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RBOG 2020 Nr. 12

Nachträglicher Entzug der unentgeltlichen Rechtspflege


Art. 120 ZPO, Art. 256 Abs. 2 ZPO


1. a) X gelangte mit Klage an das Bezirksgericht und stellte den Antrag, es sei ein Entscheid bezüglich des Kindesunterhalts abzuändern. Überdies beantragte er die unentgeltliche Rechtspflege.

b) Nachdem sich auch die Gegenpartei anwaltlich vertreten lassen und um unentgeltliche Rechtspflege ersucht hatte, gewährte das Bezirksgerichtspräsidium beiden Parteien «vorläufig» die unentgeltliche Rechtspflege. In der Folge entzog es X die unentgeltliche Rechtspflege mit Wirkung ex nunc. Dagegen erhob X Beschwerde beim Obergericht.

2. a) Das Verfahren um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege zählt zur freiwilligen oder nicht streitigen Gerichtsbarkeit[1]. Als solches wird es im Summarverfahren behandelt[2]. Summarentscheide sind ordentlichen Entscheiden hinsichtlich der Rechtskraft im Grundsatz gleichgestellt, das heisst, sie werden mit Ablauf der Rechtsmittelfrist formell rechtskräftig[3]. Ab diesem Zeitpunkt binden sie das Gericht und die Parteien. Art. 256 Abs. 2 ZPO sieht jedoch vor, dass das Gericht in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf eine Anordnung zurückkommen kann, wenn sich diese als unrichtig erweist. Für Entscheide über die unentgeltliche Rechtspflege wiederholt das Gesetz diese Regel in Art. 120 ZPO. Demgemäss entzieht das Gericht die unentgeltliche Rechtspflege wieder, wenn der Anspruch darauf nicht mehr besteht oder nie bestanden hatte.

b) Das Institut der unentgeltlichen Rechtspflege soll der nicht vermögenden Partei erlauben, ebenso wie die vermögende Partei zu prozessieren, wenn ihr Standpunkt nicht aussichtslos ist. Als aussichtslos gelten Begehren, deren Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet[4]. Es geht um eine prozessual verstandene Gleichheit[5]. Diese Zielsetzung spiegelt sich im Kriterium der Nicht-Aussichts­losigkeit: Jede Partei, die sich bei vernünftiger Einschätzung der Gewinn- und Verlustchancen für den Gerichtsgang entscheiden würde, soll Rechtsschutz erhalten. Nach ständiger Rechtsprechung und einhelliger Lehre ist die Anspruchsvoraussetzung der Aussichtslosigkeit im Zeitpunkt der Gesuchstellung zu prüfen[6]. Der Gesuchsteller hat in diesem Sinn ein Recht auf Vorausbeurteilung[7].

c) aa) Hier stellt sich jedoch die Frage, ob das Gericht, das im Zeitpunkt der Gesucheinreichung den Standpunkt des Gesuchstellers als nicht aussichtslos einstufte, zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund neuer Erkenntnisse in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht darauf zurückkommen darf. In der Literatur wird die Frage nicht einheitlich beantwortet. Einige Kommentatorinnen und Kommentatoren sind der Ansicht, es müsse möglich sein, die unentgeltliche Rechtspflege zu entziehen, wenn sich die Aussichtslosigkeit erst während des Verfahrens zeige[8]. In einem unpublizierten Entscheid hielt die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts fest, ein Entzug sei grundsätzlich möglich, wenn sich die Prozessaussichten rapide verschlechtern würden[9].

bb) Unter der alten Zürcher Zivilprozessordnung ging das Obergericht des Kantons Zürich davon aus, die unentgeltliche Rechtspflege könne für die Zukunft entzogen werden, wenn sich im Laufe des Verfahrens die Aussichtslosigkeit herausstellte[10]. Dieselbe Praxis bestand im Kanton St. Gallen[11]. Die Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Thurgau stellte sich auf den Standpunkt, die Erfolgsaussichten einer Klage oder eines Rechtsmittels dürften im Prinzip nur am Anfang des Verfahrens beurteilt werden, weil sie sich häufig im Verlauf des Beweisverfahrens klären würden. Diese Praxis stützte sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 4 aBV[12]. Falls das Gericht hingegen bei näherer Prüfung der Akten zum Ergebnis gelangte, die Streitsache sei aussichtslos, bejahte das Obergericht die Möglichkeit, die unentgeltliche Rechtspflege zu entziehen[13].

