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RBOG 2020 Nr. 1

Keine Einsicht in die Akten der Beiständin


Art. 29 BV, Art. 8 DSG, § 20 TG DSG, § 82 Abs. 1 KESV, Art. 419 ZGB, Art. 441 Abs. 1 ZGB, Art. 449 b ZGB


1. a) Die Eltern von X sind geschieden, wobei X bei seiner Mutter, der Beschwerdeführerin, lebt. Für X besteht eine Beistandschaft nach Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB.

b) Die Beschwerdeführerin stellte bei der Beiständin ein Gesuch um Akteneinsicht. Dieses schickte sie auch an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Die Berufsbeistandschaft lehnte sinngemäss das Gesuch um Akteneinsicht ab. Die Beschwerdeführerin verlangte daraufhin gegenüber der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde erneut Akteneinsicht, worauf diese ihr die Beilagen zum Bericht der Beiständin vom 22. Dezember 2019 zustellte. Die Beschwerdeführerin verlangte sodann abermals Akteneinsicht bei der Beiständin, welche diese ablehnte.

c) Infolgedessen ersuchte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde um Gewährung der «vollen Akteneinsicht, insbesondere auch über sämtliche Gesprächsprotokolle zwischen der Beiständin und dem Kindesvater». Sofern diese Akten der Behörde nicht vorliegen würden, sei die Beiständin anzuweisen, die Akten herauszugeben.

d) Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde wies den Rechtsvertreter darauf hin, dass Gespräche zwischen der Beiständin und dem Kindesvater nicht Teil des bei ihr anhängigen Verfahrens seien. In den Verfahrensakten finde sich diesbezüglich einzig der Bericht der Beiständin vom 22. Dezember 2019. Der Beschwerdeführerin sei bereits vollständige Einsicht in die Akten der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde gewährt worden. Bei Bedarf müsste eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht werden, was mit Verfahrenskosten verbunden sei.

e) Die Beschwerdeführerin liess darauf Beschwerde beim Obergericht führen mit dem Antrag, es sei eine Rechtsverweigerung durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Beschwerdegegnerin) festzustellen. Die Beschwerdegegnerin sei anzuweisen, unverzüglich über den Antrag auf Akteneinsicht zu entscheiden sowie der Beschwerdeführerin die Akten zugänglich zu machen.

2. a) Die Beschwerdeführerin bringt zusammengefasst vor, die Beschwerdegegnerin sei offensichtlich zuständig für den Entscheid über die Akteneinsicht. Es liege in ihrer Kompetenz, über Anträge betreffend Akteneinsicht zu entscheiden. Indem sie ihre Zuständigkeit verneine und auf die Berufsbeistandschaft verweise, begehe sie eine Rechtsverweigerung und verletze zudem das rechtliche Gehör. Ausserdem sei die Beschwerdegegnerin nach Art. 419 ZGB für Beschwerden gegen die Beiständin zuständig. Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Akteneinsicht stütze sich auf die ihr zustehende elterliche Sorge und das Datenschutzgesetz. Im konkreten Fall sei nicht ersichtlich, inwiefern durch die Freigabe der Gesprächsprotokolle das Wohl ihres Sohnes gefährdet sei. Überwiegende Interessen seien ebenfalls nicht gegeben.

b) Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsbehörden Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist sowie auf rechtliches Gehör[1]. Eine Gehörsverletzung im Sinn einer formellen Rechtsverweigerung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, wenn eine Behörde auf eine ihr frist- und formgerecht unterbreitete Sache nicht eintritt, obschon sie darüber entscheiden müsste. In welcher Form und in welchem Umfang die diesbezüglichen Verfahrensrechte zu gewährleisten sind, lässt sich nicht generell, sondern nur im Hinblick auf den konkreten Fall beurteilen[2].

c) Es stellt sich also die Frage, ob die Beschwerdegegnerin für das Akteneinsichtsgesuch der Beschwerdeführerin zuständig war und darüber formell hätte entscheiden müssen.

