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RBOG 2021 Nr. 19

Grundsätze zur Aktenführung und Akteneinsicht


Art. 76 ff. StPO, Art. 100 ff. StPO


1. Der Beschwerdeführer ist Privatkläger in einem Strafverfahren. Die Kantonspolizei stellte gestützt auf einen Hausdurchsuchungsbefehl in den Räumlichkeiten des kantonalen Amts A Unterlagen und Gegenstände sicher. Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens bildet das Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers als Privatkläger. Anfechtungsobjekt bildet das Schreiben der Staatsanwaltschaft, mit dem diese dem Beschwerdeführer mitteilte, sie habe sämtliche Akten zugestellt und damit umfassende Akteneinsicht gewährt.

2. Der Beschwerdeführer rügt zusammengefasst einerseits, dass die Staatsanwaltschaft nicht sämtliche beim Veterinäramt beschlagnahmten Akten ins Strafverfahren einbezogen habe, und andererseits, dass sie sich weigere, die restlichen Akten seinem Rechtsvertreter zur Einsichtnahme zuzustellen, sondern von diesem verlange, die Akten bei der Staatsanwaltschaft einzusehen.

3. Aufgrund der Ausführungen der Staatsanwaltschaft wird davon ausgegangen, dass die elektronisch auf DVD zugestellten Akten, die als Verfahrensakten bezeichnet sind, von der Staatsanwaltschaft selber produzierte – grundsätzlich physische - Akten enthalten sowie einen Teil der bei A beschlagnahmten Akten, die zum Teil in physischer, zum Teil nur in elektronischer Form vorhanden sind. Die Staatsanwaltschaft bezeichnet diese Akten in der Beschwerdeantwort als "Verfahrensakten im engeren Sinn". Nicht zugestellt wurde (und musste auch nicht) ein Teil der beschlagnahmten Akten, welche die Staatsanwaltschaft in der Beschwerdeantwort als "Sekundärakten" bezeichnet. Gemäss Staatsanwaltschaft sind die nicht nummerierten und in einem Aktenverzeichnis erfassten Verfahrensakten im Beschlagnahmebefehl und im Beschlagnahmeverzeichnis aufgeführt und damit in den Strafakten ausreichend erwähnt. Im Beschlagnahmebefehl sind auf etwas mehr als zwei A4-Seiten Gegenstände respektive Daten aufgeführt, die beschlagnahmt wurden[1]. Im Beschlagnahmebefehl ist der Tatvorwurf umschrieben. In rechtlicher Hinsicht wird ausgeführt, an der Hausdurchsuchung bei A seien sämtliche auffindbaren Unterlagen im Zusammenhang mit dem Beschwerdeführer sowie diverse Unterlagen betreffend andere Personen sichergestellt worden, sowie weitere diverse Daten[2]. Alle diese Unterlagen und Daten würden allenfalls im Verfahren als Beweismittel benötigt und seien daher als solche zu beschlagnahmen.

4. Die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Triage der Akten in "eigentliche Verfahrensakten" und "Sekundärakten", die gemäss Staatsanwaltschaft "weiterhin beschlagnahmt bleiben, indes weder paginiert noch im Einzelnen ins Aktenverzeichnis aufgenommen wurden, da sie gerade nicht Bestandteil der Strafverfahrensakten sind", führt zur Frage, was zu den (Verfahrens-)Akten gehört, respektive, was überhaupt Akten sind, für die ein Anspruch auf Einsicht besteht.

a) aa) Unter dem Randtitel "Akteneinsicht bei hängigen Verfahren" bestimmt Art. 101 Abs. 1 StPO, dass die Parteien spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft die Akten des Strafverfahrens einsehen können, unter Vorbehalt von Art. 108 StPO. Art. 101 StPO regelt die Akteneinsicht in hängigen Verfahren. Ein Strafverfahren ist hängig ab der Eröffnung des Vorverfahrens, das bereits durch formlose Ermittlungstätigkeit der Polizei und nicht erst mit der formellen Eröffnung der Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet wird, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens[3]. Handelt es sich um polizeiliche Ermittlungsakten, die nicht an die Staatsanwaltschaft übergeben werden, weil klarerweise kein strafbares Verhalten vorliegt, ist von einem abgeschlossenen und damit von einem nicht mehr hängigen Verfahren auszugehen[4].

