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RBOG 2019 Nr. 19

Beschwerdelegitimation einer Politischen Gemeinde gegen die Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft


Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO, Art. 105 Abs. 1 lit. b StPO, Art. 115 Abs. 2 StPO, Art. 382 Abs. 1 StPO


1. Die Politische Gemeinde erstattete bei der Staatsanwaltschaft Strafklage gegen die Beschwerdegegnerin, weil sich diese nicht innerhalb von 14 Tagen nach Zuzug bei der Einwohnerkontrolle angemeldet habe. In der Folge verfügte die Staatsanwaltschaft, dass die Untersuchung nicht anhand genommen werde. Dagegen erhob die Politische Gemeinde Beschwerde und beantragte, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Staatsanwaltschaft gestützt auf § 14 des Gesetzes über das Einwohnerregister[1] anzuweisen, ein Strafverfahren zu eröffnen.

2. a) Jede Partei, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines Entscheids hat, kann gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO ein Rechtsmittel ergreifen. Die Rechtsmittellegitimation ist eine Prozessvoraussetzung und daher vorab von der mit der Sache befassten Rechtsmittelinstanz von Amtes wegen zu prüfen. Fehlt sie, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten[2]. Ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines Entscheids und damit eine Beschwer ist (nur dann) gegeben, wenn der Beschwerdeführer selbst in seinen eigenen Rechten unmittelbar und direkt betroffen ist[3].

b) Parteien sind die beschuldigte Person, die Privatklägerschaft sowie (im Haupt- und Rechtsmittelverfahren) die Staatsanwaltschaft; Bund und Kantone können weiteren Behörden, die öffentliche Interessen zu wahren haben, volle oder beschränkte Parteirechte einräumen[4]. Sogenannte andere Verfahrensbeteiligte sind die geschädigte Person, die Person, welche Anzeige erstattet, die Zeugin oder der Zeuge, die Auskunftsperson, die oder der Sachverständige sowie der oder die durch Verfahrenshandlungen beschwerte Dritte. Werden die Verfahrensbeteiligten in ihren Rechten unmittelbar betroffen, so stehen ihnen die zur Wahrung ihrer Interessen erforderlichen Verfahrensrechte einer Partei zu[5].

c) Als Privatklägerschaft (und damit nach Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO als Partei) gilt die geschädigte Person, die ausdrücklich erklärt, sich am Strafverfahren als Straf- oder Zivilklägerin zu beteiligen[6]. Als geschädigte Person gilt die Person, die durch die Straftat in ihren Rechten unmittelbar verletzt worden ist, wobei die zur Stellung eines Strafantrags berechtigte Person in jedem Fall als geschädigte Person gilt[7]. Die Umschreibung der unmittelbaren Verletzung in eigenen Rechten geht vom Begriff des Rechtsguts aus. Dementsprechend ist unmittelbar verletzt, wer Träger des durch die verletzte Strafnorm geschützten oder zumindest mitgeschützten Rechtsguts ist. Als Geschädigter ist somit anzusehen, wer Träger des Rechtsguts ist, das durch die fragliche Strafbestimmung vor Verletzung oder Gefährdung geschützt werden soll. Im Zusammenhang mit Strafnormen, die nicht primär Individualrechtsgüter schützen, gelten praxisgemäss nur diejenigen Personen als Geschädigte, die durch die darin umschriebenen Tatbestände in ihren Rechten beeinträchtigt werden, sofern diese Beeinträchtigung unmittelbare Folge des tatbestandsmässigen Handelns ist. Bei Straftaten gegen kollektive Interessen reicht es für die Annahme der Geschädigtenstellung im Allgemeinen aus, dass das von der geschädigten Person angerufene Individualrechtsgut durch den Straftatbestand auch nur nachrangig oder als Nebenzweck geschützt wird. Werden dagegen durch Delikte, die (nur) öffentliche Interessen verletzen, private Interessen auch, aber bloss mittelbar beeinträchtigt, so ist der Betroffene nicht Geschädigter im Sinn von Art. 115 Abs. 1 StPO[8].

d) Die Beschwerdeführerin ist eine politische Gemeinde im Sinn von § 57 Abs. 2 KV[9]; sie ist eine selbstständige Körperschaft des öffentlichen Rechtes[10]. Wie alle politischen Gemeinden erfüllt sie die örtlichen Aufgaben, soweit nicht das Gesetz die Zuständigkeit anderen Gemeinwesen überträgt[11]. Obwohl die Beschwerdeführerin als politische Gemeinde mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet ist, ist sie weder Beschuldigte im Sinn von Art. 104 Abs. 1 lit. a StPO noch eine Behörde gemäss Art. 104 Abs. 2 StPO. Indessen ist die Beschwerdeführerin Anzeigeerstatterin nach Art. 105 Abs. 1 lit. b StPO; als solcher stehen ihr, wenn sie weder geschädigt noch Privatklägerin ist, keine weitergehenden Verfahrensrechte zu[12].

