm im ordentlichen Verfahren nicht zustehe, und das ihm für das ordentliche Verfahren keinen rechtlich geschützten Anspruch eröffne. Laut Staatsanwaltschaft teilt Schmid diese Meinung, wonach eine Zustimmung des Privatklägers im Strafpunkt nicht erforderlich sei. Tatsächlich führen Schmid/Jositsch an der von der Staatsanwaltschaft angegebenen Stelle aus, die Zustimmung der Privatklägerschaft müsse sich je nach ihrer Konstituierung auf den Zivil- und / oder Schuldpunkt beziehen, nicht auf den Strafpunkt[2].

c) Die Auffassung der Staatsanwaltschaft hält indessen einer näheren Überprüfung nicht stand.

aa) Der Gesetzeswortlaut enthält keinen Hinweis auf die erwähnte Differenzierung: Die Staatsanwaltschaft eröffnet den Parteien laut Art. 360 Abs. 2 und 3 StPO die Anklageschrift, die sie im Fall der Zustimmung oder Nichtablehnung beim Gericht im abgekürzten Verfahren erheben wird. Die Parteien haben innert zehn Tagen zu erklären, ob sie der Anklageschrift zustimmen oder sie ablehnen. Die Zustimmung ist unwiderruflich. Lehnt die Privatklägerschaft – und eine solche ist der Beschwerdeführer unbestritten – die Anklageschrift innert Frist nicht schriftlich ab, gilt dies als Zustimmung.

Der Beschwerdeführer lehnte die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ausdrücklich und schriftlich sowie innert offener Frist unmissverständlich und klar ab.

bb) Der Wortlaut des Gesetzestextes ist klar. Auch Oberholzer zitiert nur diesen und hält abschliessend fest: "Stimmt eine Partei nicht zu, ist der 'Deal' gescheitert und führt die Staatsanwaltschaft ein ordentliches Vorverfahren durch."[3] Da die Parteien demnach (nur) zu erklären haben, ob sie der Anklageschrift zustimmen oder sie ablehnen, stehen somit alle Punkte der Anklageschrift zur Diskussion. Zudem trifft die Privatklägerschaft (laut Gesetz) keine Begründungspflicht, sodass eine inhaltliche Überprüfung ihrer Ablehnung schwierig bis unmöglich ist. Die Privatklägerschaft ist damit frei, aus welchen Gründen sie auf die Durchführung des abgekürzten Verfahrens verzichten will. Insbesondere muss sich die Ablehnung nicht auf den Zivilpunkt beschränken. Demzufolge bezieht sich die Beteiligungsmöglichkeit der Privatklägerschaft nicht nur auf die Bereiche Schuldpunkt sowie Schadenersatz und Genugtuung, sondern faktisch auch auf die Sanktionsart und Sanktionshöhe, obwohl die Privatklägerschaft bei den Rechtsmitteln hiezu nicht legitimiert ist. Die Privatklägerschaft kann einen Entscheid hinsichtlich der ausgesprochenen Sanktion gemäss Art. 382 Abs. 2 StPO nicht anfechten. Hierin liegt ein gewisses, vom Gesetzgeber aber offensichtlich in Kauf genommenes Risiko, dass sich die Privatklägerschaft indirekt in die Strafzumessungsfrage einmischt. Dies wurde auch in der Rechtskommission des Ständerats diskutiert. Der Ständerat befürchtete, dass der uneingeschränkte Einbezug des Zivilklägers die Durchführung des abgekürzten Verfahrens stark gefährde, da ein einzelner Privatkläger es mit Verweigerung seiner Zustimmung zu Fall bringen könnte. Der Nationalrat hielt aber am bundesrätlichen Entwurf fest, wonach auch der Privatkläger der Anklageschrift ausdrücklich zustimmen muss. Schliesslich unterbreitete der Nationalrat dem Ständerat eine "Kompromisslösung", der sich der Ständerat anschloss. So bestimmt heute Art. 360 Abs. 3 StPO, dass es als Zustimmung gilt, wenn der Privatkläger nicht innert zehntägiger Frist die Anklageschrift ablehnt[4].

Nicht die fehlende Zustimmung der Privatklägerschaft, sondern erst ihre schriftliche Ablehnung führt somit zu einem ordentlichen Verfahren. Fehlt die Zustimmung der Privatklägerschaft, wird sie vermutet. In diesem Fall kommt es gerade nicht zu einem ordentlichen Verfahren. Damit hat der Gesetzgeber eine Regelung gefunden, welche die Konventionsrechte der Privatklägerschaft wahrt und gleichzeitig Beschleunigungspotenzial hat. Enthält sich die Privatklägerschaft einer Intervention, verkürzt sich das Strafverfahren bedeutend und das Adhäsionsverfahren entfällt. Gesetzgeberisch nicht gelöst ist indessen das Problem, dass querulatorische Privatkläger ein abgekürztes Verfahren trotz vollständiger Anerkennung ihrer Zivilforderungen verhindern können. Ihre Ablehnung bedarf keiner Begründung. Sie kann sich somit gegen den Zivil-, Schuld- oder Strafpunkt richten. Dass die Privatklägerschaft im Zivilpunkt nicht beschwert und im Sanktionspunkt ansonsten nicht teilnahmeberechtigt ist, bleibt damit unberücksichtigt[5]. So sieht es das Gesetz vor; eine allfällige Änderung wäre Sache des Gesetzgebers.

cc) Die Parteien müssen die Zustimmung oder Ablehnung der Anklageschrift somit laut Gesetz nicht begründen. Deshalb ist der Privatklägerschaft auch bei einer allfälligen späteren Änderung der Anklageschrift, die nur den Strafpunkt betrifft, nochmals Gelegenheit zur Ablehnung zu geben[6]. Daher können die Gründe für die Ablehnung im Verborgenen bleiben mit der Folge, dass die Privatklägerschaft die Anklageschrift auch ablehnen kann, wenn ihr die Strafe zu mild erscheint, obwohl sie kein rechtlich geschütztes Interesse am Bestrafungspunkt hat[7]. Damit ist es nur schon ein Gebot der Rechtssicherheit, dass auch der Privatkläger, der seinen Unmut über die zu milde Strafe bekundet, eine nach Art. 360 Abs. 2 und 3 StPO rechtswirksame Ablehnung abgeben kann. Andernfalls werden Privatkläger vordergründig den Schuld- oder Zivilpunkt bemängeln oder ohne Begründung ablehnen, in Wahrheit aber eine höhere Strafe im ordentlichen Verfahren beabsichtigen.

3. Zusammengefasst lehnte der Beschwerdeführer das abgekürzte Verfahren nach Art. 360 Abs. 3 StPO rechtswirksam ab. Damit ist die angefochtene Verfügung aufzuheben. Die Staatsanwaltschaft hat im Sinn von Art. 360 Abs. 5 StPO das ordentliche Verfahren durchzuführen.

Obergericht, 2. Abteilung, 9. August 2018, SW.2018.70


[1] SK.2011.20

[2] Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3.A., Art. 360 N 13

[3] Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N 1497

[4] Galeazzi, Der Zivilkläger im Strafbefehls- und im abgekürzten Verfahren, Zürich 2016, S. 129 f.; vgl. Greiner/Jäggi, Basler Kommentar, Art. 360 StPO N 31

[5] Thommen, Kurzer Prozess - fairer Prozess, Bern 2013, S. 190 f.; Bommer, Abgekürztes Verfahren und Plea Bargaining im Vergleich, in: ZSR 128 II, 2009, S. 111

[6] Schwarzenegger, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 360 N 10

[7] Galeazzi, S. 128

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