bb) Der Anspruch auf Akteneinsicht umfasst grundsätzlich die gesamten Akten gemäss dem gesetzlich definierten Aktenbegriff, ohne dass ein Interesse irgendwelcher Art nachzuweisen ist[5]. Gemäss Art. 100 Abs. 1 StPO wird für jede Strafsache ein Aktendossier angelegt. Dieses enthält die Verfahrens- und Einvernahmeprotokolle (lit. a), die von der Strafbehörde zusammengetragenen Akten (lit. b) und die von den Parteien eingereichten Akten (lit. c). Gemäss Art. 100 Abs. 2 StPO sorgt die Verfahrensleitung für die systematische Ablage der Akten und für deren fortlaufende Erfassung in einem Verzeichnis.

cc) Die in Art. 76 ff. und 100 StPO statuierte Pflicht zur Aktenführung und Dokumentation gehört zu den elementarsten Grundsätzen des Strafprozessrechts und bedeutet, dass alle prozessual relevanten Vorgänge von den Behörden in geeigneter Form festgehalten und die entsprechenden Aufzeichnungen in die Strafakten integriert werden müssen. Aus den Akten muss ersichtlich sein, wer sie erstellt hat und wie sie zustande gekommen sind. Die Dokumentationspflicht hat unter anderem Garantiefunktion, indem später festgestellt werden kann, ob prozessuale Regeln und Formen eingehalten wurden[6].

Diese Aktenführungs- und Dokumentationspflicht ist Vorbedingung des aus dem grundrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör abgeleiteten Akteneinsichtsrechts. Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Strafprozessrechts, dass sämtliche im Rahmen des Verfahrens vorgenommenen Erhebungen aktenkundig gemacht werden[7].

dd) Indem Art. 100 Abs. 1 StPO von einem Aktendossier spricht, worunter man gemeinhin eine Sammlung von Schriftstücken versteht, knüpft diese Bestimmung an die in Art. 76 ff. StPO als Teil der umfassenden Dokumentationspflicht geregelte Protokollierungspflicht an, nach der sämtliche nicht schriftlichen Verfahrensvorgänge[8] in schriftlicher Form festzuhalten sind. Art. 100 Abs. 1 lit. a StPO nennt denn auch als Teil des Aktendossiers die Verfahrens- und die Einvernahmeprotokolle gemäss Art. 77 und 78 StPO. Ebenfalls ins Aktendossier gehören nach Art. 100 Abs. 1 lit. b und c StPO die von der Strafbehörde zusammengetragenen und die von den Parteien eingereichten Akten. Zweifellos fallen darunter alle Schriftstücke, seien dies Polizeiberichte, Strafanzeigen, Beweisanträge, Rechtsmittelerklärungen, Amtsberichte, Leumundsberichte, Strafregisterauszüge, schriftliche Berichte, beschlagnahmte Buchhaltungsunterlagen, edierte Bankauszüge oder Gutachten. Laut Botschaft muss jedoch das Aktendossier neben allen Schriftstücken auch alle weiteren Sachbeweise enthalten. Der Gesetzgeber geht somit von einem weiten Aktenbegriff – Akten im weiteren Sinn - aus, der nicht nur Schriftstücke, sondern auch andere Gegenstände umfasst. Dazu gehören auch Daten- und weitere Spurenträger. Zu den Akten im weiteren Sinn gehören etwa auch die von den Strafbehörden erstellten Datenträger[9].

ee) Unerheblich ist die Bezeichnung der Akten beziehungsweise von Teilen der Akten durch die Staatsanwaltschaft. Denn von Bedeutung ist nicht die mehr oder weniger willkürliche Bezeichnung der Aktenarten oder Aktenteile[10], sondern einzig und allein die Frage, was aufgrund der Aktenführungs- und Dokumentationspflicht in die Akten gehört und was nicht[11].

