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RBOG 2020 Nr. 5

Legitimation zur Erhebung einer Beschwerde gegen einen Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde


Art. 450 Abs. 2 ZGB


A. Legitimation eines Mitglieds der Erbengemeinschaft zur Anfechtung der Genehmigung des Berichts der Beiständin der Erblasserin

1. Die Beschwerdeführerin ist Mitglied einer Erbengemeinschaft und erhob Beschwerde gegen den Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde betreffend Genehmigung des Berichts der Beiständin der Erblasserin.

2. a) Ein Beleg, wonach die Beschwerdeführerin zur Vertretung der Erbengemeinschaft berechtigt wäre, liegt nicht bei den Akten. Demnach ist davon auszugehen, dass sie (nur) in eigenem Namen handelte. Fraglich ist, ob sie allein handeln konnte oder ob die Erbengemeinschaft in Bezug auf die Anfechtung des vorinstanzlichen Genehmigungsentscheids eine notwendige Streitgenossenschaft bildete.

b) aa) Beerben mehrere Erben den Erblasser, so besteht unter ihnen, bis die Erbschaft geteilt wird, eine Gemeinschaft aller Rechte und Pflichten der Erbschaft. Die Erben werden Gesamteigentümer aller Erbschaftsgegenstände[1]. Die Gemeinschaft ist – analog der einfachen Gesellschaft – eine Gemeinschaft zur gesamten Hand. Als solche bildet sie eine Rechtsgemeinschaft ohne Rechtspersönlichkeit, die mangels Rechtsfähigkeit nicht Trägerin von Rechten und Pflichten sein kann. Träger der Vermögensrechte des Nachlasses sind nach der Rechtsprechung vielmehr die einzelnen Erben[2].

bb) Aus dem erbrechtlichen Gesamthandprinzip ergibt sich, dass die Mitglieder einer Erbengemeinschaft in der Rechtsverfolgung nur gemeinsam zur Prozessführung befugt sind. Sie bilden eine notwendige Streitgenossenschaft. Grundsätzlich sind daher alle Mitglieder der Erbengemeinschaft entweder auf der aktiven und/oder auf der passiven Seite in einen Prozess einzubinden[3]. In öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten lockert die Praxis die sich aus dem Gesamthandprinzip ergebenden Vorgaben. Soweit der einzelne Erbe betroffen ist, kann er in eigenem Namen und unabhängig von anderen Erben handeln[4]. Vorausgesetzt ist einzig, dass die einzelnen Mitglieder der Gesamthandschaft ein aktuelles Interesse an der Anfechtung geltend machen können. Die Zustimmung der übrigen Mitglieder ist einzuholen, wenn durch die Erhebung des Rechtsmittels die Interessen der Gemeinschaft beeinträchtigt werden könnten[5].

cc) Das Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist in verschiedenen Punkten dem öffentlichen Verfahrensrecht nachgebildet: Es gilt der Untersuchungsgrundsatz[6], und die Behörde wendet das Recht von Amtes wegen an[7]. Im Kanton Thurgau lehnt sich zudem die Regelung über die Entschädigung an das Verwaltungsverfahrensrecht an[8]. Diese verfahrensrechtlichen Eigenschaften verdeutlichen, dass im Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in der Regel nicht ein der Privatautonomie unterworfener Streitgegenstand zu behandeln ist. Geht es um den Entscheid einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, der ein Inventar, eine (Schluss-)Rechnung oder einen Bericht genehmigt, ist dadurch zwar das Vermögen der betroffenen Person indirekt berührt. Der Genehmigungsentscheid erfüllt jedoch die Funktion eines Steuerungs- und Kontrollmittels der Behörde gegenüber dem Beistand. Er bezweckt nicht, hoheitlich die Zusammensetzung eines allfälligen Nachlasses und/oder die Berechtigung einzelner Erben festzustellen. Der Entscheid greift damit nicht (direkt) in die Rechtsstellung der Erbengemeinschaft ein. Es wäre angesichts dieser besonderen Natur des Genehmigungsentscheids sachfremd, von den Erben gesamtheitliches Handeln zu verlangen. Vielmehr muss es dem einzelnen Mitglied der Erbengemeinschaft möglich sein, selbstständig gegen einen Genehmigungsentscheid vorzugehen, sofern ein aktuelles Interesse an der Anfechtung besteht.

c) Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Erbengemeinschaft in Bezug auf dieses Rechtsmittelverfahren keine notwendige Streitgenossenschaft bildet. Die Beschwerdeführerin konnte allein und in eigenem Namen Beschwerde erheben. Zu prüfen bleibt, ob ihr die Beschwerdelegitimation zukommt.

3. a) aa) Nach Art. 450 Abs. 2 ZGB sind drei Personenkategorien zur Beschwerde befugt: (1) Die am Verfahren beteiligten Personen, (2) die der betroffenen Person nahestehenden Personen und (3) Personen, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids haben.

bb) Als Verfahrensbeteiligte im Sinn von Art. 450 Abs. 2 Ziff. 1 ZGB gelten diejenigen Personen, die unmittelbar am Verfahren bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde beteiligt waren und ein konkretes (aktuelles) Interesse an der Aufhebung oder Abänderung des angefochtenen Entscheids haben[9]. Allein der Umstand, dass eine Person im erstinstanzlichen Verfahren zur Stellungnahme eingeladen oder ihr der Entscheid eröffnet wurde, macht sie nicht zu einer «am Verfahren beteiligten Person»[10].

cc) Mit den in Art. 450 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB umschriebenen Personen will das Gesetz die Rechtsmittelbefugnis auf Dritte ausdehnen, die mutmasslich im Interesse der unmittelbar betroffenen Person agieren. Nach der Rechtsprechung meint das Wort «nahestehen» eine auf unmittelbare Kenntnis der Persönlichkeit des Betroffenen, von diesem bejahte und von der Verantwortung für dessen Ergehen geprägte Beziehung, die den Dritten geeignet erscheinen lässt, Interessen des Betroffenen wahrzunehmen. Es sind demnach drei Elemente, die eine Beziehung zwischen der betroffenen und einer nahstehenden Person auszeichnen: (1) Die unmittelbare Kenntnis der Persönlichkeit des Betroffenen, (2) die Bejahung durch den Betroffenen und (3) die Verantwortung für das Ergehen des Betroffenen. Diese drei Elemente müssen glaubhaft gemacht werden[11]. Handelt es sich bei der fraglichen Drittperson um einen Verwandten und/oder eine im Haushalt lebende Person, wird – im Sinn einer Tatsachenvermutung – angenommen, die drei Elemente seien erfüllt[12]. Die Beschwerdebefugnis nach Art. 450 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB setzt in allen Fällen voraus, dass der Rechtsmittelkläger tatsächlich die Wahrung der Interessen der betroffenen Person bezweckt. Deshalb entfällt die Legitimation, wenn ein Interessenkonflikt über die Massnahme besteht, die angefochten wird[13].

dd) Dritte, die weder unter Art. 450 Abs. 2 Ziff. 1 noch unter Art. 450 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB fallen, können beschwerdeberechtigt sein, wenn sie eigene rechtlich geschützte Interessen durchsetzen wollen[14]. Die Geltendmachung dieses eigenen rechtlich geschützten Interesses, das wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein kann, ist nur zulässig, wenn es mit der fraglichen Massnahme direkt zusammenhängt beziehungsweise mit der Massnahme geschützt werden soll und deshalb von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde hätte berücksichtigt werden müssen[15].