3. a) Die Beschwerdeführerin stützt ihr Gesuch um Akteneinsicht zunächst auf Art. 449b ZGB.

b) Nach Art. 449b Abs. 1 ZGB haben die am Verfahren beteiligten Personen im Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Anspruch auf Akteneinsicht, soweit nicht überwiegende Interessen entgegenstehen. Das Akteneinsichtsrecht erstreckt sich auf sämtliche verfahrensbezogene Akten, die geeignet sind, Grundlage eines Entscheids zu bilden. Nicht erfasst sind einerseits verwaltungsinterne Akten (sogenannte «Handakten»), also Unterlagen, die für den behördeninternen Gebrauch bestimmt sind und ausschliesslich der Meinungsbildung der Behörde dienen[3]. In diesem Punkt deckt sich das vom Gesetz vorgesehene Akteneinsichtsrecht nicht mit den Bestimmungen über das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht, welches sich grundsätzlich auf alle personenbezogenen Daten bezieht, unabhängig von deren Erheblichkeit[4]. Andererseits findet Art. 449b ZGB keine Anwendung auf die Akten einer Beistandsperson, soweit diese Unterlagen nicht Bestandteil der Akten der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde sind[5]. Ein uneingeschränktes Einsichtsrecht, wie es die Beschwerdeführerin geltend macht, besteht damit nach Art. 449b ZGB nicht.

c) aa) Die Beschwerdeführerin verlangte Einsicht in von der Beiständin erstellte Gesprächsprotokolle, welche der Beschwerdegegnerin nicht vorliegen, die sich nicht bei den Verfahrensakten befinden und insofern auch nicht Grundlage eines Entscheids bilden können. Es handelt sich damit nicht um Akten, die für die Entscheidfindung der Beschwerdegegnerin relevant sein können. Die verlangten Gesprächsprotokolle – wenn es sie überhaupt gibt, was mangels Kenntnis der Akten der Beiständin nicht zweifelsfrei erwiesen ist – befinden sich ausschliesslich in den Akten der Beiständin. Der Anspruch auf Akteneinsicht nach Art. 449b ZGB kann sich jedoch nur auf bei der Beschwerdegegnerin vorhandene (entscheidrelevante) Akten erstrecken. Die Beschwerdeführerin beruft sich zu Unrecht auf diese Bestimmung.

bb) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch diese – von Lehre und Rechtsprechung vertretene - Auslegung von Art. 449b ZGB nicht verletzt. Das Recht auf Akteneinsicht dient der Umsetzung des rechtlichen Gehörs. Dieses wiederum ist ein prozessorientiertes, auf die Entscheidfindung ausgerichtetes Verfahrensrecht der Betroffenen[6]. Es bezieht sich auf Dokumente, Fakten und Umstände, die für einen Entscheid erheblich sind[7]. Alles, was nicht unmittelbar in einen Entscheid einfliesst, kann nicht Gegenstand des rechtlichen Gehörs sein.

Die in diesem Verfahren strittigen Dokumente sind gerade nicht Teil des für die Entscheidfindung erheblichen Aktenbestands. Sie könnten es später einmal werden, wenn die Beiständin diese Dokumente der Beschwerdegegnerin einreicht. Zum heutigen Zeitpunkt liegen sie der Beschwerdegegnerin aber nicht vor, weshalb sie die Beschwerdegegnerin unmöglich in einem Entscheid berücksichtigen kann. Das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin ist daher nicht verletzt.

cc) Die Beschwerdeführerin verlangt weiter sinngemäss, es seien die Akten durch die Beschwerdegegnerin bei der Berufsbeistandschaft beizuziehen. Der Aktenbeizug wäre indessen nur geboten, wenn sich die Gesprächsnotizen in irgendeiner Form auf die Entscheidfindung der Beschwerdegegnerin auswirken könnten. Inwiefern diese Gesprächsprotokolle für die von der Beiständin beantragten Massnahmen relevant sein sollen, ist aber nicht ersichtlich. Die Beschwerdegegnerin führt ihre eigenen Gespräche mit den Parteien.

d) Weder mit Art. 449b ZGB noch mit dem rechtlichen Gehör nach Art. 29 BV lässt sich ein Einsichtsanspruch der Beschwerdeführerin in die sich mutmasslich bei der Beiständin befindlichen Gesprächsprotokolle begründen.