ff) Unabhängig von diesem weiten Aktenbegriff wird nirgends gesagt, nach welchen Kriterien ein Schriftstück oder ein anderer Gegenstand zu den Akten genommen werden muss. Die gängige Formel, wonach alle prozessual relevanten Vorgänge aktenkundig gemacht werden müssen, ist richtig, bedarf jedoch der Konkretisierung[12]. Die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft und der Gerichte müssen gestützt auf Akten getroffen werden, die alle entscheidwesentlichen – sowohl belastenden als auch entlastenden - Informationen beinhalten. Geheimakten darf es nicht geben. Keine Geheimakten stellen die sogenannten Sekundärakten dar. Dabei handelt es sich um Unterlagen, die aus Praktikabilitätsgründen, sei dies wegen ihres Umfangs[13] oder wegen des Inhalts[14], nicht im eigentlichen Aktendossier abgelegt werden. Sie sind jedoch fraglos Bestandteile der Akten und als solche bezüglich Vorhandenseins und Standorts in den Hauptakten zu vermerken. Sind nicht alle entscheidwesentlichen Informationen in den Akten enthalten, führt dies zur Beeinträchtigung nicht nur der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person, sondern auch der Parteirechte der Privatklägerschaft und der Entscheidungskompetenz der Gerichte. Ob ein Aktenstück in diesem Sinn verfahrensrelevant ist, entscheidet sich spätestens mit dem Gerichtsurteil. Die Akten müssen deshalb grundsätzlich alles enthalten, was im Hinblick auf die verfolgte Tat mit einem möglichen Schuldvorwurf und einer allfälligen Strafzumessung in einen Zusammenhang gebracht werden kann[15].

b) Daraus ergibt sich im Sinn eines Zwischenfazits, dass die Staatsanwaltschaft zwar berechtigt ist, die Akten zu triagieren. Die Triage führt allerdings nicht zu Verfahrensakten verschiedener Natur. Das verkennt die Staatsanwaltschaft, wenn sie mit der Triage einerseits Verfahrensakten ausscheidet, andererseits "Sekundärakten", die "gerade nicht Bestandteil der Strafverfahrensakten sind", behält. Zutreffend ist nur, aber immerhin, dass nicht alle Akten die gleiche Bedeutung für das Strafverfahren haben; die einen sind wichtiger als die anderen[16]. Vielmehr erfolgt die Triage, um den Umfang der Verfahrensakten festzustellen. Es gibt entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft somit nicht Verfahrensakten und "Nicht-Verfahrensakten". Es geht darum, das Material zu bestimmen, das für das Verfahren gebraucht wird, das für das Verfahren eine Bedeutung hat. Dieses Material wird zum Bestandteil des Aktendossiers, zu den Akten im Sinn von Art. 100 StPO. Das sind die Akten des Strafverfahrens, die Verfahrensakten, unabhängig davon, wie die Staatsanwaltschaft diese Akten unterteilt, sei es aus systematischen Gründen, um einen grösseren Überblick zu bekommen, sei es aus anderen Gründen. Dasjenige Material, das nicht gebraucht wird, und das keinen Bezug zum Gegenstand der Strafuntersuchung hat, wird durch die Triage ausgeschieden und gehört nicht zu den Akten. Das bedeutet aber, dass dieses Material, diese Unterlagen, diese "Akten" von der Staatsanwaltschaft nicht bearbeitet und von ihr nicht genutzt werden respektive nicht genutzt werden dürfen. Dieses Material hat dementsprechend auch für die Parteien keinerlei Bedeutung und ist nicht Bestandteil ihres Anspruchs auf Akteneinsicht. Das wiederum hat zur Folge, dass dieses nicht gebrauchte Material definitiv aus den Akten und aus dem Zugriffsbereich der Staatsanwaltschaft auszuscheiden ist, je nach Herkunft des Materials[17]. Mindestens ist dieses Material physisch und formal in absoluter Deutlichkeit und Klarheit von den Verfahrensakten zu trennen. Geht es - wie hier - um gerade im Hinblick auf die Strafuntersuchung beschlagnahmte Akten, die nicht zu den Verfahrensakten genommen werden, weil sie dafür keine Bedeutung haben, dann ist deren Schicksal in den Verfahrensakten zu dokumentieren[18]. Die Beschlagnahme ist kein Hinderungsgrund, denn sobald sich von einem als Beweisgegenstand beschlagnahmten Objekt herausstellt, dass es im Hinblick auf die untersuchten Taten ohne Beweiswert ist, ist die Beschlagnahme aufzuheben[19].

