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RBOG 2021 Nr. 24

Folgen der Verlegung der Gewährung des rechtlichen Gehörs auf den Zeitpunkt nach der Erteilung des Gutachtensauftrags


Art. 184 Abs. 3 StPO


1. a) Der Beschwerdeführer war als Personenwagenlenker an einem Verkehrsunfall beteiligt. Die Staatsanwaltschaft eröffnete in der Folge gegen den Beschwerdeführer eine Strafuntersuchung und ernannte X zum sachverständigen Gutachter, schilderte den Tatvorwurf und stellte zwei konkrete Fragen zur Geschwindigkeit[1]. Die Erteilung des Gutachtensauftrags ging in Kopie an den Beschwerdeführer, unter Einräumung einer Frist, um zur sachverständigen Person Stellung zu nehmen und allfällige Ergänzungsfragen zu stellen.

b) Der Beschwerdeführer beantragte, der Gutachtensauftrag sei gemäss Art. 184 Abs. 5 StPO zu widerrufen und eine neue sachverständige Person vorzuschlagen. Unter anderem verlangte er, sich vorab zur Person des Gutachters, den Fragen und den zuzustellenden Akten äussern zu können. Eventualiter sei eine anfechtbare Verfügung zu erlassen. Die Staatsanwaltschaft teilte dem Beschwerdeführer mit, sie habe von seinem Schreiben Kenntnis genommen, ohne sich jedoch konkret und formell zu den gestellten Anträgen zu äussern.

c) Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde und beantragte die Aufhebung der Verfügung unter Wiederholung der bereits an die Staatsanwaltschaft gestellten Anträge.

2. Die Rügen des Beschwerdeführers betreffen offensichtlich den von der Staatsanwaltschaft erteilten Gutachtensauftrag. Zutreffend ist auch, dass dieser Gutachtensauftrag nicht innert der zehntägigen Beschwerdefrist bei der Beschwerdeinstanz angefochten wurde. Indessen übersieht die Vorinstanz den entscheidenden Punkt, nämlich den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör im Zusammenhang mit dem Sachverständigengutachten.

3. a) Im Zusammenhang mit Sachverständigengutachten beinhaltet das rechtliche Gehör insbesondere das Recht, Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens zu nehmen, sich dazu zu äussern und dem Experten ergänzende Fragen zu stellen. Das Gehörsrecht ist in der StPO explizit normiert. Gemäss Art. 184 Abs. 3 StPO gibt die Verfahrensleitung den Parteien vorgängig Gelegenheit, sich zur sachverständigen Person und zu den Fragen zu äussern und dazu eigene Anträge zu stellen. Die vorgängige Information macht insbesondere dort Sinn, wo gutachterliche Erkenntnisse stark von Wertungen abhängen, die mit der konkreten Person eng verbunden sind, wie dies beispielsweise bei psychiatrischen Gutachten der Fall ist[2]. Ziel der Gewährung des rechtlichen Gehörs ist vor allem, allfällige Ausstandsgründe zu erkennen und nach Möglichkeit Einigkeit bezüglich der Gutachterfragen zu erzielen. Allerdings werden Gutachter und Gutachterfragen letztlich von der Verfahrensleitung bestimmt und sind nicht von der Zustimmung der Parteien abhängig[3].

b) Aus dem Wortlaut von Art. 184 Abs. 3 StPO ergibt sich, dass sich die Parteien zu den Fragen der Verfahrensleitung äussern und dazu eigene Anträge stellen können. Erst durch diese Stellungnahmen werden allfällige weitere Fragen der Parteien bekannt, wobei die StPO nicht vorsieht, dass auch diese Fragen den anderen Parteien zur Stellungnahme zu unterbreiten sind. Die Ausdehnung von Art. 184 Abs. 3 StPO auf ein Anhörungsrecht jeder Partei zu den Fragen der anderen Parteien widerspräche auch dem Beschleunigungsgebot nach Art. 5 Abs. 1 StPO. Müsste routinemässig ein solches Anhörungsrecht gewährt werden, würde dies in vielen Fällen zu unnötigen Verzögerungen führen. Im Übrigen geht die in Art. 184 Abs. 3 StPO statuierte vorgängige Anhörung und die dadurch geschaffene Parteiöffentlichkeit bereits weiter, als aus dem übergeordneten Recht abgeleitet werden kann[4]. Schliesslich haben die Parteien die Möglichkeit, die Auftragserteilung der Staatsanwaltschaft an die sachverständige Person und mithin die darin enthaltenen, aufgrund der Stellungnahmen der Parteien allenfalls bereinigten und ergänzten Fragen mittels Beschwerde anzufechten. Damit können sich die Parteien hinreichend gegen ihrer Ansicht nach ungerechtfertigte Fragen zur Wehr setzen.

