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RBOG 2020 Nr. 20

Zulässigkeit der Zusprechung einer Ersatzforderung; Vorrang der zwangsvollstreckungsrechtlichen Sicherungsmassnahmen


Art. 70 Abs. 1 StGB, Art. 71 Abs. 3 StGB


1. a) Das Bezirksgericht sprach den Berufungskläger von den Vorwürfen der qualifizierten Veruntreuung und der Geldwäscherei frei, sprach ihn aber der qualifizierten Veruntreuung im Sinn von Art. 138 Ziff. 1 und 2 StGB schuldig. Das Bezirksgericht verzichtete auf die Zusprechung einer Ersatzforderung zugunsten des Staates. Es hiess die Zivilforderungsklage der Privatklägerin gut und verpflichtete den Berufungskläger, ihr Fr. 237'013.50 zuzüglich Zins zu bezahlen. Es entschied weiter, das mit Beschlagnahmebefehl eingezogene Bargeld in Höhe von Fr. 220'000.00 werde dem Berufungskläger nach Rechtskraft des Urteils sowie nach Verrechnung der Verfahrenskosten zurückerstattet, und beauftragte die Staatsanwaltschaft mit der Rückerstattung.

b) aa) Die Staatsanwaltschaft beantragte in ihrer Anschlussberufung, der Berufungskläger sei zu verpflichten, dem Kanton Thurgau im Sinn einer Ersatzforderung den Betrag von Fr. 226'815.55 gemäss Art. 71 StGB zu bezahlen, respektive er sei zu verpflichten, falls dies entsprechend verlangt werde, der Privatklägerschaft diesen Betrag zu zahlen, wobei diese im Gegenzug ihre Forderung an den Staat Thurgau abzutreten habe. Da eine Bevorzugung des Staates und eines etwaigen Gläubigers gemäss Art. 71 Abs. 1 StGB zu verhindern sei, seien die Vermögenswerte nicht an den Staat respektive die Geschädigten herauszugeben; sie seien in Beschlag zu halten. Die Beschlagnahme der Vermögenswerte (nach Begleichung der Kosten) sei so lange aufrechtzuerhalten, bis das Betreibungsamt des Wohnortes des Berufungsklägers die Aufhebung der Beschlagnahme zur Zuführung der Werte in das ordentliche Schuldbetreibungsverfahren verlange.

bb) Der Berufungskläger beantragte anlässlich der Hauptverhandlung, die beschlagnahmten Fr. 220'000.00 seien nach Rechtskraft der Privatklägerin auf ein von ihr zu bezeichnendes Konto zu überweisen, eventualiter sei der Betrag ihm (dem Berufungskläger) zur Weiterleitung an die Privatklägerin herauszugeben. Dieser Betrag stehe der Privatklägerin wirtschaftlich zu.

cc) Die Vorinstanz erwog, es gebe keine Hinweise darauf, dass die beschlagnahmten Fr. 220'000.00 durch eine Straftat erlangt worden seien. Eine Einziehung oder Aufrechterhaltung der Beschlagnahmung des Geldes falle daher ausser Betracht, weshalb das Geld dem Berufungskläger nach Rechtskraft des Entscheids sowie nach Verrechnung der Verfahrenskosten zurückzuerstatten sei.

dd) Die Privatklägerschaft beantragte vor der Vorinstanz, das beschlagnahmte Bargeld sei gestützt auf Art. 73 StGB einzuziehen und ihr herauszugeben. Sie brachte vor, es würden keine weiteren Personen Anspruch auf das Geld erheben. Zwar sei die Herkunft des Geldes nicht restlos geklärt; es würden aber auch keine Beweise für eine illegale Herkunft vorliegen. Es bestehe keine Versicherungsdeckung. Aufgrund der finanziellen Verhältnisse des Berufungsklägers sei anzunehmen, dass dieser den Schaden nicht ersetzen könne. Die Privatklägerschaft trete gemäss Art. 73 Abs. 2 StGB den entsprechenden Teil ihrer Ersatzforderung an den Staat ab.