c) Damit bleibt die Frage zu klären, nach welchen Kriterien das gesammelte Material in die Akten aufzunehmen ist. Ohne auf die Gefahren anklageorientierter Aktenführung[20] einzugehen, ist für das Gericht mit Schmutz[21] klar, dass der Staatsanwaltschaft dazu ein Ermessensspielraum zukommt. Ebenso klar ist, dass das entscheidende Kriterium die Verfahrensrelevanz eines Aktenstücks ist, und dass offensichtlich irrelevantes Material nicht in die Akten aufzunehmen ist. Auch wenn nicht der extensiven Lehrmeinung von Schmutz gefolgt wird, wonach Untersuchungsergebnisse in die Akten aufzunehmen sind, wenn auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie mit Bezug auf den Schuldvorwurf oder die Strafzumessung Bedeutung haben könnten, hat sich die Staatsanwaltschaft immerhin im Zweifel über die Verfahrensrelevanz von Untersuchungsmaterial für die Aufnahme in die Akten zu entscheiden[22]. Auch Brüschweiler/Grünig[23] bejahen zwar den Grundsatz "im Zweifel für die Aufnahme". Ihre Umschreibung ist aber etwas weniger extensiv: Das Dossier muss alles enthalten, was im Hinblick auf die verfolgte Tat mit einem möglichen Schuldvorwurf und einer allfälligen Strafe beziehungsweise Massnahme in einen thematischen Zusammenhang gebracht werden kann. Oberholzer[24] umschreibt dies noch etwas allgemeiner, bringt dafür zusätzlich aber in zutreffender Weise den prozeduralen Aspekt ein: Aktenkundig ist alles zu machen, was für die spätere Beurteilung von Bedeutung sein kann und für das Verständnis des Verfahrensgangs erforderlich erscheint. Dazu zählen alle Akten, die in irgendeinem thematischen Zusammenhang mit dem Tatvorwurf stehen. Die Anklagebehörde muss dem Gericht und damit auch den Parteien sämtliche Spurenvorgänge zur Kenntnis bringen, die im Verfahren - und sei es auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit - Bedeutung erlangen können. Sie dürfen grundsätzlich kein von ihnen erhobenes oder ihnen zugekommenes Material zurückbehalten, das einen Bezug zur Sache hat.

d) aa) Aus der dargelegten Rechtstheorie ergibt sich, dass die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft beanstandet werden muss. Erstens gibt es, wie dargelegt, nicht "Strafverfahrensakten" und "Nicht-Strafverfahrensakten"[25]. Zweitens ist entscheidend und darauf abzustellen, dass die Staatsanwaltschaft das von ihr als "Sekundärakten" bezeichnete Material als nicht verfahrensrelevant bezeichnet, also als nicht von Bedeutung für das von ihr geführte Strafverfahren mit dem Beschwerdeführer als Privatkläger. Bereits in der angefochtenen Verfügung beziehungsweise im angefochtenen Schreiben[26] hielt die Staatsanwaltschaft fest, sie habe sämtliche, nach ihrer Ansicht für die Strafverfolgung relevanten Unterlagen zu den Akten genommen und zur Einsicht zugestellt. Daran hält sie in der Beschwerdeantwort fest. In der Duplik führt die Staatsanwaltschaft auf einen Einwand des Beschwerdeführers aus, es erschliesse sich ihr nicht, weshalb sie Dokumente zu den Verfahrensakten nehmen sollte, die in einem nicht durch sie geführten Strafverfahren gegen einen anderen Beschuldigten relevant sein könnten. Das ist zutreffend, bedeutet indessen, dass solche für das hängige Strafverfahren nicht relevante Akten gar nicht zu den Verfahrensakten gehören und auszusortieren sind. Wenn dem so ist, wie die Staatsanwaltschaft selber ausführt, sind diese "Sekundärakten" nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesgerichts und der herrschenden Lehre nicht Bestandteil der Akten im Sinn von Art. 100 StPO, das heisst nicht Bestandteil der Verfahrensakten und somit nicht Bestandteil des Einsichtsrechts des Beschwerdeführers. Das bedeutet, dass dieses Material, diese "Sekundärakten", aus dem Aktendossier dieses Strafverfahrens zu entfernen sind, wobei diese Entfernung zu dokumentieren ist.

