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RBOG 2021 Nr. 23

Amtliche Verteidigung beim Vorwurf der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung; Berücksichtigung besonderer Gesichtspunkte im Einzelfall


Art. 261 bis StGB, Art. 132 Abs. 1 StPO


1. a) Der Beschwerdeführer veröffentlichte auf seinem Twitter-Profil einen Tweet mit folgendem Inhalt:

"Wenn es erlaubt würde, dass das Kinderadoptionsrecht auch für Homosexuelle gelten würde, kann das Pädophilie fördern, wie es auch schon der Biologe Prof. Dr. U. Kutschera sagte.
Mit irgendwelcher Homophobie hat das nichts zu tun."

b) Der Beschwerdeführer wurde mit Strafbefehl der Diskriminierung und des Aufrufs zu Hass (aufgrund der sexuellen Orientierung) gemäss Art. 261bis Abs. 1 StGB schuldig gesprochen und zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen sowie zu einer Busse verurteilt. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Einsprache und beantragte die amtliche Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft wies das Gesuch des Beschwerdeführers ab, denn es lägen weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten vor, welche den Beizug einer Verteidigung als geboten erscheinen liessen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde.

2. a) Gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ordnet die Verfahrensleitung eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist, was namentlich der Fall ist, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person nicht gewachsen wäre[1]. Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist[2]. Mit dieser Regelung wird die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV für den Bereich des Strafprozessrechts umgesetzt[3]. Diese Rechtsprechung unterscheidet nach der Schwere der Strafdrohung drei Fallgruppen: Falls das infrage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition des Betroffenen eingreift, ist die Bestellung eines amtlichen Rechtsbeistands grundsätzlich geboten. Dies trifft namentlich dann zu, wenn dem Angeschuldigten eine Strafe droht, deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzugs ausschliesst. Falls kein besonders schwerer Eingriff in die Rechte des Gesuchstellers droht (relativ schwerer Fall), müssen besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller, auf sich allein gestellt, nicht gewachsen wäre. Das Bundesgericht hat einen relativ schweren Fall etwa bei einer Strafdrohung von drei Monaten Gefängnis unbedingt[4], bei einer "empfindlichen Strafe von jedenfalls mehreren Monaten Gefängnis"[5] oder bei der Einsprache gegen einen Strafbefehl von 40 Tagen Gefängnis bedingt angenommen[6]. Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe infrage kommt, verneint die Bundesgerichtspraxis einen verfassungsmässigen Anspruch auf einen amtlichen Rechtsbeistand[7].

Daraus, aber auch aus dem Wortlaut von Art. 132 Abs. 3 StPO ("jedenfalls dann nicht"), folgt, dass nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen ist, wenn die im Gesetz genannten Schwellenwerte nicht erreicht werden. Die Formulierung von Abs. 2 bringt durch die Verwendung des Worts "namentlich" zum Ausdruck, dass nicht ausgeschlossen ist, neben den beiden genannten Kriterien (kein Bagatellfall; tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre) weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Mithin ist eine Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalls notwendig, die sich einer strengen Schematisierung entzieht. Immerhin lässt sich festhalten, dass je schwerwiegender der Eingriff in die Interessen der betroffenen Person ist, desto geringer sind die Anforderungen an die erwähnten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten und umgekehrt[8].

b) aa) Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder zu Diskriminierung aufruft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft[9]. Der gleichen Strafandrohung unterliegt, wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung dieser Personen oder Personengruppen gerichtet sind[10]. Ebenso wird entsprechend sanktioniert, wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert[11].

bb) aaa) "Öffentlich" im Sinn der neueren Rechtsprechung sind mit Rücksicht auf das geschützte Rechtsgut der Menschenwürde Äusserungen und Verhaltensweisen, die nicht im privaten Rahmen erfolgen. Privat sind Äusserungen und Verhaltensweisen im Familien- und Freundeskreis oder sonst in einem durch persönliche Beziehungen oder besonderes Vertrauen geprägten Umfeld[12].

bbb) Unter dem Begriff "Hass" nach Art. 261bis Abs. 1 StGB ist eine fundamental feindliche Grundhaltung zu verstehen, die über blosse Ablehnung, Verachtung oder Antipathie hinausgeht[13]. Ob die feindselige Grundhaltung emotional oder intellektuell begründet ist, kann keine Rolle spielen[14]. Der Begriff des "Aufrufens" (zu Hass oder Diskriminierung) umfasst auch das "Aufreizen". Erfasst werden damit auch die allgemeine Hetze oder das Schüren von Emotionen, die auch ohne hinreichend expliziten Aufforderungscharakter Hass und Diskriminierung hervorrufen können[15]. Es ist mithin nicht erforderlich, dass der Täter explizit zu Hass oder Diskriminierung auffordert. Es genügt, wenn er durch seine Äusserungen eine Stimmung schafft, in welcher Hass oder Diskriminierung gedeihen[16].