2. a) Das Gericht verfügt die Einziehung von Vermögenswerten, die durch eine Straftat erlangt worden sind oder dazu bestimmt waren, eine Straftat zu veranlassen oder zu belohnen, sofern sie nicht dem Verletzten zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands ausgehändigt werden[1]. Sind die der Einziehung unterliegenden Vermögenswerte nicht mehr vorhanden, so erkennt das Gericht auf eine Ersatzforderung des Staates in gleicher Höhe, gegenüber einem Dritten jedoch nur, soweit dies nicht nach Art. 70 Abs. 2 StGB ausgeschlossen ist[2]. Mit der Ersatzabschöpfung soll verhindert werden, dass derjenige, der sich der Vermögenswerte entledigt hat, bessergestellt wird als jener, der sie behält. Die Ersatzforderung hat subsidiären Charakter und kann nur angeordnet werden, wenn die direkte Einziehung gemäss Art. 70 Abs. 1 StGB nicht mehr möglich ist. Im Übrigen müssen die gleichen Voraussetzungen gegeben sein wie bei der Einziehung; umfangmässig darf die Ersatzforderung den unrechtmässig erlangten Vermögensvorteil nicht übersteigen[3].

b) Nach Art. 263 Abs. 1 StPO können Gegenstände und Vermögenswerte einer beschuldigten Person oder einer Drittperson beschlagnahmt werden, wenn die Gegenstände und Vermögenswerte voraussichtlich als Beweismittel gebraucht werden (lit. a), zur Sicherstellung von Verfahrenskosten, Geldstrafen, Bussen und Entschädigungen gebraucht werden (lit. b), den Geschädigten zurückzugeben (lit. c) oder einzuziehen sind (lit. d). Ist der Grund für die Beschlagnahme weggefallen, hebt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die Beschlagnahme auf und händigt die Gegenstände oder Vermögenswerte der berechtigten Person aus[4]. Ist die Beschlagnahme eines Gegenstands oder Vermögenswerts nicht vorher aufgehoben worden, so ist über seine Rückgabe an die berechtigte Person, seine Verwendung zur Kostendeckung oder seine Einziehung im Endentscheid zu befinden[5].

Weil die Beschlagnahme nur als vorübergehender staatlicher Zugriff für die Dauer des Strafprozesses konzipiert ist, muss über das Schicksal der beschlagnahmten Gegenstände oder Vermögenswerte im Endentscheid befunden werden. Dabei bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder wird der Gegenstand oder Vermögenswert der berechtigten Person zurückgegeben, oder er wird eingezogen, worunter auch die Aushändigung an den Verletzten «zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands» zu fassen ist[6]. Das Schicksal von Gegenständen, die zu Einziehungs- oder Aushändigungszwecken beschlagnahmt worden sind, hängt primär vom Inhalt des Endentscheids, nach Vorgaben des materiellen Rechts, ab. Dabei ist zwischen verurteilendem und nicht-verurteilendem Verfahrensausgang zu unterscheiden[7]. Wenn bei einem verurteilenden Verfahrensausgang die beschlagnahmten Vermögenswerte als deliktsverstrickt im Sinn von Art. 70 ff. StGB bewertet werden, folgt daraus entweder die Vermögenseinziehung oder die Aushändigung an den Verletzten zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands[8]. Die Frage nach der Rückgabe an die berechtigte Person ist durch das Privatrecht zu beantworten[9].

c) Nur die effektive Zahlung einer Zivilforderung schliesst eine Ersatzforderung aus. Solange die Zivilforderung nicht bedient ist, nimmt das Bundesgericht an, dass der Täter noch «bereichert» sei, weshalb eine Ersatzforderung zulässig ist[10]. Der Gefahr einer Doppelzahlung wird mit dem Recht des Täters begegnet, bei effektiver Zahlung die Rückübertragung von eingezogenen Vermögenswerten zu verlangen[11]. Eine Ersatzforderung setzt neben einer strafbaren Handlung und dem Fehlen eines einziehbaren Vermögenswertes kumulativ voraus, dass die Ersatzforderung nicht von vornherein uneinbringlich ist[12]. Nach der Rechtsprechung ist ein Verzicht auf die Ersatzforderung beziehungsweise eine Reduktion der Ersatzforderung gerechtfertigt, wenn der Betroffene vermögenslos oder gar überschuldet ist und sein Einkommen und seine übrige persönliche Situation nicht erwarten lassen, dass Zwangsvollstreckungsmassnahmen gegen ihn in absehbarer Zeit erfolgsversprechend sein dürften[13]. Eine direkte Verwendung von beschlagnahmten Vermögenswerten zur Deckung der Ersatzforderung ist nur zulässig, wenn der Ersatzforderungsschuldner offensichtlich nicht überschuldet ist und die Rechtsverhältnisse liquid sind. Ist dies nicht der Fall, ist für die Vollstreckung der Ersatzforderung der Weg über die Zwangsvollstreckung zu beschreiten[14]. Bei einer Ersatzforderungsbeschlagnahme ist im Endentscheid lediglich über die Aufrechterhaltung der Beschlagnahme zu entscheiden. Nach Inkrafttreten des Urteils bleibt die Beschlagnahme bis zu ihrem Ersatz durch eine Massnahme des Schuldbetreibungsrechts bestehen[15].

