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RBOG 2020 Nr. 23

Der Grundsatz der Verfahrenseinheit ist auch im Jugendstrafverfahren anwendbar; Ausnahmen.


Art. 3 Abs. 1 JStPO, Art. 29 StPO, Art. 30 StPO


1. 2018 kam es zu einem Grossbrand, worauf die Jugendanwaltschaft gegen die tatverdächtigen A, B, C und D – gemäss eigenen Angaben – je eine separate Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Verursachung einer Feuersbrunst eröffnete. In der Folge stellte die Jugendanwaltschaft die Strafuntersuchung gegen A wegen fahrlässiger Verursachung einer Feuersbrunst ein. Gegen diese Verfügung erhob B bei der Jugendanwaltschaft Einsprache und ersuchte um Neubeurteilung der Einstellungsverfügung, allenfalls um Überweisung aller vier Strafverfahren zur gemeinsamen Beurteilung durch das zuständige Bezirksgericht. Die Jugendanwaltschaft leitete diese Eingabe gestützt auf Art. 322 Abs. 2 StPO als Beschwerde an das Obergericht weiter.

2. a) aa) Die Jugendanwaltschaft begründet ihren Nichteintretensantrag damit, der Beschwerdeführer sei durch die Einstellung der Strafuntersuchung gegen A nicht direkt betroffen, weshalb das notwendige rechtlich geschützte Interesse für eine Beschwerde fehle. Der Umstand, dass der Entscheid eine Auswirkung auf den vom Beschwerdeführer (allenfalls) zu tragenden Schaden haben könne, sei ein typischer Reflexschaden, der keine Rechtsmittellegitimation begründe.

bb) Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, die Frage nach der Beschwerdelegitimation stehe in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage darüber, ob die Verfahren gegen die vier Jugendlichen zu Recht voneinander abgetrennt und einzeln geführt worden seien. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Grundsatzes der Verfahrenseinheit im Sinn von Art. 29 StPO geltend, was ihn unmittelbar in seinen eigenen Rechten verletze. Er habe ein rechtlich geschütztes Interesse daran, dass die Handlungen der vier Beteiligten gemeinsam verfolgt und insbesondere gemeinsam beurteilt würden. Indem die Jugendanwaltschaft die Taten beziehungsweise einzelne Tatbeiträge nicht in einem einzigen Verfahren verfolgt und beurteilt habe, werde er um ein faires Verfahren im Sinn von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gebracht. Um diesen Fehler zu korrigieren, bleibe ihm nichts anderes übrig, als gegen die Einstellungsverfügung von A Beschwerde zu führen, da diese sonst in Rechtskraft erwachsen würde.

b) aa) Die Jugendanwaltschaft macht grundsätzlich zu Recht geltend, dass ein Beschuldigter nicht im Sinn von Art. 382 StPO beschwert ist, wenn er mit einem Entscheid zu einer mitbeschuldigten Person nicht einverstanden ist[1].

bb) In diesem Fall ist ein schutzwürdiges Interesse des Beschwerdeführers allerdings zu bejahen, weil er die Verletzung des Grundsatzes der Verfahrenseinheit[2] durch unzulässige Abtrennung des Verfahrens gegen A rügt. Die Verletzung des Grundsatzes der Verfahrenseinheit kann unter anderem zur Nichtigkeit allfälliger Entscheide in zu Unrecht abgetrennten Verfahren führen[3]. Diese strenge Rechtsfolge liegt insbesondere darin begründet, dass dem Beschuldigten mit einer unzulässigen Abtrennung von Verfahren gegen Mitbeschuldigte grundlegende Verfahrensrechte, insbesondere Teilnahmerechte, vorenthalten werden, womit insgesamt kein faires Verfahren[4] mehr gegeben ist[5].