ccc) Als "Herabsetzung oder Diskriminierung" im Sinn von Art. 261bis Abs. 4 StGB gelten alle Verhaltensweisen, durch welche den Angehörigen einer Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung die Gleichwertigkeit als menschliche Wesen oder die Gleichberechtigung in Bezug auf die Menschenrechte abgesprochen oder zumindest infrage gestellt wird[17]. Für die strafrechtliche Beurteilung einer Äusserung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts grundsätzlich der Sinn massgebend, den ihr der unbefangene durchschnittliche Dritte unter den gesamten konkreten Umständen beilegt. Eine Äusserung in der Öffentlichkeit erfüllt den Tatbestand von Art. 261bis Abs. 4 StGB, wenn sie von einem unbefangenen durchschnittlichen Dritten unter den gesamten konkreten Umständen in einem diskriminierenden Sinn verstanden wird, und der Beschuldigte eine Interpretation seiner Äusserung in diesem Sinn in Kauf genommen hat[18].

cc) Bei der Auslegung von Art. 261bis StGB ist der Freiheit der Meinungsäusserung[19] Rechnung zu tragen. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Äusserungen zu politischen Fragen und Problemen des öffentlichen Lebens ein besonderer Stellenwert zukommt. In einer Demokratie ist es von zentraler Bedeutung, dass auch Standpunkte vertreten werden können, die einer Mehrheit missfallen und für viele schockierend wirken. Kritik muss dabei in einer gewissen Breite und bisweilen auch in überspitzter Form zulässig sein. Der Meinungsäusserungsfreiheit darf zwar keine so weitreichende Bedeutung gegeben werden, dass das Anliegen der Bekämpfung der Rassendiskriminierung seiner Substanz beraubt würde. Umgekehrt muss es in einer Demokratie aber möglich sein, auch am Verhalten einzelner Bevölkerungsgruppen Kritik zu üben. Eine Herabsetzung oder Diskriminierung im Sinn von Art. 261bis Abs. 4 StGB ist daher in der politischen Auseinandersetzung nicht leichthin zu bejahen. Jedenfalls erfüllt den Tatbestand nicht bereits, wer über eine von dieser Norm geschützte Gruppe etwas Unvorteilhaftes äussert, solange die Kritik insgesamt sachlich bleibt und sich auf objektive Gründe stützt. Äusserungen im Rahmen der politischen Auseinandersetzung sind dabei nicht zu engherzig auszulegen, sondern immer in ihrem Gesamtzusammenhang zu würdigen[20].

In der Literatur ist strittig, ob ein Grundrechtskonflikt besteht[21]; gemäss der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts[22] ist eine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit möglich. Bei der Beurteilung der Wissenschaftlichkeit beziehungsweise der Pseudowissenschaftlichkeit einer Publikation ist die Motivation massgeblich[23]. Dasselbe muss gelten, wer sich auf eine solche Publikation beziehungsweise dessen Autor beruft.

3. a) Mit Blick auf die Schwere der Strafdrohung allein – im Strafbefehl wurde eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen sowie eine Busse festgesetzt – ist noch von einem Bagatellfall auszugehen, womit grundsätzlich die Bestellung einer amtlichen Verteidigung zur Wahrung der Interessen nicht als geboten erscheint. Allerdings stellte das Bundesgericht[24] klar, dass die amtliche Verteidigung nicht automatisch ausgeschlossen ist, wenn die im Gesetz genannten "Schwellenwerte"[25] unterschritten werden; vielmehr kann aufgrund des Ausdrucks "namentlich" in Art. 132 Abs. 2 StPO der Beizug eines amtlichen Verteidigers trotzdem geboten sein, wenn weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Ein solcher Gesichtspunkt kann ein neuer Straftatbestand sein, welcher die beschuldigte Person vor besondere rechtliche Schwierigkeiten oder Herausforderungen stellt.

b) aa) Der Beschwerdeführer sprach in seinem Tweet die Homosexualität an. Art. 261bis StGB wurde unlängst revidiert und um das hier massgebliche Angriffsobjekt "sexuelle Orientierung" erweitert[26]. Demzufolge geht es hier um die Anwendung einer neuen Tatbestandsvariante. Die Argumentation der Staatsanwaltschaft, wonach kein neuer Straftatbestand geschaffen wurde, trifft nur formal zu; mit Blick auf die "sexuelle Orientierung" wurde der bisherige Gesetzestext um einen Schutzbereich wesentlich ergänzt. Damit steht ausser Frage, dass sich für Rechtsanwender und Rechtsunterworfene (mitunter rechtlich schwierige) neue Fragen stellen, woraus sich wiederum das Potential zur Verteidigung oder für die Verteidigung merklich erweitert. Der Beschwerdeführer erwähnte die Meinungsäusserungs- und Religionsfreiheit, womit er sich auf Grundrechte berief. Gerade das Verhältnis zwischen dem Diskriminierungstatbestand von Art. 261bis StGB und der Meinungsäusserungsfreiheit wirft heikle Fragen auf, welche nicht ohne weiteres zu beantworten sind, insbesondere nicht von einem juristischen Laien. Insofern ergeben sich mit Blick auf die anwendbare junge Strafnorm erhebliche rechtliche Unwägbarkeiten. Ob es zur neuen Tatbestandsvariante (öffentlich einsehbare) Urteile gibt, ist nicht bekannt; doch selbst wenn dazu zwischenzeitlich vereinzelt Urteile kantonaler Instanzen ergangen wären, ändert dies nichts daran, dass (noch) keine höchstrichterliche Rechtsprechung besteht, welche Rechtssicherheit schafft.