Unabhängig von der finanziellen Situation der beschuldigten Person ist hingegen die Verwendung von beschlagnahmten Vermögenswerten legaler Herkunft zur Deckung der Verfahrenskosten möglich[16].

d) Der Gesetzgeber hat für staatliche Ersatzforderungen den Weg der ordentlichen Zwangsvollstreckung vorgeschrieben und darüber hinaus deutlich gemacht, dass dabei kein Vorzugsrecht des Staates begründet wird (Art. 71 Abs. 3 Satz 2 StGB), es sich mithin um eine Forderung Dritter Klasse nach Art. 219 Abs. 4 SchKG handelt[17]. Gegenüber dem Eigentum von Dritten sind Ersatzforderungsbeschlagnahmen nach der bundesgerichtlichen Praxis in der Regel unzulässig[18].

e) Die beschlagnahmten Vermögenswerte zählen zivilrechtlich noch immer zum Vermögen der zivilrechtlich berechtigten Partei. Der Entscheid darüber, in welcher Reihenfolge Gläubiger mit beschlagnahmten Vermögenswerten befriedigt werden sollen, steht im Grundsatz der berechtigten Person zu[19]. Falls die am beschlagnahmten Vermögenswert berechtigte Person keine Erklärung abgibt, ist im Strafendentscheid die Aufrechterhaltung der Beschlagnahme anzuordnen. Der zwangsweise Zugriff auf die beschlagnahmten Vermögenswerte erfolgt dann im Rahmen des Schuldbetreibungs- oder Konkursrechts[20].

3. a) Die Parteien sind sich einig, dass die eingezogenen Fr. 220'000.00 nicht nachgewiesenermassen Deliktsgut darstellen. Eine Einziehung nach Art. 70 Abs. 1 StGB ist daher mangels deliktischer Verstrickung nicht möglich. Auch eine Herausgabe an Dritte nach Art. 73 StGB ist nicht möglich, da diese Bestimmung ebenfalls einen Deliktskonnex verlangt[21]. Zudem würde dafür ohnehin ein entsprechender Antrag nach Art. 73 StGB fehlen.

b) Die Vorinstanz verzichtete auf die Zusprechung einer Ersatzforderung zugunsten des Staates im Sinn von Art. 71 Abs. 1 StGB mit der Begründung, dass der Berufungskläger zur Bezahlung der von der Privatklägerin geltend gemachten Zivilforderung im Umfang des von ihm veruntreuten Geldes verpflichtet wird.

c) Der Berufungskläger hat der Kantonspolizei anlässlich seiner Befragung Fr. 220'000.00 in bar übergeben. Dieses Geld wurde beschlagnahmt. Unklar ist, ob der Berufungskläger das Geld rechtmässig in seinem Besitz hatte. Beweise für eine illegale Herkunft liegen keine vor. Der Berufungskläger und der Vertreter der Privatklägerschaft haben im Vorfeld des erstinstanzlichen Verfahrens versucht, sich einvernehmlich über diese Summe zu einigen. Einer getroffenen Vereinbarung verweigerte die Verfahrensleitung der Vorinstanz aber die Genehmigung. Fest steht nur, dass der Berufungskläger vor der Beschlagnahme Besitzer war und zufolge der Eigentumsvermutung als Berechtigter an den Fr. 220'000.00 zählt. Der Berufungskläger hat zudem ausdrücklich den Willen geäussert, der Geldbetrag von Fr. 220'000.00 solle der Privatklägerschaft zugesprochen werden.