cc) Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts kam in BGE 131 I 113 zum Ergebnis, dass sich die Prozessaussichten im Verlauf des Verfahrens verschlechtern, dürfte nicht zum Entzug der unentgeltlichen Rechtspflege führen. Wegen der sowohl zeitlich als auch sachlich stark beschränkten Beurteilung der Erfolgsaussichten und des insoweit unpräjudiziellen Charakters des Entscheids über die unentgeltliche Rechtspflege erscheine der Verfahrensausgang nach wie vor als offen. Dabei erwog das Bundesgericht Folgendes: «Ebenso wenig wie bei der Anordnung vorsorglicher Massnahmen ist der Richter an seine Hauptsachenprognose gebunden. Dies zeigt sich im Fall der Gutheissung eines Gesuchs umgekehrt darin, dass die unentgeltliche Rechtspflege nicht entzogen werden darf, wenn sich die Prozessaussichten der gesuchstellenden Partei nach Abschluss des Beweisverfahrens verschlechtern»[14]. Eine Mehrzahl von Autoren schliesst sich dieser Rechtsprechung an und betont, die Aussichtslosigkeit dürfe im Grundsatz im Verlauf des Verfahrens nicht nochmals beurteilt werden[15].

d) aa) Das Gericht, das sich mit der (Nicht-)Aussichtslosigkeit eines Standpunktes befasst, nimmt eine Doppelrolle ein: Einmal muss es – grundsätzlich im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung – die Erfolgsaussichten summarisch prüfen, später beurteilt es mit der vom Prozessrecht vorgesehenen (vollen) Kognition die Streitsache. Die Rechtsprechung der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts entschärft die Problematik der richterlichen Vorbefassung, indem der Beurteilungszeitpunkt für die Aussichtslosigkeit strikt auf den Beginn des Verfahrens verlegt wird. Wenn das Gericht das Gesuch wegen Aussichtslosigkeit abweist, kann eine Partei bei veränderter Sachlage ein neues Gesuch stellen (und ihr steht ein Rechtsmittel offen). Heisst es das Gesuch gut, wird das Gericht von der stetigen Überprüfung der Erfolgsaussichten entlastet. Diese bewusst selektive Wahrnehmung mag unbefriedigend sein, weil sich ein gutheissender Entscheid später als allenfalls unrichtig erweist; sie stärkt indessen die richterliche Unabhängigkeit, da sie den nur punktuellen und eben summarischen Charakter des Entscheids über die Aussichtslosigkeit unterstreicht. Diese Rechtsprechung bannt die Gefahr einer «Vorausverlagerung» der Hauptsache in ein Summarverfahren, das eigentlich die unentgeltliche Rechtspflege zum Gegenstand hat. Sie schliesst im Übrigen an die Praxis an, wonach ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Zeitpunkt der Gesuchstellung zu prüfen ist. Es erscheint denn auch als widersprüchlich, wenn das Gericht auf der einen Seite auf den Zeitpunkt der Gesuchstellung abstellt, auf der anderen Seite Veränderungen aber mitberücksichtigt[16]. Zudem ist zu beachten, dass ein an sich rechtskräftiger Summarentscheid über die unentgeltliche Rechtspflege vorliegt. Die Bindungswirkungen eines Summarentscheids sind zwar nicht so intensiv wie jene eines Urteils, trotzdem liegt ein rechtskraftfähiger Entscheid vor, der beim Adressaten durchaus schützenswertes Vertrauen begründen kann. Diese (beschränkte) Rechtskraft spricht ebenfalls dafür, dass ein Gericht nicht leichthin auf die bereits beurteilte Aussichtslosigkeit zurückkommen kann. Es ist somit im Grundsatz unzulässig, im Verlauf des Verfahrens auf die einmal bewilligte unentgeltliche Rechtspflege zurückzukommen mit dem Argument, der Standpunkt des Gesuchstellers erweise sich aufgrund neuer Erkenntnisse als aussichtslos.

