RBOG 2021 Nr. 14
Kein Strafantragserfordernis beim gewerbsmässigen Betrug zum Nachteil eines Angehörigen
Art. 30 StGB, Art. 146 Abs. 2 StGB, Art. 146 Abs. 3 StGB
1. Ein korrekt gestellter Strafantrag ist Prozessvoraussetzung[1]. Im hier interessierenden Anklagesachverhalt warf die Staatsanwaltschaft der Berufungsklägerin gewerbsmässigen Betrug unter anderem zum Nachteil ihres damaligen Ehemanns vor. Das Antragserfordernis besteht nach Art. 146 Abs. 3 StGB, wenn es sich um ein Delikt zum Nachteil eines Angehörigen[2] oder Familiengenossen[3] handelt. Fraglich und vorliegend umstritten ist, ob das Antragserfordernis auch für die qualifizierte Form des gewerbsmässigen Betrugs nach Abs. 2 gilt, oder lediglich für den "einfachen" Betrug nach Art. 146 Abs. 1 StGB.
2. a) Ob ein Strafantrag auch vorausgesetzt wird, wenn die gewerbsmässige Begehung zum Nachteil eines Familienangehörigen zur Diskussion steht, liess das Bundesgericht in einem jüngeren Entscheid offen[4]. Die Lehre ist geteilt. Trechsel/Crameri gehen davon aus, der privilegierte Tatbestand sei eng auszulegen[5]. Niggli/Riedo nehmen im Basler Kommentar mit Verweis auf die Entstehungsgeschichte des privilegierten Tatbestands an, er sei auch auf die qualifizierte Deliktsvariante anwendbar. Sie halten indes fest, dem Strafgesetzbuch sei die Kategorie eines "privilegierten qualifizierten Tatbestands" an sich fremd. Trotzdem kommen sie zum Schluss, dass die Privilegierung auch für die qualifizierten Tatbestände gelte[6].
b) Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, muss unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite gesucht werden. Abzustellen ist namentlich auf die Entstehungsgeschichte[7] und ihren Zweck[8] sowie auf die Bedeutung[9], die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt[10].
c) Der Wortlaut von Art. 146 Abs. 3 StGB lässt beide der in Frage kommenden Auslegungen zu. Auch die Systematik dieser Rechtsnorm spricht weder für noch gegen eine Auslegungshypothese. Man kann Art. 146 Abs. 3 StGB als eigenständige Deliktsvariante sehen, die sich von der qualifizierten Variante nach Art. 146 Abs. 2 StGB abhebt, oder der dritte Absatz wird im Sinn einer die beiden vorangehenden Absätze umfassenden Privilegierung gelesen. In systematischer Hinsicht fällt weiter ins Gewicht, dass eine ähnliche Privilegierung beim Diebstahl[11] und bei der Veruntreuung[12] existiert. Bei der Veruntreuung integrierte der Gesetzgeber die Privilegierung ausdrücklich in den Grundtatbestand von Art. 138 Ziff. 1 StGB. Die Anwendung auf den qualifizierten Tatbestand[13] wird dadurch ausgeschlossen. Der Tatbestand des Diebstahls ist mit eigenständigem privilegiertem Tatbestand gleich aufgebaut wie derjenige des Betrugs.
d) Die abweichende Fassung des Veruntreuungstatbestands geht auf die Revision des Vermögensstrafrechts zurück. Der Gesetzgeber wollte klarstellen, dass die Privilegierung nur für die "einfache" Veruntreuung gelte. Für die Tätergruppen, die unter Art. 138 Ziff. 2 StGB fallen[14], bestehe ein erhöhtes Strafinteresse. Deshalb solle der Tatbestand immer von Amtes wegen verfolgt werden[15]. In der Fassung aus dem Jahr 1942 war der Tatbestand der Veruntreuung gleich aufgebaut wie derjenige des Diebstahls und des Betrugs noch heute. Der privilegierte Tatbestand war nach damaliger Ansicht auf den qualifizierten Tatbestand anwendbar[16]. Mit der Revision des Vermögensstrafrechts änderte der Gesetzgeber die Rechtslage bezüglich des Veruntreuungstatbestands ausdrücklich. Bezüglich der übrigen, privilegierten Vermögensdelikte zog er eine Änderung – soweit aus der Botschaft ersichtlich – nicht in Betracht.