cc) Weil das Verfahren gegen A nie formell (mittels begründeter Verfügung) abgetrennt wurde, sondern gemäss Jugendanwaltschaft von Anfang an tatsächlich separat geführt und somit erst mit der Einstellungsverfügung in formeller Hinsicht erkennbar abgetrennt wurde, hat der Beschwerdeführer ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung (beziehungsweise Nichtigerklärung) der angefochtenen Einstellungsverfügung und an der Weiterführung eines einheitlichen Strafverfahrens gegen sämtliche an der Straftat beteiligten Personen.

c) Zusammengefasst ist auf die Beschwerde einzutreten. Ob der Grundsatz der Verfahrenseinheit im Jugendstrafprozess überhaupt anwendbar ist (was die Jugendanwaltschaft bestreitet), ob die Voraussetzungen von Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO (Mittäterschaft oder Teilnahme) gegeben sind (was A bestreitet), und ob allenfalls eine Verfahrenstrennung im Sinn von Art. 30 StPO möglich ist, ist nicht eine Frage des Eintretens, sondern der materiellen Beurteilung.

3. a) Die Jugendanwaltschaft verneint die Anwendung des Grundsatzes der Verfahrenseinheit für Mittäter und Teilnehmer im Sinn von Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO für das Jugendstrafverfahren. Sie macht zusammengefasst geltend, im Jugendstrafverfahren stehe die individuelle Behandlung der beschuldigten Person im Vordergrund, weshalb stets auch nach den Gründen zu suchen sei, die zur Straffälligkeit des Jugendlichen geführt hätten. Das setze eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Jugendlichen und insbesondere deren Vorleben und Persönlichkeit voraus. Dies sei nur möglich, wenn die Verfahren getrennt geführt würden. Der Gesetzgeber sei im Jugendstrafverfahren vom Grundsatz der Verfahrenseinheit abgewichen, richte sich doch die örtliche Zuständigkeit nach dem Wohnort (Art. 10 Abs. 1 JStPO), ohne dass gesetzliche Bestimmungen bestünden, die bei unterschiedlichen Wohnorten einen gemeinsamen Gerichtsstand bestimmen würden. Der Gesetzgeber habe somit im Jugendstrafrecht bewusst der Täterorientierung den Vorrang gegeben und deshalb entschieden, dass der Grundsatz der Verfahrenseinheit im Jugendstrafverfahren nicht gelte. Zudem könnten in einem gemeinsamen Verfahren die Persönlichkeitsrechte der einzelnen Jugendlichen nicht genügend gewahrt werden.

b) Zutreffend hält die Jugendanwaltschaft fest, das schweizerische Jugendstrafrecht sei ein täterorientiertes Strafrecht. Deshalb steht die Spezialprävention im Vordergrund. Das delinquente Verhalten wird aus einem anderen Blickwinkel als im Erwachsenenstrafrecht betrachtet: Während bei den Erwachsenen die Tat im Vordergrund steht und gestützt auf das Verschulden des Täters eine angemessene Strafe verhängt wird, steht bei den Jugendlichen der Täter im Vordergrund. Die Straftat eines Jugendlichen wird als Anlass betrachtet, sich mit dessen Person zu befassen und nötige Interventionen zur Förderung seiner Entwicklung anzuordnen[6]. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass bei der überwiegenden Anzahl der straffälligen Täter deren Taten nicht als Ausdruck grosser Probleme oder gar als Beginn einer kriminellen Karriere zu betrachten sind, sondern als entwicklungsadäquate Grenzüberschreitung. Bei diesen Tätern gelangen die Strafen zur Anwendung[7].

c) aa) Gemäss Art. 3 Abs. 1 JStPO sind die Bestimmungen der StPO anwendbar, wenn die JStPO keine besondere Regelung enthält. Art. 3 Abs. 2 JStPO nennt die StPO-Bestimmungen, die nicht anwendbar sind. Kommt die StPO zur Anwendung, so sind deren Bestimmungen im Lichte der Grundsätze von Art. 4 JStPO auszulegen[8].

