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RBOG 2020 Nr. 11

Anrechnung von Kapitalauszahlungen aus beruflicher Vorsorge bei der Berechnung der Mittellosigkeit nach Art. 117 lit. a ZPO (Änderung der Praxis gemäss RBOG 2015 Nr. 11); Notgroschen


Art. 117 lit. a ZPO


1. Der Beschwerdeführer beantragte die unentgeltliche Rechtspflege. Dabei führte er aus, ihm sei bewusst, dass er bei einer Bank über zwei Termingeldanlagen sowie ein Konto mit Barvermögen verfüge. Weder aus seinem Einkommen noch aus seinem Vermögen verfüge er aber über «genügend entbehrliche finanzielle Mittel». Mit Blick auf seine Einkünfte lebe er unter dem Existenzminimum; das Manko gleiche er mit dem ausbezahlten Pensionskassenguthaben aus. Sollte er diese Kapitalauszahlung für die Bezahlung der Gerichts- und Anwaltskosten verwenden müssen, sähe er sich gezwungen, sich bei «der Sozialhilfe» anzumelden.

2. a) aa) Eine Person hat nach Art. 117 ZPO Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügt (lit. a) und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint (lit. b).

bb) Als bedürftig gilt, wer für die Kosten eines Prozesses nicht aufkommen kann, ohne die Mittel anzugreifen, derer er zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts für sich und seine Familie bedarf; in Betracht zu ziehen sind dabei nicht nur die Einkommens-, sondern auch die Vermögensverhältnisse. Soweit das Vermögen einen angemessenen «Notgroschen» übersteigt, ist dem Gesuchsteller unbesehen der Art der Vermögensanlage zumutbar, dieses zur Finanzierung des Prozesses zu verwenden, bevor dafür öffentliche Mittel bereitzustellen sind. Die Art der Vermögensanlage beeinflusst allenfalls die Verfügbarkeit der Mittel, nicht aber die Zumutbarkeit, sie vor der Beanspruchung des Rechts auf unentgeltliche Rechtspflege anzugreifen[1].

b) aa) Das Obergericht erwog in RBOG 2015 Nr. 11, gestützt auf die überwiegende Auffassung der juristischen Lehre sei eine Kapitalauszahlung der zweiten Säule nach Eintritt des Vorsorgefalls entsprechend der statistischen Lebenserwartung in eine proratisierte Rente umzurechnen und als Einkommen zu qualifizieren.

bb) Das Bundesgericht setzte sich in BGE 144 III 531 ff. mit der bisherigen kantonalen Rechtsprechung (unter anderem auch mit RBOG 2015 Nr. 11) sowie der juristischen Lehre eingehend auseinander und kam zum Schluss, für die Berechnung der Mittellosigkeit im Sinn von Art. 117 lit. a ZPO sei grundsätzlich unerheblich, aus welcher Quelle ein Vermögenswert stamme und was mit dem Vermögenswert bezweckt werden solle. Dies gelte auch für die nach Eintritt des Versicherungsfalls ausbezahlte Kapitalabfindung aus beruflicher Vorsorge, und zwar unabhängig davon, aus welchen Gründen der Versicherte sich für die Auszahlung des Kapitals entschieden habe und wofür er das ihm ausbezahlte Pensionskassenkapital verwenden möchte. Soweit das Vermögen des Gesuchstellers den angemessenen «Notgroschen» übersteige, sei es ihm zumutbar, dieses zur Finanzierung des Prozesses zu verwenden, bevor dafür die Allgemeinheit durch öffentliche Mittel belastet werde. Es gehe nicht an, öffentliche Gelder zu beanspruchen, obwohl eigentlich Vermögen vorhanden wäre, auf das zurückzugreifen der Anspruchsberechtigte aber freiwillig verzichte. Der Gesuchsteller habe vielmehr die Prozesskosten selbst zu tragen, soweit es seine wirtschaftliche Situation zulasse[2].

cc) Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts kann folglich nicht weiter an RBOG 2015 Nr. 11 festgehalten werden. Vielmehr ist bei der Beurteilung der Bedürftigkeit eine nach Eintritt des Vorsorgefalls erfolgte Kapitalauszahlung als Vermögen anzurechnen, sofern sie den «Notgroschen» übersteigt.

dd) Der Betrag dieses «Notgroschens» bemisst sich nach Alter, Gesundheitszustand, Einkommen und Unterhaltspflichten des Gesuchstellers; als Faustregel ist von den Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe auszugehen, welche Fr. 4'000.00 für Einzelpersonen, Fr. 8'000.00 für Ehepaare und Fr. 2'000.00 für jedes minderjährige Kind vorsehen, aber höchstens Fr. 10'000.00 pro Familie. Diese Beträge sind als Minimum eines prozessrechtlichen «Notgroschens» zu betrachten[3].

3. Gemäss den Angaben des Beschwerdeführers verfügt er über ein Barvermögen von insgesamt Fr. 86'000.00. Selbst unter Berücksichtigung eines grosszügigen «Notgroschens» ist der Beschwerdeführer somit in der Lage, die Kosten des Rechtsöffnungsverfahrens aus seinem Vermögen zu bezahlen. Das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung unentgeltlicher Rechtspflege ist daher abzuweisen.

Obergericht, 2. Abteilung, 10. / 22. Dezember 2020, BR.2020.53


[1] BGE 144 III 537; RBOG 2015 Nr. 11 Erw. 2.a

[2] BGE 144 III 539 f.

[3] RBOG 2015 Nr. 10 Erw. 1

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