c) Das Gesetz weist die Verfahrensleitung ausdrücklich an, den Parteien vor der Ernennung der sachverständigen Person und der Erteilung des Gutachtensauftrags das rechtliche Gehör (zum Gutachter und zu den Fragen) einzuräumen[5]. Diese klare und einfach verständliche gesetzliche Vorgabe wird grundsätzlich missachtet, wenn dem Betroffenen das rechtliche Gehör erst nach Ernennung des Sachverständigen und nach Erteilung des Gutachtensauftrags eingeräumt wird, was jedoch vom Bundesgericht toleriert wird[6].

d) Folge der Verlegung der Gewährung des rechtlichen Gehörs auf den Zeitpunkt nach der Erteilung des Gutachtensauftrags ist allerdings, dass sich die Vorinstanz mit den Einwendungen, welche ein Betroffener innert der angesetzten Frist erhebt, selber auseinandersetzen muss. Sie kann die Parteien nicht auf den Beschwerdeweg verweisen. Indem die Vorinstanz in ihrem Schreiben an den Beschwerdeführer jedoch genau dies tat ("in Bezug auf die von Ihnen im Zusammenhang mit dem Gutachtensauftrag formulierten Tatvorwurf sowie den dem Gutachter zugestellten Akten gemachten Rügen verbleibt zu erwähnen, dass Ihnen diesbezüglich der allgemeine Beschwerdeweg im Sinn von Art. 393 StPO offen gestanden hätte"), verweigerte sie ihm das rechtliche Gehör. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt folglich nicht in der Verlegung des Zeitpunkts von dessen Gewährung, sondern in der Nichtbeantwortung der begründeten Anträge des Beschwerdeführers zum Gutachtensauftrag. Das hat daher zur Folge, dass auf die Beschwerde einzutreten ist, nachdem die Beschwerde innert zehn Tagen nach Zustellung des Schreibens erfolgte, mit welchem die Vorinstanz den Beschwerdeführer zu Unrecht auf den Beschwerdeweg verwies. Abgesehen davon sind Beschwerden wegen Rechtsverweigerung gemäss Art. 396 Abs. 2 StPO an keine Frist gebunden.

e) Im Weiteren führt eine Verletzung des Gehörsanspruchs wegen seiner formellen Natur ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selber in der Regel zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz[7]. Eine Heilung durch allfällige Stellungnahmen der Vorinstanz im Rahmen des Beschwerdeverfahrens kommt vorliegend schon deshalb nicht in Frage, weil die Vorinstanz das Äusserungs- und Antragsrecht des Beschwerdeführers auf den Zeitpunkt nach der Erteilung des Gutachtensauftrags verlegte und sich danach auf den Standpunkt stellte, nun läge es an der Beschwerdeinstanz, sich mit den Einwänden des Beschwerdeführers zu befassen. Das läuft letztlich auf eine Aufhebung des rechtlichen Gehörs im Verfahren vor der Vorinstanz hinaus.

f) Der angefochtene Entscheid ist daher wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör des Beschwerdeführers aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dabei wird die Vorinstanz über alle Anträge des Beschwerdeführers zu entscheiden haben, auch darüber, ob diesem Gelegenheit zu geben ist, sich vor Zustellung der Akten an die sachverständige Person zu diesen äussern zu können.

Obergericht, 2. Abteilung, 10. Juni 2021, SW.2021.36


[1] Sowie die zusätzliche übliche Frage nach weiteren sachdienlichen Bemerkungen.

[2] BGE 144 IV 71 f.

[3] Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3.A., Art. 184 N. 13; Heer, Basler Kommentar, 2.A., Art. 184 StPO N. 21 ff.

[4] Heer, Art. 184 StPO N. 21

[5] Ein Ausnahmefall gemäss Art. 184 Abs. 3 Satz 2 StPO (Laboruntersuchungen) liegt hier nicht vor.

[6] BGE 144 IV 73 f.; BGE vom 17. Mai 2016, 1B_196/2015, Erw. 2

[7] RBOG 2019 Nr. 12 Erw. 3.b

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