bb) Nach Art. 4 Abs. 1 JStPO sind der Schutz und die Erziehung der Jugendlichen wegleitend. Alter und Entwicklungsstand sind angemessen zu berücksichtigen. Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Persönlichkeitsrechte der Jugendlichen und ermöglichen ihnen, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen. Vorbehältlich besonderer Verfahrensvorschriften hören sie die Jugendlichen persönlich an[9]. Sie sorgen dafür, dass das Strafverfahren nicht mehr als nötig in das Privatleben der Jugendlichen und in den Einflussbereich ihrer gesetzlichen Vertretung eingreift[10]. Wenn es angezeigt scheint, beziehen sie die gesetzliche Vertretung und die Behörden des Zivilrechts ein[11].

cc) Die JStPO ist somit als «lex specialis» zur StPO ausgestaltet. Sie enthält lediglich diejenigen Regelungen, die von der StPO abweichen. Enthält die JStPO keine besondere Regelung und liegt keine Ausnahme gemäss Art. 3 Abs. 2 JStPO vor, sind die Bestimmungen der StPO sinngemäss anwendbar, das heisst, das Alter und die Entwicklung des Jugendlichen sind bei der Beurteilung angemessen zu berücksichtigen[12]. Das kann zur Folge haben, dass eine Regelung im Ergebnis überhaupt nicht oder höchstens eingeschränkt anzuwenden ist[13].

d) Gestützt auf diese gesetzlichen Vorgaben lässt sich die Auffassung der Jugendanwaltschaft, Art. 29 StPO sei im Jugendstrafprozess gar nicht anwendbar, nicht halten.

aa) Zunächst enthält die JStPO keine Sonderregelung zur Verfahrenseinheit und zur Verfahrenstrennung. Die Anwendbarkeit von Art. 29 StPO wird in Art. 3 Abs. 2 JStPO gerade nicht ausgeschlossen. Wenn der Gesetzgeber für den Jugendstrafprozess generell separate Verfahren gegen jeden einzelnen Jugendlichen auch bei Mittäterschaft oder Teilnahme hätte vorgeben wollen, hätte er die Bestimmungen über die Verfahrenseinheit (Art. 29 StPO Grundsatz, Art. 30 StPO Ausnahmen) als nicht anwendbare Bestimmungen der StPO in Art. 3 Abs. 2 JStPO aufgenommen oder diesen Punkt in der JStPO ausdrücklich geregelt.

bb) Die grundsätzliche Ausrichtung am Täter (und nicht an der Tat) verlangt nicht notwendigerweise stets – gleichsam automatisch – getrennte, separate Verfahren gegen Jugendliche, die als Mittäter oder Teilnehmer einer Tat zusammenwirkten. Den Grundsätzen von Art. 4 JStPO lässt sich auch mit einer dem Jugendstrafrecht und dem Jugendstrafprozessrecht angepassten Auslegung von Art. 29 und 30 StPO Rechnung tragen. Dabei steht die Auslegung von Art. 30 StPO im Vordergrund, wonach die Jugendanwaltschaft Strafverfahren aus sachlichen Gründen trennen (oder vereinen) kann. Beispielsweise kann die Notwendigkeit vertiefter Abklärungen zur Massnahmebedürftigkeit als sachlicher Grund für eine Trennung oder für ein separates Strafverfahren qualifiziert werden. Ein sachlicher Grund für die Trennung von Verfahren[14] ist auch gegeben, wenn jugendliche Mittäter oder Teilnehmer ihren gewöhnlichen Aufenthalt an verschiedenen Orten haben, denn nach Art. 10 Abs. 1 JStPO ist für die Strafverfolgung bei Verbrechen und Vergehen die Behörde am gewöhnlichen Aufenthaltsort des beschuldigten Jugendlichen zuständig, und der in Art. 33 StPO vorgesehene einheitliche Gerichtsstand von Mittätern und Teilnehmern ist im Jugendstrafverfahren nicht anwendbar[15].