bb) Dieser Grundsatz ist jedoch zu relativieren. In der Literatur wird unterschieden zwischen tatsächlicher, rechtlicher und prozessualer Aussichtslosigkeit[17]. Der vorgenannte Grundsatz hat seine volle Berechtigung dort, wo es um die Frage einer tatsächlichen Aussichtslosigkeit geht. Nur in solchen Konstellationen leiden die richterliche Unabhängigkeit und der Anspruch auf Vorausbeurteilung des Gesuchstellers unter einer erneuten Prüfung. Die Situation ist anders, wenn der Standpunkt des Gesuchstellers aus rechtlichen und/oder prozessualen Umständen nachträglich aussichtslos wird. Zu denken ist etwa an die zu Recht erhobene Einrede der Litispendenz oder den Wegfall einer Entscheidvoraussetzung. Verändern sich die rechtlichen und/oder prozessualen Parameter der Streitsache, kann das Gericht in der Regel derart zuverlässig über die Aussichtslosigkeit entscheiden, dass sich die Vorausbeurteilung mit dem Endentscheid in der Sache deckt. Konstellationen der Vorbefassung sind kaum vorstellbar. Es muss sich aber jeweils um Gesichtspunkte handeln, die im Zeitpunkt des Entscheids über die unentgeltliche Rechtspflege nicht vorlagen. Ohne solche Veränderungen bleibt es bei der Rechtskraft dieses Entscheids. Mit anderen Worten muss das Gericht einen Rückkommenstitel in Form veränderter rechtlicher und/oder prozessualer Umstände anführen können. Eine weitere Ausnahme ist für den Fall vorzubehalten, dass die gesuchstellende Partei wesentliche Sachverhaltselemente bewusst verschwiegen hat. Da im Verfahren betreffend unentgeltliche Rechtspflege eine Mitwirkungspflicht[18] gilt, muss es dem Gericht möglich sein, bewusst verschwiegene, aber für die Anspruchsprüfung relevante Umstände zu einem späteren Zeitpunkt zu berücksichtigen und die unentgeltliche Rechtspflege wieder zu entziehen.

3. Hier verfügte die Vorinstanz beim Entzug nicht über andere massgebliche Beurteilungskriterien als im Zeitpunkt der Bewilligung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege. Zudem kann dem Beschwerdeführer keine Verletzung seiner Mitwirkungspflicht vorgeworfen werden, und es liegt auch kein Fall vor, in dem sein Standpunkt aus rechtlichen und/oder prozessualen Umständen aussichtslos geworden wäre. Es war daher unzulässig, die Sachlage beziehungsweise die Aussichtslosigkeit erneut zu beurteilen. Daran ändert nichts, dass die Vorinstanz die unentgeltliche Rechtspflege ausdrücklich nur «vorläufig» gewährte. Die Voraussetzungen, unter denen die unentgeltliche Rechtspflege nachträglich entzogen werden können, sind in Art. 120 ZPO geregelt und ergeben sich im Weiteren aus der dazu ergangenen Rechtsprechung. Das Gericht kann nicht sozusagen «aus eigener Kraft» eine erleichterte Prüfung vorbehalten.

Obergericht, 1. Abteilung, 7. Juli 2020, ZR.2020.13


[1] Bühler, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 119 ZPO N. 6

[2] Art. 119 Abs. 3 ZPO

[3] BGE 141 I 243 f.

[4] BGE 142 III 139 f., 139 III 476, 105 Ia 113 f.

[5] BGE 131 I 355

[6] BGE 139 III 476 f., 138 III 218; statt vieler: Bühler, Art. 117 ZPO N. 253 ff.; Rüegg/Rüegg, Basler Kommentar, 3.A., Art. 117 ZPO N. 4; Meichssner, Das Grundrecht auf unentgeltliche Rechtspflege (Art. 29 Abs. 3 BV), Diss. Basel 2008, S. 108 f; Wuffli, Die unentgeltliche Rechtspflege in der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Diss. Bern 2015, N. 368 ff.

[7] Bühler, Art. 117 ZPO N. 253

[8] Huber, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 120 N. 9; ähnlich Jent-Sørensen, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 2.A., Art. 120 N. 5

[9] BGE vom 19. August 2013, 5A_305/2013, Erw. 3.3

[10] ZR 2010 Nr. 72 S. 309

[11] Leuenberger/Uffer-Tobler, Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen, Bern 1999, Art. 287 N. 1a

[12] BGE 122 I 6 f.

[13] Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 84 N. 1

[14] BGE 131 I 123

[15] Bühler, Art. 120 ZPO N. 14; Meichssner, S. 172 f.; Wuffli, N. 372; Huber, Art. 120 ZPO N. 4 (anders aber dann wieder N. 9); Jent-Sørensen, Art. 120 ZPO N. 5, bezeichnet dies als «herrschende Lehre»

[16] Meichssner, S. 173 f.

[17] Bühler, Art. 117 ZPO N. 234, 239 und 246

[18] BGE vom 1. September 2017, 4A_270/2017, Erw. 4.2; Bühler, Art. 119 ZPO N. 90 ff.; Rüegg/Rüegg, Art. 119 ZPO N. 3

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