4. a) Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, dass ihr gegenüber der Beschwerdegegnerin gestützt auf datenschutzrechtliche Bestimmungen ein Einsichtsrecht in die verlangten Protokolle zusteht. Nachdem sich die einverlangten Aktenstücke nicht in den Akten der Beschwerdegegnerin befinden und auch keine Veranlassung besteht, sie beizuziehen, ist vorab zu prüfen, wer für die Beantwortung der Frage nach der Einsicht in die Akten der Beiständin zuständig ist.

b) aa) Das DSG[8] gilt für das Bearbeiten von Daten natürlicher und juristischer Personen durch private Personen und Bundesorgane[9]. Das TG DSG[10] gilt für jedes Bearbeiten von Personendaten durch öffentliche Organe[11]. Als öffentliche Organe gelten der Staat, die Gemeinden, die Organisationen des kantonalen öffentlichen Rechts mit Rechtspersönlichkeit und die Personen, die mit öffentlichen Aufgaben dieser Gemeinwesen betraut sind[12]. Ausserdem fallen unter das kantonale Datenschutzrecht Privatpersonen, denen eine öffentliche Aufgabe übertragen wurde[13].

bb) Die beiden Datenschutzgesetze verschaffen der betroffenen Person grundsätzlich einen weitergehenden Anspruch als Art. 449b ZGB. Gestützt auf Art. 8 DSG beziehungsweise § 20 TG DSG kann eine betroffene Person – unter den gesetzlichen Voraussetzungen – namentlich auch die Herausgabe von verwaltungsinternen Akten verlangen[14].

cc) Adressat von Auskunftsgesuchen ist jeweils der Inhaber einer Datensammlung. Diesem vom Bundesrecht verwendeten Begriff[15] kommt die Funktion zu, diejenige Person zu bezeichnen, welche die datenschutzrechtliche Kontrolle über einen Informationsbestand ausübt und deshalb primärer datenschutzrechtlicher Verantwortungsträger ist[16]. Die Inhabereigenschaft knüpft an die tatsächlichen Verhältnisse an (an die tatsächliche Entscheidungsgewalt, den Inhalt, die Bearbeitungsmittel und -methoden)[17]. Insofern könnte von einer «Haltereigenschaft» gesprochen werden[18]. Das Gleiche dürfte für den vom kantonalen Datenschutzgesetz verwendeten Begriff des verantwortlichen Organs gelten[19].

dd) Die Berufsbeistandschaften werden im Kanton Thurgau von den Politischen Gemeinden geschaffen, organisiert und finanziert[20]. Sie sorgen im Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden für die im Einzelfall notwendige Betreuung; zudem führen sie im Auftrag der Behörde Sachverhaltsabklärungen durch[21]. Berufsbeiständinnen und -beistände stehen in einem Anstellungsverhältnis zur kommunalen Berufsbeistandschaft[22]; anders die privaten Beiständinnen und Beistände. Die Berufsbeistandschaft ist allerdings auch für die Instruktion und Begleitung von Privatbeiständen zuständig[23].