cc) Dem Schutz der Persönlichkeit der (mitbeschuldigten) Jugendlichen, dem die Jugendanwaltschaft zu Recht einen grossen Stellenwert einräumt, kann im einheitlich geführten Strafverfahren dadurch Rechnung getragen werden, dass diesbezüglich der Anspruch der Mitbeschuldigten auf rechtliches Gehör, insbesondere das Akteneinsichtsrecht[16] und das Teilnahmerecht, eingeschränkt werden. In dieser Beziehung können zum Schutz der Persönlichkeitsrechte des Jugendlichen unter Berufung auf Art. 4 Abs. 2 JStPO die Verfahrensrechte der mitbeschuldigten Jugendlichen im Vergleich zum Erwachsenenstrafprozess im Rahmen einer sinngemässen Anwendung eingeschränkt werden. Das kann, wenn nötig, durchaus massiv sein, indem zum Beispiel unter Umständen der ganze Dossierteil «Akten zur Person» nicht eröffnet wird.

dd) Eine vollständige Ablehnung der Verfahrenseinheit im Jugendstrafverfahren würde ausserdem dem Jugendstrafrecht und dem Jugendstrafprozess nicht vollumfänglich gerecht, denn auch wenn die Ausrichtung am Täter im Vordergrund steht, gilt es die Tat nicht zu vergessen. Weitaus die meisten jugendlichen Täter sind nicht massnahmebedürftig; in diesen Fällen ist auch bei Jugendlichen, die eine Tat gemeinsam begangen haben, auf eine einheitliche Beurteilung der Tat (nicht der Täterpersönlichkeit) zu achten. Ausserdem gilt es hier nicht nur die Interessen der jugendlichen (Mit-)Täter, sondern auch diejenigen von Geschädigten und Opfern zu berücksichtigen, deren berechtigte Bedürfnisse auch bei jugendlichen Tätern nicht vernachlässigt werden dürfen.

ee) Sodann steht Art. 11 JStPO der Anwendung des Grundsatzes auf Verfahrenseinheit nicht entgegen. Nach Art. 11 Abs. 1 JStPO sind Verfahren gegen Erwachsene und Jugendliche getrennt zu führen; eine separate Führung aller Verfahren gegen jeden einzelnen Jugendlichen sieht die JStPO hingegen nicht vor. Weiter lässt Art. 11 Abs. 2 JStPO ausdrücklich zu, dass selbst Untersuchungen gegen Erwachsene und Jugendliche einheitlich geführt werden, sofern die Untersuchung durch die Trennung erheblich erschwert würde. Die von der Jugendanwaltschaft im Zusammenhang mit Art. 11 JStPO zitierten Autoren[17] halten zudem nicht dafür, die Verfahren seien stets getrennt zu führen, wie die Jugendanwaltschaft geltend macht, sondern nur, dass in der Praxis für jeden jugendlichen Täter ein separates Dossier geführt werde. Dies ist aber ebenso unter dem Grundsatz der Verfahrenseinheit möglich, denn auch im einheitlichen Verfahren gegen verschiedene Jugendliche können je separate Dossiers geführt werden; das einheitliche Verfahren mit einer Verfahrensnummer umfasst diesfalls mehrere Dossiernummern[18].