e) Zwar kann eine Gemeinde wie eine juristische Person des Privatrechts (Aktiengesellschaft, Verein usw.) von einer Anordnung oder einem prozessrechtlich relevanten Sachverhalt selbst betroffen sein. In solchen Fällen sind öffentlich-rechtliche Körperschaften oder privatrechtliche juristische Personen verfahrensrechtlich wie jede andere (direkt) betroffene Person zu behandeln. Eine solche Situation liegt in diesem Verfahren jedoch nicht vor.

f) Die Beschwerdeführerin ist nicht direkt in ihren vermögensrechtlichen Verhältnissen betroffen, wie dies beispielsweise bei einer Veruntreuung durch einen Gemeindeangestellten oder bei einer Beschädigung von kommunalem Eigentum durch Dritte der Fall wäre. Bei diesen Beispielen wäre die Beschwerdeführerin ohne weiteres als Trägerin des geschützten Rechtsguts (eigenes Vermögen, Eigentumsrechte) einzustufen. Ebenso wenig sind hier andere Rechtsgüter der Beschwerdeführerin dargetan worden respektive ersichtlich, welche die Beschwerdegegnerin durch eine allfällige rechtswidrige Nichtanmeldung direkt verletzt haben könnte. Zwar machte die Beschwerdeführerin mit Blick auf den Registereintrag als Voraussetzung für die Stimmberechtigung und den Bezug von So­zialhilfe (finanz-)politische Interessen geltend, doch handelt es sich hiebei um eine (klassische) mittelbare Verletzung eines Rechtsguts, was - wie dargelegt - nicht genügt.

g) Der Beschwerdeführerin geht es darum, dass die von ihr behauptete strafbare Nichtanmeldung verfolgt und beurteilt wird. Die Durchsetzung des Strafanspruchs - genauso wie die Wahrung der allgemeinen, überindividuellen Rechte - ist indessen Sache der Staatsanwaltschaft und allenfalls weiterer Behörden nach Art. 104 Abs. 2 StPO - dies im Gegensatz zu Rechtsgebieten[13], die eine Verbandslegitimation oder eine ausnahmsweise Beschwerdebefugnis der Gemeinden kennen[14]. Hier ist die Ausgangslage mit der Situation bei Straftaten gegen kollektive, gruppenspezifische oder fremde Rechtsgüter vergleichbar, deren Schutz zum statutarischen Zweck von sogenannten Interessenverbänden gehört. Diese Verbände sind nicht im Sinn von Art. 115 Abs. 1 StPO unmittelbar in ihren Rechten verletzt. Sie werden nämlich nicht schon dadurch Träger der Rechtsgüter, dass sie sich der Pflege dieser Rechtsgüter satzungsmässig widmen. Diesfalls sind die Interessenverbände in ihren Rechten – wenn überhaupt - nur mittelbar verletzt und können daher nicht als geschädigte Personen anerkannt werden[15].

h) Die Berufung der Beschwerdeführerin auf ihre Gemeindeautonomie ist unbehelflich. Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet[16]. Weil sich die Gemeindeautonomie nach kantonalem Recht richtet, lässt sich hieraus grundsätzlich keine Legitimation ableiten, welche nicht in der (bundesrechtlichen) StPO vorgesehen ist.

i) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ergibt sich die Beschwerdelegitimation der Gemeinden auch nicht aus dem "Erläuternden Bericht des DJS zur Überprüfung der Justizorganisation". Die Beschwerdeführerin will aus dem Umstand, dass die kommunalen Behörden im Zusammenhang mit dem neuen § 42a ZSRG, der den kantonalen Behörden generell ein Beschwerderecht einräumen will, unerwähnt blieben, ableiten, dass es für die Beschwerdelegitimation der Gemeinden keine spezialgesetzliche Grundlage brauche. Dies widerspricht Art. 104 Abs. 2 StPO, wonach Bund und Kantone Behörden, die öffentliche Interessen zu wahren haben, volle oder beschränkte Parteirechte einräumen können. Der Grund für die Einräumung behördlicher Parteirechte liegt darin, dass spezialisierte Verwaltungsbehörden besser in der Lage sind, Verstösse gegen Verwaltungsnormen zu erkennen und zu verfolgen[17]. Die Parteistellung muss indessen in einem Gesetz im formellen Sinn ausdrücklich eingeräumt werden. Unerheblich ist nur, in welchem Gesetz dies geschieht, ob im Einführungsgesetz zur StPO oder in einem Verwaltungsgesetz. Der Umstand, dass einer Behörde nach Art. 84 Abs. 6 StPO Entscheide zuzustellen sind oder ihr nach Art. 302 StPO ein Anzeigerecht oder eine entsprechende Pflicht zukommt, begründet noch keine Parteistellung[18]. Den Gemeinden ist es indessen unbenommen, de lege ferenda[19] auf die Einräumung von Parteirechten hinzuwirken.