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden sind – im Unterschied zu den kommunal organisierten Berufsbeistandschaften – kantonale Behörden. Sie sind den fünf kantonalen Bezirken angegliedert[24]. Die beiden Organisationen haben die organisatorische Trennung auch geografisch und in der alltäglichen Amtsführung vollzogen. Zwar haben sich einige Politische Gemeinden zu überregionalen Berufsbeistandschaften zusammengeschlossen[25], allerdings mit getrennten Räumlichkeiten und anderen örtlichen Zuständigkeiten als die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden.

ee) Das kantonale Recht enthält nähere Bestimmungen über die Organisation der Beistandschaften[26]. Nach § 82 Abs. 1 KESV führen die Beistandspersonen eigene Akten. Sie haben darin alle für die Situation der betroffenen Person wichtigen Unterlagen bis zur Beendigung des Mandats sicher aufzubewahren und wesentliche Ereignisse oder Zustände in Aktennotizen festzuhalten[27]. Nach Beendigung des Mandats werden diese Akten der Leitung der Berufsbeistandschaft übergeben[28]. Die Akten müssen in einem sicheren, vor Witterungseinflüssen geschützten Raum archiviert werden[29].

c) Die von einem Beistand oder einer Beiständin geführten Akten zählen nicht zu den Verfahrensakten der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Die tatsächliche Herrschaft über den Aktenbestand hat – wie die Beschwerdegegnerin richtig ausführt – die Beistandschaft. Sie ist deshalb als Inhaberin beziehungsweise verantwortliches Organ im datenschutzrechtlichen Sinn zu qualifizieren. Daran ändert nichts, dass die Berufsbeistandschaften im Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden tätig werden, denn die Beistände erstellen die von ihnen verwalteten Akten in eigener Verantwortung und nicht lediglich treuhänderisch für die Behörde[30].

d) Die umstrittenen, von der Beiständin angeblich verfassten Gesprächsprotokolle befinden sich bei der Berufsbeistandschaft. Diese beziehungsweise die Beiständin ist somit Inhaberin der Daten und verantwortliches Organ. Damit ist sie für die Daten verantwortlich und für Akteneinsichtsgesuche erstinstanzlich zuständig. Die Auffassung der Beschwerdegegnerin, sie sei die falsche Adressatin, ist zutreffend. Im Verhältnis zwischen der Beschwerdegegnerin und der Berufsbeistandschaft kann sich die Beschwerdeführerin auch nicht auf die Bestimmungen des kantonalen oder eidgenössischen Datenschutzgesetzes berufen, da diese Gesetze jeweils nur (aber immerhin) den Auskunftsanspruch der berechtigten Person gegenüber dem Inhaber einer Datensammlung regeln. Den Informationsaustausch zwischen den Behörden regeln diese Gesetze, soweit hier von Interesse, nicht.

Bei diesem Ergebnis kann auch offenbleiben, ob die Beistandspersonen eine öffentliche Aufgabe erfüllen und deshalb unter das TG DSG fallen, oder ob auf sie aufgrund einer privatrechtlichen Tätigkeit das eidgenössische DSG anwendbar wäre[31].

5. a) Die Beschwerdeführerin macht vor Obergericht sodann sinngemäss geltend, die Beschwerdegegnerin hätte nach Art. 419 ZGB einen Entscheid treffen müssen.

b) aa) Nach Art. 419 ZGB kann die betroffene oder eine ihr nahestehende Person und jede Person, die ein rechtliches geschütztes Interesse hat, gegen Handlungen und Unterlassungen einer Beistandsperson, der die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde einen Auftrag erteilt hat, diese Behörde anrufen[32]. Die «Beschwerde» ist kein Rechtsmittel im formellen Sinn, sondern Rechtsbehelf sui generis mit aufsichtsrechtlicher Komponente[33]. Anwendbar sind die Verfahrensbestimmungen des erstinstanzlichen Verfahrens. Dieses hat einfach und rasch zu sein; es gilt die Untersuchungsmaxime[34]. Der von der Behörde getroffene Entscheid unterliegt seinerseits der Beschwerde an die kantonale Beschwerdeinstanz, im Kanton Thurgau an das Obergericht[35].

