Skip to main content

RBOG 2018 Nr. 2

Zuständigkeit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde im interkantonalen Verhältnis


Art. 23 Abs. 1 ZGB, Art. 442 Abs. 1 ZGB, Art. 444 ZGB


1. Im März 2018 beantragte X bei einer thurgauischen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde die Errichtung einer Beistandschaft und erklärte, er wohne seit einer Suchttherapie im Integrationszentrum in A. Nach weiteren Abklärungen ersuchte die thurgauische Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde die ausserkantonale Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in A um Übernahme der Prüfung des Gesuchs von X. Diese lehnte die Übernahme ab, worauf die thurgauische Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde die Frage der örtlichen Zuständigkeit dem Obergericht unterbreitete.

2. a) Gemäss Art. 444 Abs. 1 ZGB prüft die Erwachsenenschutzbehörde ihre Zuständigkeit von Amtes wegen. Hält sie sich für nicht zuständig, so überweist sie die Sache unverzüglich der Behörde, die sie als zuständig erachtet[1]. Zweifelt sie an ihrer Zuständigkeit, so pflegt sie einen Meinungsaustausch mit der Behörde, deren Zuständigkeit in Frage kommt[2]. Kann im Meinungsaustausch keine Einigung erzielt werden, so unterbreitet die zuerst befasste Behörde die Frage ihrer Zuständigkeit der gerichtlichen Beschwerdeinstanz[3]. Betrifft der Kompetenzkonflikt zwei Behörden unterschiedlicher Kantone, ist das Gericht des Kantons zuständig, das zuerst mit der Sache befasst war[4].

b) Das Obergericht ist als gerichtliche Beschwerdeinstanz im Sinne von Art. 444 Abs. 4 ZGB zuständig zur Beurteilung der von der Gesuchstellerin unterbreiteten Frage der Zuständigkeit[5].

c) Die gerichtliche Beschwerdeinstanz kann nicht mit bindender Wirkung über die Zuständigkeit einer Erwachsenenschutzbehörde in einem anderen Kanton bestimmen[6]. Negative Kompetenzkonflikte haben die jeweiligen Kantone auf dem Klageweg gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG auszutragen[7]. Vor der Klageanhebung hat indessen das gemäss Art. 444 Abs. 4 ZGB zuständige Gericht des klagenden Kantons die Unzuständigkeit der eigenen Behörde festzustellen[8]. Auf das Gesuch ist daher einzutreten.

3. a) Für Erwachsenenschutzmassnahmen ist gemäss Art. 442 Abs. 1 ZGB die Erwachsenenschutzbehörde am Wohnsitz der betroffenen Person zuständig, wobei an den zivilrechtlichen Wohnsitz angeknüpft wird[9]. Dieser bestimmt sich nach den Regeln von Art. 23-26 ZGB[10]. Die im Zeitpunkt der Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens vorhandenen Wohnsitzverhältnisse entscheiden darüber, wo die Massnahme errichtet und unter Vorbehalt von Art. 442 Abs. 5 ZGB geführt und beendigt wird[11]. Die Zuständigkeit gilt sowohl innerkantonal als auch interkantonal[12].

b) Massgebend im vorliegenden Fall ist mithin, wo X im Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens seinen zivilrechtlichen Wohnsitz hatte. Mit der Einleitung wird das Verfahren rechtshängig; die Eröffnung des Verfahrens ist mit der Rechtshängigkeit gleichzusetzen[13]. Nach kantonalem Recht wird das Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde unter anderem mit der Einreichung eines Gesuchs hängig[14]. Vorliegend hat X im März 2018 um die Anordnung einer Beistandschaft ersucht. Entscheidend ist somit, wo X zu diesem Zeitpunkt Wohnsitz hatte.

c) aa) Gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der Wohnsitz einer Person am Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Für die Begründung des Wohnsitzes müssen somit zwei Merkmale erfüllt sein: ein objektives äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die Absicht dauernden Verbleibens. Nach der Rechtsprechung kommt es nicht auf den inneren Willen, sondern darauf an, welche Absicht objektiv erkennbar ist[15]. Massgebend ist der Ort, wo sich nach den konkreten Umständen objektiv betrachtet der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet. Letzterer befindet sich im Normalfall am Wohnort, wo man schläft, die Freizeit verbringt und wo sich die persönlichen Effekten befinden[16]. Nicht massgebend ist dagegen, wo eine Person angemeldet ist und ihre Schriften hinterlegt hat[17]. Die nach aussen erkennbare Absicht, am entsprechenden Ort zu verweilen, muss auf einen dauernden Aufenthalt gerichtet sein. Auch ein von vornherein bloss vorübergehender Aufenthalt kann jedoch einen Wohnsitz begründen, wenn er auf eine bestimmte Dauer angelegt ist und der Lebensmittelpunkt dorthin verlegt wird. Die Absicht, einen Ort später zu verlassen, schliesst eine Wohnsitzbegründung nicht aus[18].