e) aa) Die Jugendanwaltschaft wird sich somit im Anfangsstadium eines Strafverfahrens gegen Mittäter oder Teilnehmer überlegen müssen, ob sie das Verfahren einheitlich oder getrennt führt. Dabei sind Fälle denkbar, in denen beispielsweise ein Teil der Jugendlichen in einem einheitlichen Verfahren, die Übrigen in separaten Verfahren beurteilt werden; auch das lässt die Auslegung von Art. 29 f. StPO unter Beachtung der Ziele und Zwecke des Jugendstrafrechts zu. In Fällen, in denen ein solcher Entscheid eine gewisse Zeit braucht – bis beispielsweise klar ist, ob beziehungsweise welche Täter massnahmebedürftig sind, und ob sie diesbezüglich vertieft abzuklären sind –, empfiehlt es sich, soweit es um die Abklärung der Tat geht, den Mitbeschuldigten vorläufig ihre Einsichts- und Teilnahmerechte zu gewähren. Damit wird für den Fall vorgesorgt, dass schliesslich nicht alle Verfahren getrennt geführt werden. Die notwendigen Einschränkungen sind entsprechend zu verfügen, insbesondere soweit es um schützenswerte Daten zur Person geht. Dass dies machbar ist, zeigte die Jugendanwaltschaft im Grunde genommen bereits in diesem Verfahren, denn die Tatrekonstruktion und die späteren Einzelbefragungen der Jugendlichen wurden unter Gewährung der Teilnahmerechte an alle Beteiligten durchgeführt, wie der Beschwerdeführer auch ausdrücklich anerkennt.

bb) Dass die Gewährung der Verfahrensrechte, insbesondere der Teilnahmerechte, auch im Jugendstrafprozess grundsätzlich erforderlich ist, kann nicht ernsthaft bestritten werden: Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Jugendlichen besteht die Gefahr, dass sich der eine zulasten des andern zu entlasten versucht. In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass die Aussagen von in anderen Verfahren beschuldigten Personen nur dann zulasten einer beschuldigten Person verwertet werden dürfen, wenn diese wenigstens einmal angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, die sie belastenden Aussagen in Zweifel zu ziehen und Fragen an die Beschuldigten in den getrennten Verfahren zu stellen[19].

4. a) Der Beschwerdegegner macht geltend, den Jugendlichen werde ein Fahrlässigkeitsdelikt (fahrlässige Verursachung einer Feuersbrunst im Sinn von Art. 222 StGB) vorgeworfen. Mittäterschaft und gemeinsame Tatbegehung fänden nur bei Vorsatzdelikten Anwendung. Es bestehe daher weder eine Notwendigkeit noch eine Veranlassung, die getrennt geführten Verfahren zu vereinigen.

b) Gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO werden Straftaten gemeinsam verfolgt und beurteilt, wenn Mittäterschaft oder Teilnahme vorliegt. Im Begriff der «Mittäterschaft» gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO (Verfahrenseinheit) sind auch die mittelbare Täterschaft und die Nebentäterschaft eingeschlossen; unter den Begriff der Teilnahme fallen die Anstiftung gemäss Art. 24 StGB und die Gehilfenschaft gemäss Art. 25 StGB[20].

c) Gestützt auf Art. 222 StGB ist zu verurteilen, wer fahrlässig zum Schaden eines anderen oder unter Herbeiführung einer Gemeingefahr eine Feuersbrunst verursacht. Bei Art. 222 StGB handelt es sich um ein fahrlässiges Erfolgsdelikt, das durch bewusstes oder unbewusstes Handeln begangen werden kann; der Tatbestand kann auch durch Unterlassen erfüllt werden[21]. Verursachen zwei oder mehrere Personen fahrlässig eine Feuersbrunst, so ist jedem Einzelnen die pflichtwidrige Sorgfaltspflichtverletzung nachzuweisen, eine «fahrlässige Mittäterschaft» im Sinn einer Teilnahmehandlung verwarf das Bundesgericht[22]. Bei Art. 222 StGB ist jedoch sowohl die fahrlässige Nebentäterschaft als auch die mittelbare Täterschaft möglich[23].

d) aa) Bei der «echten» fahrlässigen Nebentäterschaft erfolgt keine bewusste Koordination der Tatbeiträge. Die Täter fassen keinen Tatentschluss zum gemeinsamen fahrlässigen Verhalten; ebenso wenig erfolgt eine bewusste Interaktion und Abstimmung der Tatbeiträge[24]. Solche fahrlässige Nebentäter sind grundsätzlich als Alleintäter zu behandeln. Das bedeutet, jeder ist ausschliesslich für die Tatbestände zu verurteilen, die er in subjektiver und objektiver Hinsicht selbst verwirklichte. Tatbestandselemente, die von anderen Nebentätern verwirklicht wurden, können dem Nebentäter (im Gegensatz zur Mittäterschaft) grundsätzlich nicht zugerechnet werden[25].