bb) Die für die «Beschwerde» nach Art. 419 ZGB massgebenden erstinstanzlichen Verfahrensvorschriften entspringen dem kantonalen Recht, soweit nicht Grundsätze und Vorgaben auf Bundesebene bestehen[36]. Subsidiär ist die ZPO anwendbar[37]. Im Kanton Thurgau hat das Obergericht gestützt auf die ihm vom kantonalen Gesetzgeber delegierte Rechtsetzungskompetenz[38] die KESV erlassen. Nach dem kantonalen Recht folgt das Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde den Regeln des Summarverfahrens[39]. Demgemäss haben Parteien grundsätzlich schriftliche Eingaben zu erstatten[40]. Die inhaltlichen Anforderungen orientieren sich am ordentlichen Verfahren: Das Gesuch muss Rechtsbegehren und Tatsachenbehauptungen enthalten oder zumindest erkennen lassen, welche Rechtsfolgen eine Person gestützt auf welche Behauptungen erwirken will[41].

c) aa) Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin verlangte mit dem gestellten Rechtsbegehren nicht die Überprüfung einer Verhaltensweise der Beiständin, sondern ersuchte um Akteneinsicht. Als Begründung fügt er zwar an, dass der Beschwerdeführerin zweifelsfrei eine uneingeschränkte Akteneinsicht zustehe und ihr die Beiständin die Akten nicht herausgegeben habe. Die Amtsführung der Beiständin thematisiert er im Übrigen aber nicht. Vielmehr beschränkt sich die Rechtsschrift in der Sache darauf, das mutmassliche Akteneinsichtsrecht der Beschwerdeführerin zu begründen und Antrag auf Einsicht an die Beschwerdegegnerin zu stellen. Dass es der Beschwerdeführerin ausschliesslich um eine vollumfängliche Akteneinsicht bei der Beschwerdegegnerin geht, hält sie auch in ihrer Beschwerdeschrift nochmals ausdrücklich fest. Sie weist zudem darauf hin, dass der Streitgegenstand der Beschwerde sei, dass die Beschwerdegegnerin «über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Akteneinsicht nicht entschieden» habe. Die Rechtsschrift genügt den Anforderungen an eine «Beschwerde» im Sinn von Art. 419 ZGB daher nicht.

bb) Die Beschwerdegegnerin musste das Akteneinsichtsgesuch daher nicht als «Beschwerde» gegen das Verhalten der Beiständin entgegennehmen und mit einem rechtsmittelfähigen Entscheid reagieren. Sie wies ihrerseits auf die Möglichkeit einer Aufsichtsbeschwerde und damit allenfalls verbundene Kosten hin. In der Vernehmlassung präzisierte die Beschwerdegegnerin, mit dem Hinweis auf eine Aufsichtsbeschwerde sei der Rechtsbehelf nach Art. 419 ZGB gemeint gewesen. Somit stellte die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin einen Entscheid gestützt auf Art. 419 ZGB in Aussicht. Darin liegt keine formelle Rechtsverweigerung, gab die Beschwerdegegnerin doch zu erkennen, dass sie auf eine – den formellen Anforderungen genügende – Eingabe eintreten würde.

Dass die Beschwerdegegnerin in ihrem Schreiben allerdings auf eine «Beschwerde» nach Art. 419 ZGB hinwies, war freilich aus ihrer Formulierung nicht völlig klar zu erkennen. Das Schreiben liesse grundsätzlich auch den Schluss zu, die Beschwerdegegnerin weise auf die Beschwerde an ihre Aufsichtsbehörde nach Art. 441 Abs. 1 ZGB hin. Die Formulierung der Beschwerdegegnerin in ihrem Schreiben erscheint daher eher unglücklich.

cc) Das Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist mit der Ernennung der Beistandsperson grundsätzlich abgeschlossen. Die Beistandsperson führt die Beistandschaft – im Rahmen ihres Auftrags und der gesetzlichen Vorgaben – eigenverantwortlich und nach eigenem Ermessen[42]. Sie ist nicht Teil der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde[43]. Solange die Beistandschaft besteht, hat die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde die Beistandsperson nur noch generell zu beaufsichtigen[44]. Als Mittel der Aufsicht stehen ihr grundsätzlich die Prüfung der Rechnungen und Berichte der Beistandsperson, die Zustimmung zu bestimmten Geschäften sowie die Behandlung von «Beschwerden» nach Art. 419 ZGB zur Verfügung[45]. Soweit die Interessen der verbeiständeten Person durch die Tätigkeit der Beistandsperson gefährdet sind, hat die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde von Amtes wegen einzuschreiten[46]. Hier ist nicht ersichtlich und wurde auch nicht geltend gemacht, dass die Beschwerdegegnerin aufgrund einer Kindswohlgefährdung von Amtes wegen hätte einschreiten müssen. Auch aus diesem Grund liegt daher keine Rechtsverweigerung vor.