bb) Konkret ist dem Strafbefehl unter anderem zu entnehmen: "[Der Beschwerdeführer] war sich dabei bewusst, dass sein Twitter-Profil öffentlich ist und folglich sein Tweet einer Vielzahl von Personen zur Kenntnis gebracht werden kann, was denn auch geschah. [Der Beschwerdeführer] war sich weiter bewusst, dass er mit diesem Tweet Homosexualität und Pädophilie verknüpft und beim Leser dieses Tweets der Eindruck entsteht, dass das Kinderadoptionsrecht von homosexuellen Menschen zur Pädophilie führt. [Der Beschwerdeführer] stellte mit diesem Tweet homosexuelle Menschen mithin als minderwertige Menschen dar. Er beabsichtigte mit dem Tweet, ein feindseliges Klima gegenüber Menschen mit homosexueller Orientierung zu schaffen oder zu verstärken und die Bevölkerung gegen ein Kinderadoptionsrecht von Menschen mit homosexueller Orientierung zu beeinflussen". Diese Begründung eröffnet der Verteidigung diverse Möglichkeiten zur Interessenwahrung. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang nur der Hinweis des Beschwerdeführers, dass im Tweet von "können" und nicht von "müssen" die Rede ist. Darin erblickte die Staatsanwaltschaft keine tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeit. Dem kann nicht gefolgt werden. Es ist nicht auszuschliessen, dass dieser Aspekt von der Verteidigung vertieft wird, zumal darin tatsächlich eine Relativierung zu erblicken ist.

c) Zusammenfassend bestehen im Fall hier besondere Gesichtspunkte, sodass trotz der vergleichsweise geringen Strafandrohung die Verteidigung zur Wahrung der Interessen des Beschwerdeführers geboten ist.

Obergericht, 2. Abteilung, 25. März 2021, SW.2021.26


[1] Art. 132 Abs. 2 StPO

[2] Art. 132 Abs. 3 StPO

[3] BGE 139 IV 119

[4] BGE 115 Ia 105 f.

[5] BGE 120 Ia 47

[6] BGE vom 4. März 2003, 1P.627/2002, Erw. 3.2 = Pra 2004 Nr. 1 S. 1

[7] BGE 143 I 174

[8] BGE 143 I 174 f.

[9] Art. 261bis Abs. 1 und 6 StGB

[10] Art. 261bis Abs. 2 StGB

[11] Art. 261bis Abs. 4 StGB

[12] BGE 133 IV 311 f.; BGE vom 9. Oktober 2018, 6B_620/2018, Erw. 3.1.1

[13] Niggli, Rassendiskriminierung, 2.A., N. 1051

[14] Niggli, N. 1053

[15] BGE 143 IV 199 und 208; BGE 123 IV 207

[16] BGE 143 IV 208

[17] BGE 143 IV 198 f.; BGE 140 IV 69; BGE 133 IV 311; BGE 131 IV 27

[18] BGE 140 IV 69; BGE 133 IV 312

[19] Art. 16 BV; Art. 10 EMRK; Art. 19 UNO-Pakt II

[20] BGE 131 IV 27 ff.; BGE vom 4. November 2015, 6B_627/2015, Erw. 2.5

[21] Vgl. Schleiminger/Mettler, Basler Kommentar, 4.A., Art. 261bis StGB N. 28; Trechsel/Vest, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar (Hrsg.: Trechsel/Pieth), 3.A., Art. 261bis N. 8

[22] Vgl. BGE 145 IV 33 ff.

[23] Schleiminger/Mettler, Art. 261bis StGB N. 31

[24] BGE vom 1. Dezember 2015, 1B_380/2015, Erw. 2.5

[25] Art. 132 Abs. 3 StPO: "Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist."

[26] Vgl. Fassung gemäss Ziff. I 1 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 2018 (Diskriminierung und Aufruf zu Hass aufgrund der sexuellen Orientierung), in Kraft seit 1. Juli 2020 (BBl 2018 S. 3773 ff. und 5231 ff.)

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