bb) Dem steht die «unechte» fahrlässige Nebentäterschaft gegenüber. Das Paradebeispiel dafür ist der sogenannte «Rolling Stones»-Fall aus BGE 113 IV 58 ff. X und Y liessen je einen schweren Stein den Abhang zur Töss hinunterrollen. Einer der beiden Steine traf einen Fischer tödlich. Es liess sich jedoch nicht eruieren, ob X oder Y den tödlichen Stein ins Rollen gebracht hatte. Gemäss Bundesgericht genügt die Kausalität zwischen der gemeinsam vorgenommenen Gesamthandlung und dem eingetretenen Erfolg[26]. Die Lehre befürwortet eine solche täterschaftliche Fahrlässigkeits-Gesamthaftung[27].

e) Weil auch in solchen Fällen die Gefahr besteht, dass sich die Beteiligten gegenseitig widersprechen und sich zulasten des anderen besserstellen, sind auch sie unter Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO zu subsumieren[28]. Zwar könnte man bei der echten fahrlässigen Nebentäterschaft die Meinung vertreten, die Strafverfahren seien nicht gestützt auf Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO zu vereinigen, weil es sich grundsätzlich um Alleintäter handelt. Es ist aber zu beachten, dass der Entscheid darüber, welche Teilnahmeform vorliegt, erst mit dem Sachurteil und gestützt auf die im Strafverfahren erhobenen Beweismittel getroffen wird. Es gilt zunächst zu untersuchen, was die einzelnen Beschuldigten taten und inwiefern sie sich absprachen[29]. Daher kann sich auch in diesen Fällen durchaus eine gemeinsame Verfolgung und Beurteilung aufdrängen.

5. a) Gemäss Art. 30 StPO können Strafverfahren aus sachlichen Gründen getrennt werden. Wie dargelegt, ist diese Bestimmung im Jugendstrafprozess weit auszulegen. Die Kurzeinschätzung des Sozialarbeiters über den Beschwerdegegner (keine weiteren Abklärungen empfohlen, sondern Abschluss) deutet unter der von der Jugendanwaltschaft hervorgehobenen Ausrichtung des Jugendstrafverfahrens nicht auf die Notwendigkeit einer Abtrennung des Verfahrens hin. Wie es sich diesbezüglich mit den übrigen tatbeteiligten Jugendlichen verhält, ist nicht genau bekannt[30].

b) Dies braucht aber nicht vertieft abgeklärt zu werden, denn es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Abtrennung der Verfahren in diesem konkreten Fall zu einer Benachteiligung des Beschwerdeführers führt. Der Sachverhalt ist in den Grundzügen klar, und die wesentlichen Aussagen der tatbeteiligten Jugendlichen widersprechen sich nicht. Ausserdem anerkennt der Beschwerdeführer ausdrücklich, dass die Tatrekonstruktion und die späteren Einzelbefragungen der Jugendlichen unter Gewährung der Teilnahmerechte an alle Beteiligten durchgeführt wurden.