dd) Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob die Beschwerdegegnerin die Eingabe der Beschwerdeführerin als «Beschwerde» nach Art. 419 ZGB hätte behandeln sollen, unter Umständen anders zu beurteilen gewesen wäre, hätte es sich um eine Laieneingabe gehandelt. Insbesondere bei Geltung der Untersuchungsmaxime und der damit zusammenhängenden Fragepflicht können an Eingaben von Laien grundsätzlich nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden, wie an die einer anwaltlich vertretenen Partei. Auf die Behauptungen und Anträge eines rechtskundigen Parteivertreters darf grundsätzlich auch im Rahmen der Untersuchungsmaxime abgestellt werden[47]. Von einem Rechtsvertreter kann und darf erwartet werden, dass dieser sein Begehren präzise stellt. Selbst im Rahmen der Untersuchungsmaxime ist es zudem nicht die Aufgabe des Gerichts, beziehungsweise hier der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, die Parteien in prozessrechtlichen Fragen zu beraten und sie auf unzulässige Rechtsbegehren oder andere Rechtsbehelfe hinzuweisen[48].

ee) Die Beschwerdegegnerin musste zusammengefasst das Akteneinsichtsgesuch der Beschwerdeführerin nicht als «Beschwerde» nach Art. 419 ZGB entgegennehmen.

d) In der Beschwerdeschrift weist die Beschwerdeführerin damit erstmals darauf hin, dass ihr Akteneinsichtsgesuch auch als «Beschwerde» nach Art. 419 ZGB zu verstehen sei. Für diese «Beschwerde» ist allerdings erstinstanzlich die Beschwerdegegnerin zuständig, weshalb das erstmalige Stellen einer entsprechenden «Aufsichtsbeschwerde» gegenüber dem Obergericht nicht zu einer Gutheissung der vorliegenden Beschwerde führen kann. Sollte die Beschwerdeführerin an der Aufsichtsbeschwerde festhalten wollen, muss sie ein entsprechendes Gesuch unter Einhaltung der formellen Anforderungen direkt bei der hierfür zuständigen Beschwerdegegnerin stellen oder allenfalls Rechtsschutz nach dem anwendbaren Datenschutzgesetz suchen.

e) Aus der Tatsache, dass die Beschwerdegegnerin keinen beschwerdefähigen Entscheid erliess, kann die Beschwerdeführerin damit keine formelle Rechtsverweigerung ableiten. Die Beschwerdegegnerin geht materiell zutreffend davon aus, sie sei nicht zuständig. Insofern war es folgerichtig, keinen Entscheid zu treffen. Sie wies zudem auf den ihrer Meinung nach gegebenen Rechtsbehelf hin. Sie brachte damit zum Ausdruck, dass sie ein entsprechendes Begehren durchaus behandeln würde und erklärte sich nicht einfach für unzuständig[49]. Eine Rechtsverweigerung liegt daher gerade nicht vor.