e) Es stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber durch die punktuelle Revision des Veruntreuungstatbestands die Rechtslage in Bezug auf die anderen privilegierten Tatbestände bestätigen wollte. In der Literatur wurde kritisiert, der Gesetzgeber habe es bei anderen Delikten versäumt, klarzustellen, dass das Antragserfordernis nur für den Grundtatbestand gelte[17]. Nach dieser Lehrmeinung wäre also nicht von einem bewussten Entscheid für die alte Rechtslage auszugehen, sondern von einem gesetzgeberischen Versäumnis. Tatsächlich liesse sich argumentieren, die Erwägungen des Revisionsgesetzgebers zum Verhältnis von qualifiziertem und privilegiertem Tatbestand bei der Veruntreuung würden für alle qualifizierten Tatbestände gelten. Auch bei den Qualifizierungen der gewerbsmässigen und bandenmässigen Tatbegehung sowie der Tatbegehung mit einer Schusswaffe oder einer anderen gefährlichen Waffe nach Art. 139 und Art. 146 StGB besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung des Täters. Es kann daher argumentiert werden, dass bei allen qualifizierten Deliktsvarianten das erhöhte Strafinteresse derart gewichtig sei, dass es nicht auf den Antrag einer Privatperson ankommen könne[18], weshalb der mit der Privilegierung verfolgte Schutz der persönlichen Beziehungen zwischen Täter und Opfer dahinter zurückzutreten habe.
f) Die Entstehungsgeschichte ergibt demnach kein eindeutiges Bild, spricht aber eher für ein Antragserfordernis beim qualifizierten Tatbestand. Ebenfalls nicht eindeutig ist das teleologische Auslegungselement: Auf der einen Seite entspricht es der Natur des qualifizierten Delikts, dass es von Amtes wegen verfolgt werden soll; auf der anderen Seite spielt der Schutz der Hausgemeinschaft, dem die Privilegierung dient, auch beim gewerbsmässigen Delikt eine Rolle.
g) Bei dieser Ausgangslage ist dem systematischen Argument in Verbindung mit dem teleologischen Argument erhebliches Gewicht beizulegen. Das Schweizer Strafrecht kennt den Tatbestand des qualifizierten privilegierten Delikts nicht[19]. Dieses leidet an einem inneren Widerspruch: Das die Strafwürdigkeit erhöhende Qualifikationsmerkmal würde durch die Privilegierung entkräftet. Dass sich der Gesetzgeber mit der Revision des Vermögensstrafrechts bewusst für diese Rechtslage entschieden hatte, geht aus der Entstehungsgeschichte des Veruntreuungstatbestands nicht mit der wünschbaren Klarheit hervor, weshalb das historische Auslegungselement hinter den systematischen Überlegungen zurückzutreten hat.
h) Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch das Bundesgericht, als es in einem Entscheid festhielt, bei Verletzung mehrerer Personen sei die Privilegierung des Art. 137 Ziff. 3 aStGB[20] nur anwendbar, wenn alle Betroffenen Angehörige oder Familiengenossen des Diebes seien[21]. Der privilegierte Tatbestand habe damit hinter dem "einfachen" Diebstahl zurückzutreten. Dies muss umso mehr für den qualifizierten Tatbestand gelten, bei dem das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung ungleich grösser ist. Weiter hielt das Bundesgericht in einem nicht publizierten Entscheid betreffend Veruntreuung fest, das schweizerische Strafrecht kenne neben den Grundtatbeständen nur qualifizierte und privilegierte Tatbestände. Mit einer Anwendung von Art. 138 Ziff. 1 Abs. 4 StGB auf Art. 138 Ziff. 2 StGB würde ein "privilegiert qualifizierter Tatbestand" geschaffen, was unüblich wäre und auch dem Sinn und Zweck des Antragserfordernisses gemäss Art. 30 StGB nicht entsprechen würde. Dieses bestehe legitimerweise dort, wo der Gesetzgeber der Ansicht sei, die staatlichen und privaten Interessen auf Verfolgung seien geringer als jene auf Nicht-Verfolgung. Dies sei typischerweise bei Bagatellkriminalität und gerade nicht bei qualifizierten Tatbeständen der Fall. Die qualifizierte Veruntreuung gemäss Art. 138 Ziff. 2 StGB sei daher kein Antragsdelikt. Anders verhalte es sich hingegen – so das Bundesgericht weiter - beim Tatbestand der ungetreuen Geschäftsbesorgung[22]. Weshalb die zutreffenden Ausführungen zu Sinn und Zweck der Privilegierung aber bei der ungetreuen Geschäftsbesorgung, die ähnlich aufgebaut ist wie die des Betrugs, nicht Geltung haben sollen, erhellt nicht – und wird auch nicht begründet. Aus der in dieser Erwägung genannten Rechtsprechung des Bundesgerichts[23] betreffend ungetreue Geschäftsführung lässt sich daher nichts für die hier zu beurteilende Frage in Bezug auf den Betrug ableiten. Vielmehr ist gestützt auf die schlüssigen Überlegungen des Bundesgerichts davon auszugehen, dass eine Privilegierung des qualifizierten Tatbestands auch beim gewerbsmässigen Betrug aufgrund des hohen öffentlichen Interesses an der Verfolgung dieses Delikts abzulehnen ist.
3. Ein Strafantrag ist aus diesen Gründen nur beim privilegierten, nicht aber beim qualifizierten Betrug eine Prozessvoraussetzung.
Obergericht, 1. Abteilung, 12. November 2020, SBR.2020.47
[1] Vgl. Art. 30 Abs. 1 StGB
[2] Vgl. Art. 110 Abs. 1 StGB
[3] Vgl. Art. 110 Abs. 2 StGB
[4] BGE vom 12. Februar 2020, 6B_1104/2019, Erw. 2.2.1
[5] Trechsel/Crameri, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 3.A., Art. 139 N. 25
[6] Niggli/Riedo, Basler Kommentar, 4.A., Art. 139 StGB N. 212 ff.
[7] Historische Auslegung
[8] Teleologische Auslegung
[9] Systematische Auslegung
[10] BGE 139 IV 286
[11] Art. 139 StGB
[12] Art. 138 StGB
[13] Art. 138 Ziff. 2 StGB
[14] Sofern der Täter als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufs, Gewerbes oder Handelsgeschäfts, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, handelt; vgl. Art. 138 Ziff. 2 StGB.
[15] Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Strafbare Handlungen gegen das Vermögen) vom 24. April 1991, BBl 1991 II S. 1001
[16] Thormann/von Overbeck, Schweizerisches Strafgesetzbuch, II. Band, Zürich 1941, Art. 137 N. 36 f., Art. 140 N. 25 und Art. 148 N. 16
[17] Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2.A., Art. 139 N. 25
[18] Vgl. Botschaft, S. 1001
[19] Vgl. Art. 172ter Abs. 2 StGB, der die Privilegierung von Vermögensdelikten wegen Geringfügigkeit für den qualifizierten Diebstahl, Raub und Erpressung ausdrücklich ausschliesst.
[20] Heute: Art. 139 Ziff. 4 StGB
[21] BGE 84 IV 14
[22] BGE vom 30. April 2018, 1B_144/2018, Erw. 3.5 ff.
[23] BGE vom 30. April 2018, 1B_144/2018, Erw. 3.7