bb) Der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz[19]. Damit die betroffene Person dennoch am Ort der Anstalt Wohnsitz erwerben kann, muss sie freiwillig dorthin gegangen sein und in für Dritte erkennbarer Weise die Absicht bekundet haben, am entsprechenden Ort auf Dauer zu verweilen[20]. Der freiwillige Eintritt einer urteilsfähigen mündigen Person in eine Anstalt kann somit einen Wohnsitz begründen, sofern dadurch der Lebensmittelpunkt dorthin verlegt wird[21]. Als freiwillig ist dabei auch der Eintritt unter dem "Zwang der Umstände" anzusehen[22]. Namentlich kann etwa der Aufenthalt eines Drogenabhängigen in einer therapeutischen Institution zivilrechtlichen Wohnsitz begründen, sofern die genannten Voraussetzungen erfüllt sind[23].

cc) Als Anstalten im Gesetzessinne gelten öffentliche oder private Einrichtungen, die einem vorübergehenden Sonderzweck (z.B. Pflege, Heilung, Erziehung, Strafverbüssung, Kur, Ferien) und nicht dem allgemeinen Lebenszweck dienen. Es muss sich nicht um eine geschlossene Anstalt handeln; auch ein betreutes Wohnheim für Personen mit psychischen und sozialen Problemen oder ein Altersheim für Behinderte kann eine Anstalt im Sinne von Art. 23 Abs. 1 ZGB darstellen[24].

dd) Der Wohnsitzbegriff ist funktionalisiert respektive zweckbezogen auszulegen. Zweck der Wohnsitzanknüpfung im Bereich des Erwachsenenschutzes ist es, die Zuständigkeit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde möglichst am Lebensmittelpunkt der betroffenen Person zu begründen. Insbesondere an die Wohnsitzbegründung von Personen in Einrichtungen sind deshalb nach der Lehre keine hohen Anforderungen zu stellen und die Begründung des Wohnsitzes am Ort der Einrichtung ist grosszügig anzunehmen[25].

d) Das Integrationszentrum in A bietet durch betreute Wohngemeinschaften für Menschen, welche eine stationäre Therapie oder einen Entzug hinter sich haben, einen geschützten Rahmen. Das Angebot richtet sich insbesondere an Personen, die sich schrittweise ein selbstbestimmtes Leben aufbauen wollen. Jeder Bewohner erarbeitet die Schritte seiner Integration dabei gemeinsam mit professionellen Bezugspersonen. Eine Zielvereinbarung legt fest, welche Schritte bis wann umgesetzt werden sollen; die Ziele betreffen dabei verschiedene Lebensbereiche. Für die Modulnachbehandlung bietet es zudem externe Wohngemeinschaften und Einzelwohnungen mit individuell festgelegter Nachbetreuung an. Damit ist das Integrationszentrum mitsamt den angebotenen externen Wohngemeinschaften im Hinblick auf diesen vorübergehenden Sonderzweck als Anstalt im Sinne von Art. 23 Abs. 1 ZGB zu qualifizieren.

e) Wer selbständig Wohnsitz begründen will, muss urteilsfähig im Sinne von Art. 16 ZGB sein. X ist unbestrittenermassen mündig und urteilsfähig. Er ist damit in der Lage, selbständig einen Wohnsitz zu begründen, zumal an die gemäss Art. 16 ZGB gesetzlich vermutete Urteilsfähigkeit im Bereich der Wohnsitzfrage ohnehin keine strengen Anforderungen gestellt werden[26].

f) aa) Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung müs­sen für die Annahme, dass X am Ort der Anstalt Wohnsitz genommen hat, zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss er freiwillig dorthin gegangen sein und zweitens muss er in für Dritte erkennbarer Weise die Absicht bekundet haben, dort verweilen zu wollen[27].

bb) X zog im April 2016 ins Integrationszentrum in A ein. Gestützt auf die Akten kann als erstellt gelten, dass der Eintritt freiwillig und selbstbestimmt erfolgte. Es wäre X freigestanden, in eine vergleichbare Einrichtung in einem anderen Kanton beziehungsweise einer anderen Region einzutreten. Dass er das exakte Wohnobjekt beziehungsweise dessen genaue Lage nicht vorgängig kannte, ist unbeachtlich. Insofern ist auch die Tatsache, dass das Integrationszentrum und nicht er selbst offizieller Mieter der Wohnung ist, nicht weiter von Bedeutung; dies dürfte vielmehr der Regel entsprechen. Gleichermassen spielt es keine Rolle, dass das Integrationszentrum eine Wohnung gleichzeitig bis zu drei weiteren Personen anbietet. Dass X geäussert habe, er möchte in Zukunft einmal selbständig wohnen, spricht ebenfalls nicht gegen eine Wohnsitzbegründung in A; zumal er selbst – aus nachvollziehbarem Grund – angab, dass er in der Region A wohnhaft bleiben wolle und nicht in den Kanton Thurgau zurück könne. Insofern ist auch irrelevant, dass Teile seines sozialen Umfelds sowie seine Familienangehörigen in unterschiedlichen Kantonen Wohnsitz haben. Der Vollständigkeit halber ist zudem darauf hinzuweisen, dass auch ein Eintritt unter dem "Zwang der Umstände" als freiwillig anzusehen ist[28]. Ein solcher dürfte vorliegend gegeben sein, da der Eintritt von X ins Integrationszentrum in A – nachdem er einen Entzug und eine Therapie hinter sich hatte – die Integration und letztlich einen Neustart zum Zweck hat.