bb) Damit ist der angefochtene Entscheid aufzuheben, und die Sache ist an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Die Staatsanwaltschaft hat die Triage wie dargelegt vorzunehmen und dasjenige Material, das keine Verfahrensrelevanz hat, aus dem Dossier dieses Strafverfahrens zu entfernen. Diese Rückweisung impliziert indessen nicht, dass alle von der Staatsanwaltschaft als "Sekundärakten" bezeichneten Akten zu entfernen sind. Vielmehr hat die Staatsanwaltschaft nach der Rückweisung Gelegenheit, diese Frage (nochmals[27]) zu prüfen und im Rahmen ihres Ermessens gemäss den dargelegten Vorgaben definitiv zu entscheiden[28], was zu den Verfahrensakten gehört. Diese Akten hat sie ordnungsgemäss dem Beschwerdeführer beziehungsweise dessen Rechtsvertreter zu eröffnen. Die nicht relevanten Akten hat die Staatsanwaltschaft auszuscheiden beziehungsweise zurückzugeben.

5. a) Ob nach der Bereinigung des Aktendossiers die Modalitäten der Akteneinsicht noch beziehungsweise wieder strittig sein werden[29], ist ungewiss. Dazu kann vorläufig Folgendes festgehalten werden:

b) aa) Die Akten sind am Sitz der betreffenden Strafbehörde oder rechtshilfeweise bei einer anderen Strafbehörde einzusehen. Anderen Behörden sowie den Rechtsbeiständen der Parteien werden sie in der Regel zugestellt[30].

bb) Zur Modalität der Akteneinsicht[31] erwog die Staatsanwaltschaft, es sei zutreffend, dass die Akten einem Rechtsvertreter in der Regel zugestellt würden. So seien auch die bisher rund 14 Ordner umfassenden Verfahrensakten im engeren Sinn in diesem Fall allesamt paginiert, eingescannt und den Parteien in elektronischer Form auf einer DVD zugestellt worden. Die Berufung des Beschwerdeführers auf Art. 102 Abs. 2 StPO gehe fehl, weil der Gesetzgeber mit dem Wortlaut "in der Regel" zum Ausdruck gebracht habe, dass auch Verhältnismässigkeitsüberlegungen zu berücksichtigen seien und der Strafbehörde dabei ein entsprechender Ermessensspielraum zukomme[32]. Gerade wenn die Akten – wie es vorliegend bei den Sekundärakten der Fall sei - sehr umfangreich seien, könne bei der Gewährung der Akteneinsicht vom Grundsatz der Zustellung an den Rechtsvertreter abgesehen werden. Das gelte vorliegend umso mehr, als es sich bei den Akten gerade nicht um Verfahrensakten im engeren Sinn, sondern bislang lediglich um Beschlagnahmungen handle, die nicht nummeriert und in einem Aktenverzeichnis erfasst seien, was eine Kontrolle von allfälligen Veränderungen der Akten nach Zusendung an die Parteien verunmögliche. Die Akten seien aber im Beschlagnahmebefehl sowie im Beschlagnahmeverzeichnis aufgeführt und damit in den Strafakten ausreichend erwähnt. Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers sei es ohne weiteres zuzumuten, die Akten bei der Staatsanwaltschaft einzusehen und von einzelnen Dokumenten Kopien anfertigen zu lassen oder mittels Abfotografierens selber anzufertigen. Ausserdem sei es ihm mit oder ohne vorgängige Einsicht in die Sekundärakten unbenommen, den Beizug von Dokumenten zu den Verfahrensakten im engeren Sinn zu beantragen, wenn sie denn fallrelevant wären, was an dieser Stelle bestritten werde.