c) Der Beschwerdeführer macht denn auch nicht substantiiert geltend, es bestehe die Gefahr, dass sich der Beschwerdegegner zu seinen Lasten besserstelle, oder dass sich widersprüchliche Urteile ergäben. Er bestreitet nicht grundlegende Sachverhalte, sondern die Schlussfolgerung, welche die Jugendanwaltschaft daraus zog. Der Beschwerdeführer ist entgegen der Jugendanwaltschaft, insbesondere gestützt auf die Aussagen des Beschwerdegegners, der Auffassung, das Verfahren gegen den Beschwerdegegner hätte nicht eingestellt werden dürfen. Er macht geltend, nicht «seine» Kerze habe den Brand verursacht, nicht das Anzünden, sondern das Brennenlassen der Kerzen, woran der Beschwerdegegner nicht mehr und nicht weniger Verantwortung als alle anderen trage. Er habe sodann auch zu keiner Zeit verlangt, dass die Kerzen gelöscht würden, sondern habe dieses Vorgehen mitgetragen, weil er – wie die anderen – von deren Licht habe «profitieren» wollen und davon ausgegangen sei, dass nichts passieren werde. Damit habe er zumindest eine bestehende Gefahr durch sein Verhalten vergrössert, was eine Garantenstellung zu begründen vermöge.

Obergericht, 2. Abteilung, 7. Februar 2020, SW.2019.156


[1] Ziegler/Keller, Basler Kommentar, 2.A., Art. 382 StPO N. 1

[2] Art. 29 StPO

[3] BGE vom 23. Mai 2016, 1B_11/2016, Erw. 3

[4] Art. 29 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK

[5] BGE vom 23. Mai 2016, 1B_11/2016, Erw. 2.2

[6] Jositsch/Riesen-Kupper, Schweizerische Jugendstrafprozessordnung, Kommentar, 2.A., Einleitung N. 7; Hug/Schläfli/Valär, Basler Kommentar, 2.A., Vor Art. 1 JStG N. 9; vgl. Art. 2 JStG

[7] Hug/Schläfli/Valär, Vor Art. 1 JStG N. 33

[8] Art. 3 Abs. 3 JStPO

[9] Art. 4 Abs. 2 JStPO

[10] Art. 4 Abs. 3 JStPO

[11] Art. 4 Abs. 4 JStPO

[12] Jositsch/Riesen-Kupper, Einleitung N. 13 f.; Hug/Schläfli, Basler Kommentar, 2.A., Vor Art. 1 JStPO N. 5

[13] Hug/Schläfli, Art. 3 JStPO N. 10; Riedo, Jugendstrafrecht und Jugendstrafprozessrecht, Basel 2013, N. 1429

[14] Jositsch/Riesen-Kupper, Art. 3 JStPO N. 2; Hug/Schläfli, Art. 10 JStPO N. 4a; Riedo, N. 1593

[15] Art. 3 Abs. 2 lit. c JStPO

[16] Vgl. Art. 15 JStPO, der das Akteneinsichtsrecht im Jugendstrafverfahren ohnehin einschränkt.

[17] Jositsch/Riesen-Kupper, Art. 11 JStPO N. 1; Hug/Schläfli, Art. 11 JStPO N. 2

[18] So schon das Obergericht in RBOG 2013 Nr. 25 in Bezug auf das Erwachsenenstrafrecht.

[19] BGE 141 IV 230, 140 IV 176

[20] BGE 138 IV 31; BGE vom 16. Mai 2017, 1B_467/2016, Erw. 4.5; Bartetzko, Basler Kommentar, 2.A., Art. 29 StPO N. 6; Fingerhuth/Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 29 N. 16; Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3.A., Art. 29 N. 4

[21] Roelli, Basler Kommentar, 4.A., Art. 222 StGB N. 3

[22] Roelli, Art. 222 StGB N. 3; BGE 143 IV 370 ff.

[23] Roelli, Art. 222 StGB N. 4

[24] Forster, Basler Kommentar, 4.A., Vor Art. 24 StGB N. 24

[25] Forster, Vor Art. 24 StGB N. 27

[26] Forster, Vor Art. 24 StGB N. 24 i.V.m. N. 22

[27] Forster, Vor Art. 24 StGB N. 24 i.V.m. N. 23

[28] Forster, Vor Art. 24 StGB N. 27

[29] Vgl. BGE 143 IV 372 f.

[30] Offenbar erliess die Jugendanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer (und gegen einen weiteren oder gegen alle weiteren Tatbeteiligten) Strafbefehle.

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