cc) Seine Absicht des dauernden Verbleibens hat X aktenkundig und glaubhaft geäussert. Es ist objektiv nachvollziehbar, dass er sich von seinem ehemaligen Umfeld fernhalten möchte und den Neustart in der Region A vorantreiben will. Entsprechend gibt er auch zu Protokoll, dass er primär in der Region A eine Stelle suchen wolle. Ob es in anderen Kantonen – insbesondere im Kanton Thurgau – eine vergleichbare Anzahl freier Stellen auf dem Arbeitsmarkt hat, ist unbeachtlich. So begründet X seine Absicht des Verbleibens nicht ausschliesslich damit, dass er hier die grössten Chancen auf eine Anstellung hat; vielmehr handelt es sich dabei lediglich um ein Argument unter mehreren. Seine Absicht, in der Region A zu verbleiben, ist nach dem Gesagten somit auch objektiv erkennbar. Gleichzeitig ist aufgrund der geschilderten Umstände hinreichend erstellt, dass sich der Lebensmittelpunkt von X im Integrationszentrum und folglich in der Region A befindet. Damit ist auch dem Erfordernis, den Wohnsitzbegriff zweckbezogen auszulegen[29], Genüge getan. Die seitens der Ortschaft A vorgebrachten fiskalischen Argumente sind dabei ausser Acht zu lassen.

4. Zusammenfassend ist festzustellen, dass X im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs Wohnsitz im Sinne von Art. 23 ZGB im ausserkantonalen A hatte. Die thurgauische Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist für das Erwachsenenschutzverfahren in Sachen X nicht zuständig.

Obergericht, 1. Abteilung, 21. November 2018, KES.2018.63


[1] Art. 444 Abs. 2 ZGB

[2] Art. 444 Abs. 3 ZGB

[3] Art. 444 Abs. 4 ZGB

[4] Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht (Hrsg.: KOKES), Zürich/St.Gallen 2012, N 1.89; Auer/Marti, Basler Kommentar, Art. 444 ZGB N 28

[5] § 11c Abs. 1 EG ZGB (Einführungsgesetz zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, RB 210.1)

[6] BGE 141 III 93; BGE vom 31. August 2017, 5E_1/2017, Erw. 4

[7] BGE 141 III 95 f.; Auer, Urteilsanmerkung zu BGE 141 III 84, in: ZBl 116, 2015, S. 285 ff.

[8] BGE vom 31. August 2017, 5E_1/2017, Erw. 4

[9] Vogel, Basler Kommentar, Art. 442 ZGB N 3

[10] Wider, in: FamKommentar Erwachsenenschutz (Hrsg.: Büchler/Häfeli/Leuba/Stettler), Bern 2013, Art. 442 ZGB N 9; BGE 137 III 598

[11] BGE 126 III 419

[12] Vogel, Art. 442 ZGB N 3; Schnyder/Murer, Berner Kommentar, Vorbemerkungen zu Art. 376-378 ZGB N 5

[13] Vogel, Art. 442 ZGB N 16 f.

[14] § 37 Abs. 1 KESV (Kindes- und Erwachsenenschutzverordnung, RB 211.24)

[15] BGE 137 II 126, 136 II 409 f., 133 V 312 f.

[16] Staehelin, Basler Kommentar, Art. 23 ZGB N 5 f.

[17] BGE 127 V 241; Staehelin, Art. 23 ZGB N 23

[18] Staehelin, Art. 23 ZGB N 19b; BGE 127 V 241

[19] Art. 23 Abs. 1 ZGB

[20] BGE 137 II 127, 135 III 56

[21] Staehelin, Art. 23 ZGB N 19d

[22] Staehelin, Art. 23 ZGB N 19h; BGE 134 V 240

[23] Staehelin, Art. 23 ZGB N 19h

[24] Staehelin, Art. 23 ZGB N 19i; BGE 137 III 602 f., 127 V 239 f.

[25] Wider, Art. 442 ZGB N 10; Schnyder/Murer, Berner Kommentar, Art. 376 ZGB N 39; vgl. Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 9. September 2015, 810 15 127, Erw. 2

[26] BGE 127 V 240

[27] BGE 137 II 127, 135 III 56

[28] Staehelin, Art. 23 ZGB N 19h; BGE 134 V 240

[29] Wider, Art. 442 ZGB N 10; Schnyder/Murer, Art. 376 ZGB N 39

JavaScript errors detected

Please note, these errors can depend on your browser setup.

If this problem persists, please contact our support.