cc) Die Staatsanwaltschaft weist zutreffend darauf hin, dass der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers keinen absoluten oder unbedingten Anspruch auf Zustellung der Akten hat. Vielmehr erfolgt die Zustellung "in der Regel"[33]. Das bedeutet, dass von einer Zustellung der Akten abgesehen werden kann, wenn praktische Gründe dies erheischen, beispielsweise wenn die Akten sehr umfangreich sind oder die Strafverfolgungsbehörde oder das Gericht die Akten dringend benötigt[34]. In einem einschlägigen Entscheid relativierte das Bundesgericht allerdings diesen Ausnahmetatbestand, indem es die Nichtzustellung der Akten an den Rechtsanwalt eines Beschwerdeführers während der laufenden Untersuchung mit der Begründung als zulässig qualifizierte, bei ausserordentlich umfangreichen Akten sei es nicht zumutbar, diese einem Anwalt mehr als einmal zur Einsichtnahme zuzustellen[35]. Dies bedeutet, dass einmal im Laufe der Untersuchung, somit in der Regel am Schluss der Untersuchung, eine Zustellung zu erfolgen hat.

dd) Soweit die Herstellung von Kopien unproblematisch ist, ergeben sich für elektronische Daten auf einem physischen Datenträger keine Probleme für eine Zustellung und somit kein Grund für eine Ausnahme von der Regel. Soweit die physischen Daten nach der Bereinigung des Aktenbestands standardmässig aufbereitet werden, so wie die bereits zur Einsicht zugestellten physischen Akten, gibt es ebenfalls kein Problem. Damit bliebe als Problem nur derjenige Teil der Akten, der auch nach der Bereinigung aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht standardmässig, das heisst nicht ordnungsgemäss aufbereitet werden kann. Das führt zur Frage der Aufbereitung der Akten.

c) aa) Gemäss Art. 100 Abs. 2 StPO sorgt die Verfahrensleitung für die systematische Ablage der Akten und für deren fortlaufende Erfassung in einem Verzeichnis; in einfachen Fällen kann sie von einem Verzeichnis absehen. Das Dossier muss somit systematisch geordnet sein; zu einer geordneten Anlage gehört ein Verzeichnis, das einen raschen Überblick über den Inhalt des Dossiers ermöglicht und zur Kontrolle der vorhandenen Dokumente unerlässlich ist[36]. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung bildet eine nicht chronologisch aufdatierte systematische Erfassung und Paginierung der Aktenbestände für die Verteidigung und die befassten Behörden eine Erschwernis der Sachbearbeitung, welche die Beurteilung auf zureichender Tatsachenbasis gefährden kann. Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Strafprozessrechts, dass sämtliche im Rahmen des Verfahrens vorgenommenen Erhebungen (objektiv) aktenkundig gemacht werden[37]. Das heisst zugleich, dass Akten in einer geeigneten Weise zu erstellen sind, dass sich damit befasste Personen ohne weiteres (subjektiv) aktenkundig machen können. Nach der Botschaft soll das Verzeichnis einen raschen Überblick ermöglichen und der unerlässlichen Kontrolle dienen, insbesondere wenn die Akten zur Einsichtnahme ausgehändigt werden[38]. Das Bundesgericht erkannte auf formelle Rechtsverweigerung und hielt dafür, die Vorinstanz beachte die Rechtslage nicht, wenn sie den Antrag abweise, die Akten zu paginieren und ein Verzeichnis zu erstellen. Die Dossiers, gerade auch die Vollzugsakten, hätten transparent strukturiert und paginiert aufbereitet zu sein, so dass sie unmittelbar erschliessbar seien. Ein "Inhaltsverzeichnis" von fünf Bundesordnern und ein sogenannter "Journaleintrag" eines Ordners genügten den gesetzlichen Anforderungen an den Rechtsbegriff der "fortlaufenden Erfassung in einem Verzeichnis" nicht; nur in einfachen Fällen lasse sich von diesem Verzeichnis absehen[39]. Das Obergericht hielt in zwei Entscheiden fest, die Aufbereitung und Aufarbeitung der Akten sei kein Argument, um die Akteneinsicht hinauszuzögern[40]. Auch das bedeutet umgekehrt, dass eine ordnungsgemässe Aufbereitung der Akten erforderlich ist.