b) Die Beschwerdeführerin nahm nicht am vorinstanzlichen Verfahren teil, womit eine Beschwerdebefugnis nach Art. 450 Abs. 2 Ziff. 1 ZGB entfällt. Mit dem Tod der Erblasserin ist die Rechtsmittelbefugnis im Interesse der verbeiständeten Person nach Art. 450 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB im Grundsatz[16] entfallen, weshalb auch diese Bestimmung der Beschwerdeführerin keine Legitimation verschafft. Die Beschwerdeführerin kann sich aber auf Art. 450 Abs. 2 Ziff. 3 ZGB berufen. Als Mitglied der Erbengemeinschaft hat sie ein Interesse an der Klärung von Nachlassaktiven und –passiven. Sie machte unter anderem geltend, es seien ungerechtfertigte Zahlungen erfolgt. Als am Gesamtnachlass berechtigte Person hat sie ein aktuelles Rechtsschutzinteresse an der Überprüfung des Genehmigungsentscheids, dies auch mit Blick auf allfällige Verantwortlichkeitsansprüche gegenüber der Beiständin. Die Legitimation ist somit zu bejahen.

Obergericht, 1. Abteilung, 28. Oktober 2020, KES.2020.48

B. Legitimation der leiblichen Mutter zur Anfechtung der Genehmigung des Berichts der Beiständin ihrer Tochter

1. Die Beschwerdeführerin ist die leibliche Mutter, welche gegen die Genehmigung des Berichts der Beiständin ihrer Tochter Beschwerde erhob.

2. a) Die Beschwerdeführerin ist nicht Inhaberin der elterlichen Sorge, nahm am vorin­stanzlichen Verfahren nicht teil und lebt nicht mit ihrer Tochter zusammen. Gemäss dem Bericht der Beiständin leidet die Tochter unter einem Loyalitätskonflikt zwischen ihrer leiblichen Mutter und der Pflegemutter. Vor etwa zwei Jahren habe sie einen Zusammenbruch erlitten. Seit eineinhalb Jahren hätten keine Besuche mehr stattgefunden. Diese Sachverhaltsdarstellung wird in der Beschwerde im Grundsatz nicht in Zweifel gezogen. Die Beschwerdeführerin legt den Sachverhalt vielmehr aus ihrer Sicht dar. Es ist demnach davon auszugehen, dass kein oder zumindest kein intensiver persönlicher Kontakt zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter besteht.

b) Die Beschwerdeführerin ist nicht eine am Verfahren beteiligte Person gemäss Art. 450 Abs. 2 Ziff. 1 ZGB. Sie kann sich zudem nicht auf Art. 450 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB berufen, da es an einem typischen Näheverhältnis fehlt und sich ein Interessenkonflikt abzeichnet. Allenfalls könnte sich die Beschwerdeführerin auf Art. 450 Abs. 2 Ziff. 3 ZGB berufen, sofern sie ein rechtlich geschütztes und aktuelles Interesse an der Aufhebung des Entscheids hat. Zu prüfen ist somit, ob der angefochtene Genehmigungsentscheid die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin tangiert.

3. a) Die Berichtsprüfung dient einerseits der Rechenschaftsablage des Beistands gegenüber der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, indem sie die Kontrolle und Aufsicht über die Tätigkeit des Mandatsträgers ermöglicht. Andererseits soll sie eine Standortbestimmung und die Evaluation der Zwecktauglichkeit einer Massnahme ermöglichen[17]. Der Inhalt des Berichts hat über die Lage der betroffenen Person und die Ausübung der Beistandschaft Auskunft zu geben[18]; im Übrigen konkretisiert das kantonale Recht näher, über welche Problemfelder der Beistand Bericht abzulegen hat[19]. Das Ergebnis der Berichts- und Rechnungsprüfung wird in einem formellen Entscheid festgehalten, dessen Funktion es primär ist, das Verhältnis zwischen dem Mandatsträger und der Behörde zu regeln. Die im Bericht festgehaltenen Tatsachen, Eindrücke und Beobachtungen haben weder von sich aus noch erhalten sie durch die behördliche Genehmigung den Charakter behördlich festgestellter Tatsachen. Gegenüber Dritten entfaltet die Berichtsgenehmigung in diesem Sinn keine Wirkungen[20].