6. Die Beschwerde ist abzuweisen.

Obergericht, 1. Abteilung, 25. Juni 2020, KES.2020.36


[1] Art. 29 Abs. 1 und 2 BV

[2] BGE 142 II 157; BGE 134 I 232

[3] BGE 132 II 495; BGE 125 II 474 f.; BGE 115 V 303; Maranta/Auer/Marti, Basler Kommentar, 6.A., Art. 449b ZGB N. 8; Murphy/Steck, in: Fachhandbuch Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (Hrsg.: Fountoulakis/Affolter-Fringeli/Biderbost/Steck), Zürich/Basel/Genf 2016, N. 18.184; Rosch, in: Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Kurzkommentar (Hrsg.: Büchler/Jakob), 2.A., Art. 449b N. 1

[4] Steck, in: FamKommentar Erwachsenenschutzrecht (Hrsg.: Büchler/Häfeli/Leuba/Stettler), Bern 2013, Art. 449b ZGB N. 6

[5] Maranta/Auer/Marti, Art. 449b ZGB N. 4

[6] Steinmann, in: Die schweizerische Bundesverfassung (Hrsg.: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallen­der), 3.A., Art. 29 N. 42

[7] BGE 120 Ib 383; BGE 115 Ia 11; RBOG 2014 Nr. 20; Waldmann, Basler Kommentar, Basel 2015, Art. 29 BV N. 53

[8] Bundesgesetz über den Datenschutz, SR 235.1

[9] Art. 2 Abs. 1 lit. a und b DSG

[10] Gesetz über den Datenschutz, RB 170.7

[11] § 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 TG DSG

[12] § 2 Abs. 2 Ziff. 1 TG DSG

[13] § 2 Abs. 2 Ziff. 2 TG DSG

[14] BGE 125 II 476

[15] Art. 3 lit. i DSG

[17] Rudin, Art. 3 DSG N. 49

[18] Blechta, Art. 3 DSG N. 87

[19] § 29 TG DSG

[20] § 17 Abs. 1 EG ZGB (Einführungsgesetz zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, RB 210.1)

[21] § 17a Abs. 1 und 4 EG ZGB

[22] § 78 Abs. 1 KESV (Kindes- und Erwachsenenschutzverordnung, RB 211.24)

[23] § 17a Abs. 2 EG ZGB

[24] § 16 Abs. 1 KESV

[25] Beispielsweise zu den Berufsbeistandschaften Thurgau Nordwest, Frauenfeld Land oder Oberthurgau

[26] § 82 ff. KESV

[27] § 82 Abs. 1 KESV

[28] § 82 Abs. 2 KESV

[29] § 82 Abs. 3 i.V.m. § 68 Abs. 2 KESV

[30] § 82 Abs. 1 KESV; Entscheid des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 27. August 2014, RRB Nr. 884/2014, Erw. 4a und 4b

[31] § 2 Abs. 2 TG DSG

[32] Art. 419 ZGB

[33] Rosch, Basler Kommentar, 6.A., Art. 419 ZGB N. 1b f.

[34] Rosch, Art. 419 ZGB N. 14

[35] § 11c EG ZGB i.V.m. Art. 450 Abs. 1 ZGB; Rosch, Art. 419 ZGB N. 17

[36] Murphy/Steck, N. 18.48

[37] Art. 450f ZGB

[38] § 11c Abs. 2 EG ZGB

[39] § 30 KESV

[40] § 30 KESV i.V.m. Art. 252 Abs. 2 und Art. 130 Abs. 1 ZPO

[41] Mazan, Basler Kommentar, 3.A., Art. 252 ZPO N. 9

[42] Art. 413 Abs. 1 ZGB

[43] Fassbind, Erwachsenenschutz, Zürich 2012, S. 252

[44] Langenegger, in: Erwachsenenschutzrecht, Kommentar (Hrsg.: Rosch/Büchler/Jakob), 2.A., Vor Art. 415–418 ZGB N. 1

[45] Langenegger, Vor Art. 415–418 ZGB N. 2

[46] Hausheer/Geiser/Aebi-Müller, Das neue Erwachsenenschutzrecht, 2.A., N. 2.154

[47] Gehri, Basler Kommentar, 3.A., Art. 55 ZPO N. 18; Hurni, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 56 ZPO N. 29; Sutter-Somm/Grieder, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 56 N. 40

[48] Glasl, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 56 N. 19 und 24

[49] BGE 116 Ia 64

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