bb) Allerdings stellt sich die Frage, ob der zitierte strenge Entscheid des Bundesgerichts nicht auch in seltenen Ausnahmefällen beziehungsweise für besonders umfangreiche Akten durchbrochen werden kann. Es ist denkbar, dass beispielsweise für eine beschlagnahmte Buchhaltung oder für ein beschlagnahmtes Archiv Ausnahmen zugelassen werden können, insbesondere in Bezug auf die Vorgabe, alles zu paginieren. Allerdings braucht es auch in diesen Fällen eine gewisse Struktur, ebenso eine gewisse Ordnung und Bezeichnung, damit mit diesen Akten überhaupt gearbeitet werden kann. Die Staatsanwaltschaft wird deshalb nach Bereinigung der Akten, was nach dem Gesagten das Problem durchaus wesentlich entschärfen könnte, konkreter erklären müssen, welche Akten weshalb nicht aufbereitet und deshalb nicht zugestellt werden können, sondern bei ihr eingesehen werden müssen. Dabei wäre auch eine gestaffelte Zustellung möglich, indem die bereinigten Akten nach ihrer Aufarbeitung in Tranchen zugestellt werden.

6. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde zu schützen, und die Sache ist an die Staatsanwaltschaft zur Neubeurteilung zurückzuweisen.

Obergericht, 2. Abteilung, 23. Dezember 2020, SW.2020.87


[1] Ordner, Mäppchen, Schachteln, Unterlagen, je mit einer Kurzbezeichnung zum Inhalt, ein PC, vollständiger Dump von Fabasoft, Snapshots vom Amtslaufwerk Veterinäramt und von den persönlichen Laufwerken des Beschuldigten, Kopie der Mailbox des Beschuldigten; diese Liste befindet sich auch am Schluss des Aktenverzeichnisses (Beschlagnahmeverzeichnis).

[2] Wie Laufwerke, E-Mail-Konto etc.

[3] Schmutz, Basler Kommentar, 2.A., Art. 101 StPO N. 4; vor und nach der Hängigkeit des Strafverfahrens richtet sich die Akteneinsicht nach dem kantonalen oder eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsrecht.

[4] Schmutz, Art. 101 StPO N. 4

[5] Schmutz, Art. 101 StPO N. 8

[6] BGE vom 12. November 2012, 6B_719/2011, Erw. 4.5; TPF vom 2. Oktober 2013, SK.2013.34, Erw. 3; vgl. Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 12. September 2013, in: CAN 2014, Nr. 76 S. 234 ff.

[7] Schmutz, Art. 100 StPO N. 1

[8] Ausgenommen sind Einvernahmen mittels Videokonferenz gemäss Art. 76 Abs. 4 StPO.

[9] Zum Beispiel Art. 76 Abs. 4 und Art. 193 Abs. 4 StPO; Schmutz, Art. 100 StPO N. 3

[10] Man spricht etwa von Strafakten, Ermittlungsakten, Untersuchungsakten, Prozessakten, Verfahrensakten, Gerichtsakten, Hauptakten, Nebenakten, Beilageakten, Vorakten, beigezogenen Akten, sichergestellten beziehungsweise beschlagnahmten Akten, vorlaufenden Akten, Einlegerakten, Spurenakten, Fahndungsakten, Polizeiakten, Sekundärakten, Hilfsakten, Personalakten, Haftakten, Verhaftsakten, internen Akten, Handakten usw.

[11] Schmutz, Art. 100 StPO N. 2

[12] Schmutz, Art. 100 StPO N. 9

[13] Zum Beispiel ganze beschlagnahmte Buchhaltungen

[14] Gutachtensunterlagen, Aufzeichnungen von Telefonkontrollen etc.

[15] Schmutz, Art. 100 StPO N. 10

[16] Subjektiv sieht das unterschiedlich aus: Die Staatsanwaltschaft stuft die Bedeutung der Akten danach ein, wie stark sie ihrer Meinung nach ihre Tatvorwürfe damit beweisen kann; der Verteidigung geht es um die Bedeutung im Hinblick auf die Entkräftung der Vorwürfe; die Gerichte arbeiten nach der objektiven Bedeutung für die Entscheidfindung.