b) Aus der Funktion des Genehmigungsentscheids, das interne Verhältnis zwischen Beistand und Behörde zu regeln, folgt, dass Drittpersonen normalerweise kein aktuelles und praktisches Rechtsschutzinteresse an der Anfechtung haben[21].

c) Die Beschwerdeführerin beschränkt sich darauf, ergänzende, teils vom genehmigten Bericht abweichende Bemerkungen anzubringen. Es ist zwar verständlich, dass sie ihre Perspektive in das Verfahren einbringen will. Das ändert aber nichts an der Funktion des angefochtenen Genehmigungsentscheids, die primär darin besteht, das interne Verhältnis zwischen der Behörde und der Beiständin zu regeln. Die Beschwerdeführerin kann auch nicht aufzeigen, dass und inwiefern der genehmigte Bericht nicht den Tatsachen entspricht. Indem sie ihre eigene Wahrnehmung derjenigen der Beiständin gegenüberstellt, entkräftet sie die Sachverhaltsdarstellung im Bericht nicht. Im Ergebnis ist die Beschwerdeführerin daher nicht in rechtlichen Interessen berührt. Folglich fehlt es auch am praktischen (aktuellen) Rechtsschutzinteresse. Die Legitimation ist somit zu verneinen.

Obergericht, 1. Abteilung, 14. Oktober 2020, KES.2020.59


[1] Art. 602 Abs. 1 und 2 ZGB

[2] BGE 141 IV 384

[3] Schaufelberger/Keller Lüscher, Basler Kommentar, 6.A., Art. 602 ZGB N. 26; BGE 121 III 121, 93 II 14 ff.

[4] Schaufelberger/Keller Lüscher, Art. 602 ZGB N. 26; Brückner/Weibel, Die erbrechtlichen Klagen, 3.A., N. 286

[5] Kölz/Häner/Bertschi, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3.A., N. 935

[6] Art. 446 Abs. 1 ZGB; § 45 KESV (Kindes- und Erwachsenenschutzverordnung, RB 211.24)

[7] Art. 446 Abs. 4 ZGB

[8] § 65 Abs. 1 KESV; vgl. dazu § 80 VRG (Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, RB 170.1)

[9] Droese/Steck, Basler Kommentar, 6.A., Art. 450 ZGB N. 29; BGE vom 28. März 2013, 5A_979/2013, Erw. 6

[10] BGE vom 16. August 2019, 5A_165/2019, Erw. 3.2; BGE vom 28. März 2013, 5A_979/2013, Erw. 6

[11] BGE vom 7. Dezember 2015, 5A_112/2015, Erw. 2.5.1.2; BGE vom 5. November 2013, 5A_663/2013, Erw. 3.2

[12] BGE vom 7. Dezember 2015, 5A_112/2015, Erw. 2.5.1.2

[13] BGE vom 8. Juli 2019, 5A_322/2019, Erw. 2.3.3

[14] Droese/Steck, Art. 450 ZGB N. 38a

[15] BGE vom 19. Dezember 2018, 5A_502/2018, Erw. 3.2.4; BGE vom 5. April 2017, 5A_746/2016, Erw. 2.3.3; BGE vom 28. Mai 2015, 5A_124/2015, Erw. 5.1

[16] Sofern nicht eine «Nachwirkung der Persönlichkeit des Verstorbenen» in Frage steht (vgl. BGE 101 II 191).

[17] Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 28. Juni 2006, BBl 2006 S. 7054

[18] Art. 411 Abs. 1 ZGB

[19] Vgl. § 84 KESV

[20] Botschaft, S. 7056; Vogel, Basler Kommentar, 6.A., Art. 415 ZGB N. 14 f.

[21] Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 11. Mai 2016, 810 16 91, Erw. 5

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