d) Auf Anfrage des Obergerichts teilte das Betreibungsamt mit, im Beisein des Berufungsklägers sei im September 2017 die Pfändung vollzogen worden. Aus dem Pfändungsvollzug gehe hervor, dass der Berufungskläger Pfändungsvorgänge von zirka Fr. 174'100.00 gehabt habe. Daraus sei nicht ersichtlich, ob das Betreibungsamt damals von diesem Geld gewusst habe. Es werde aber davon ausgegangen, dass dem nicht so sei, da ein solcher Betrag gepfändet worden wäre. Aus Sicht des Betreibungsamts habe der Berufungskläger über einen solchen Geldbetrag nicht frei verfügen können.

e) aa) Der Geldbetrag der beschlagnahmten Fr. 220'000.00 kann zunächst gestützt auf Art. 442 Abs. 4 StPO mit den Verfahrenskosten verrechnet werden[22]. Im Mehrbetrag rechtfertigt es sich sodann, dem Staat eine Ersatzforderung zuzusprechen, da nur die effektive Zahlung einer Zivilforderung eine Ersatzforderung ausschliesst. Da jedoch kein Vorzugsrecht des Staates begründet und ein SchKG-Verfahren nicht umgangen werden darf, rechtfertigt es sich weiter, dass diese Forderung zwei Jahre nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Urteils fällig wird und zudem erlöschen soll, soweit die Staatsanwaltschaft dem zuständigen Betreibungsamt einen entsprechenden Betrag im Fall einer zwangsvollstreckungsrechtlichen Sicherungsmassnahme überwiesen hat.

bb) Eine direkte Verwendung der beschlagnahmten Vermögenswerte zur Deckung der Ersatzforderung ist hier somit nicht zulässig, da die Verhältnisse des Berufungsklägers nicht liquid sind. Es rechtfertigt sich aber, die Beschlagnahme längstens für die Dauer von zwei Jahren nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils aufrechtzuerhalten, um die Durchsetzung der zugesprochenen Ersatzforderung zu sichern. Die Beschlagnahme ist somit aufrechtzuerhalten, bis die Ersatzforderung vollständig getilgt wurde oder im Zwangsvollstreckungsverfahren über Sicherungsmassnahmen entschieden wurde. Im Fall einer zwangsvollstreckungsrechtlichen Sicherungsmassnahme hat aber die Staatsanwaltschaft aufgrund des Vorrangs des SchKG-Verfahrens den entsprechenden Betrag an das zuständige Betreibungsamt zu überweisen.

Obergericht, 1. Abteilung, 30. September 2020, SBR.2020.27

Eine dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesgericht hängig (6B_1474/2020).


[1] Art. 70 Abs. 1 StGB

[2] Art. 71 Abs. 1 StGB

[3] Trechsel/Jean-Richard, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 3.A., Art. 71 N. 1

[4] Art. 267 Abs. 1 StPO

[5] Art. 267 Abs. 3 StPO

[6] Bommer/Goldschmid, Basler Kommentar, 2.A., Art. 267 StPO N. 7

[7] Bommer/Goldschmid, Art. 267 StPO N. 10

[8] Bommer/Goldschmid, Art. 267 StPO N. 12

[9] Bommer/Goldschmid, Art. 267 StPO N. 14

[10] BGE 117 IV 110; dieser Entscheid wird bestätigt in BGE 145 IV 243; Scholl, in: Kommentar Kriminelles Vermögen – Kriminelle Organisationen, Band I (Hrsg.: Ackermann), Zürich/Basel/Genf 2018, § 5 N. 50 f.

[11] BGE 117 IV 111

[12] Scholl, § 5 N. 56

[13] BGE vom 18. Februar 2013, 6B_390/2012, Erw. 6.3

[14] Scholl, § 5 N. 200

[15] BGE vom 12. September 2019, 6B_439/2019, Erw. 2.4.4, mit Hinweis auf BGE 141 IV 365

[16] Art. 442 Abs. 4 StPO; Scholl, § 5 N. 201

[17] BGE vom 4. November 2013, 1B_163/2013, Erw. 4.1.4, mit Hinweis auf BGE vom 14. März 2013, 1B_711/2012, Erw. 4.1.2; BGE vom 14. August 2012, 1B_198/2012, Erw. 3.4; BGE vom 21. März 2012, 1B_350/2011, Erw. 4.3.1

[18] BGE vom 4. November 2013, 1B_163/2013, Erw. 4.1.5

[19] Scholl, § 5 N. 193

[20] Scholl, § 5 N. 193

[21] BGE 145 IV 241 f.

[22] Scholl, § 5 N. 189 f.

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