[17] Zum Beispiel Rückgabe an Gerichte, Behörden, Dritte oder Entsorgung beziehungsweise Vernichtung

[18] Zum Beispiel Rückgabe an XY am (…); vernichtet am (…); allenfalls (wenn man dies zulassen will) Übergabe an QZ am (…) oder Einlagerung im Archiv von ST am (…)

[19] Art. 267 Abs. 1 StPO; Bommer/Goldschmid, Basler Kommentar, 2.A., Art. 267 StPO N. 4

[20] Vgl. Schmutz, Art. 100 StPO N. 11

[21] Art. 100 StPO N. 13 f.

[22] Schmutz, Art. 100 StPO N. 14 und 15 ff., wo er Einzelfragen behandelt (polizeiliches Ermittlungsverfahren, polizeitaktische Dokumente etc.)

[23] Brüschweiler/Grünig, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 100 N. 1

[24] Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4.A., N. 1670

[25] Vgl. Erw. 4.b (Zwischenfazit)

[26] Gesuche um Akteneinsicht wären mit einer formellen Verfügung mit Rechtsmittelbelehrung abzulehnen.

[27] Die Staatsanwaltschaft macht dazu verschiedene Ausführungen, wonach die physischen Dokumente vollumfänglich gesichtet worden seien, während bei den elektronischen Dokumenten eine mehrtägige Schlagwortsuche durchgeführt worden sei. Es bleibt unklar, warum die Staatsanwaltschaft nach dieser Prüfung die nicht relevanten Akten nicht aussortiert und zurückgegeben hat.

[28] Dabei genügt die bisherige sinngemässe Begründung nicht, es sei ein Strafverfahren hängig und die Dokumente seien beschlagnahmt beziehungsweise blieben beschlagnahmt.

[29] Zum Beispiel Zustellung oder Einsicht bei der Staatsanwaltschaft, Aufbereitung der Akten

[30] Art. 102 Abs. 2 StPO

[31] Einsicht am Amtssitz

[32] Mit Verweis auf Schmutz, Art. 102 StPO N. 4

[33] Art. 102 Abs. 2 Satz 2 StPO

[34] Schmutz, Art. 102 StPO N. 4; Brüschweiler/Grünig, Art. 102 StPO N. 4

[35] BGE 120 IV 245

[36] BGE vom 30. Oktober 2019, 6B_1095/2019, Erw. 3.3.1 mit Verweis auf die Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 S. 1085 und 1161

[37] BGE 115 Ia 99

[38] BGE vom 30. Oktober 2019, 6B_1095/2019, Erw. 3.3.4 mit Verweis auf die Botschaft, S. 1085 und 1161

[39] Es ging um Akten mit einem Umfang von rund 16 kg, bestehend aus fünf Bundesordnern, einem gelben Ordner ("Verfahrensordner") und der "einfachen" vorinstanzlichen Gerichtsakte des Beschwerdeverfahrens. Das Bundesgericht umschrieb die Erfassung der Akten als chronologisch geordnet und kam zum Schluss, die Akten erschienen chronologisch geordnet. Sie seien nicht durchlaufend paginiert. Was tatsächlich in den Ordnern zu welchem Zeitpunkt abgelegt worden sei, ergebe sich einzig über das Sichten der einzelnen Aktenblätter. Die in dieser Weise zusammengestellten Akten liessen sich nur über eine "Durchforstung" der Dossiers erschliessen.

[40] Aufgrund des Umfangs der Akten und der Komplexität des Verfahrens ist verständlich, dass die Beschwerdegegnerin Zeit benötigt, um die Akten aufzuarbeiten. Allerdings ist auch festzuhalten, dass dem Beschwerdeführer grundsätzlich nach der Einvernahme die Akteneinsicht zu gewähren ist, auch wenn die Einvernahme keine weiteren Erkenntnisse bringen sollte. Eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts wäre danach unter Anwendung von Art. 108 StPO denkbar. Ebenso wenig ein taugliches Argument, die Akteneinsicht hinauszuzögern oder zu verweigern, wäre der Hinweis der Staatsanwaltschaft, die Akten müssten noch aufbereitet werden.

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