j) Als unbehelflich erweisen sich auch die Ausführungen der Beschwerdeführerin betreffend die Vorgaben des BGG sowie der Hinweis auf BGE 140 V 332 f. Nur weil in einem Rechtsbereich die Beschwerdelegitimation zu bejahen ist, bedeutet dies nicht, dass sie in einer anderen Materie auch gegeben ist. Vielmehr ist die Beschwerdelegitimation in jedem Rechtsbereich nach den einschlägigen gesetzlichen Vorgaben zu prüfen. Wie bereits dargelegt, lassen sich im Strafverfahren - zumindest de lege lata - für diesen Fall keine Parteirechte und keine Beschwerdelegitimation der Beschwerdeführerin ableiten.

k) Der guten Ordnung halber bleibt festzuhalten, dass den Gemeinden in Bezug auf die angezeigte Tat keine gesetzlich normierte Strafantragsberechtigung zukommt, wie dies etwa bei Berufs- und Wirtschaftsverbänden, die nach den Statuten zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder befugt sind, sowie bei Konsumentenschutzorganisationen von gesamtschweizerischer oder regionaler Bedeutung der Fall ist[20]. Damit entfällt auch eine Legitimation gestützt auf Art. 115 Abs. 2 StPO.

3. Den politischen Gemeinden kommt somit zur Durchsetzung von Strafnormen, mit denen Pflichtverletzungen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Behörden[21] geahndet werden sollen, keine Parteistellung zu - genau gleich wie dies bei privaten Verbänden respektive Vereinigungen der Fall ist, die sich wie Konsumentenschutzorganisationen, Umwelt- und Tierschutzverbände oder Organisationen gegen Rassismus dem Schutz allgemeiner Interessen verpflichten.

4. Zusammenfassend ist auf die Beschwerde mangels Beschwerdelegitimation nicht einzutreten.

Obergericht, Einzelrichter, 2. Abteilung, 11. Juli 2019, SW.2019.37


[1] RB 142.15

[2] Ziegler/Keller, Basler Kommentar, 2.A., Art. 382 StPO N. 1; Guidon, Die Beschwerde gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung, Zürich/St. Gallen 2011, N. 215 f.

[3] BGE vom 17. November 2016, 1B_339/2016, Erw. 2.4; BGE vom 22. Oktober 2015, 1B_242/2015, Erw. 4.3.1; Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 382 N. 7; Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3.A., Art. 382 N. 1 f.; Guidon, N. 232; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3.A., N. 1557

[4] Art. 104 Abs. 1 lit. a-c und 2 StPO

[5] Art. 105 Abs. 1 lit. a-f und 2 StPO

[6] Art. 118 Abs. 1 StPO

[7] Art. 115 Abs. 1 und 2 StPO

[8] BGE 141 IV 457

[9] Verfassung des Kantons Thurgau, RB 101

[10] § 57 Abs. 1 KV

[11] § 57 Abs. 2 KV

[12] Art. 301 Abs. 3 StPO

[13] Vgl. Art. 10 UWG; Art. 89 BGG

[14] Vgl. Küffer, Basler Kommentar, 2.A., Art. 104 StPO N. 27; Schmid/Jositsch, Art. 104 StPO N. 10; Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3.A., N. 637; Riklin, Schweizerische Strafprozessordnung, 2.A., Art. 104 N. 3; Lieber, Art. 104 StPO N. 17

[15] Mazzucchelli/Postizzi, Basler Kommentar, 2.A., Art. 115 StPO N. 35 f.

[16] Art. 50 BV

[17] Küffer, Art. 104 StPO N. 23

[18] Küffer, Art. 104 StPO N. 24; Lieber, Art. 104 StPO N. 16; Schmid/Jositsch, Art. 104 StPO N. 8

[19] Beispielsweise in der laufenden Revision des ZSRG

[20] Diese Interessenverbände sind zwar nicht Geschädigte im Sinn von Art. 115 Abs. 1 StPO, wohl aber gestützt auf Art. 115 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 23 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 2 UWG (Mazzucchelli/Postizzi, Art. 115 StPO N. 35 f. und 100).

[21] Hier handelte es sich um die Gemeindebehörden selber.

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