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RBOG 2021 Nr. 29

Legitimation der Staatsanwaltschaft zur Anfechtung des Beschlusses betreffend Rückweisung der Anklageschrift


Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG, Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO


1. Die Staatsanwaltschaft erhob beim Bezirksgericht Anklage gegen den Beschuldigten. Er und der Geschädigte stellten im weiteren Verfahrensverlauf verschiedene Beweisanträge; insbesondere beantragten sie die Befragung von diversen Personen. In der Folge wies das Bezirksgericht die Anklage zur Ergänzung beziehungsweise Durchführung einer Untersuchung an die Staatsanwaltschaft zurück. Dagegen erhob die Staatsanwaltschaft Beschwerde und beantragte, der angefochtene Beschluss sei aufzuheben, und es sei festzustellen, dass das Bezirksgericht die Beweisergänzungen selber vorzunehmen habe.

2. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Frage, ob das Bezirksgericht die Anklage an die Staatsanwaltschaft zurückweisen durfte, oder ob das Gericht die seiner Auffassung nach notwendigen Beweisergänzungen selber vorzunehmen hat. Die Staatsanwaltschaft macht zusammengefasst zum einen geltend, die Rückweisung sei nicht zulässig, weil die Verfahrensleitung bereits die Anklage geprüft habe und auf sie eingetreten sei. Zum andern wendet sie ein, die Zeugeneinvernahmen, wegen welcher die Rückweisung erfolge, habe das Gericht selber vorzunehmen.

3. a) Weil das Anfechtungsobjekt ein verfahrensleitender erstinstanzlicher Beschluss ist, stellt sich die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde.

b) Gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO ist die Beschwerde zulässig gegen die Verfügungen und Beschlüsse sowie die Verfahrenshandlungen der erstinstanzlichen Gerichte; ausgenommen sind verfahrensleitende Entscheide.

c) Die Staatsanwaltschaft macht geltend, entgegen dem Wortlaut des Gesetzes sei gemäss Lehre und Rechtsprechung die Beschwerde bei verfahrensleitenden Entscheiden zulässig, wenn sie erstens vor der Hauptverhandlung ergehen, es sich dabei zweitens nicht nur um den äusseren Verfahrensablauf betreffende Anordnungen handelt, und sie drittens einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinn der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken können. Die Staatsanwaltschaft verweist dazu auf "Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Auflage, Keller N. 27 zu Art. 393 StPO". Gemäss dem angefügten Kommentar sei die Beschwerde damit zulässig bei Rückweisung der Anklage in die Untersuchung zur Ergänzung der Beweise bei unvollständiger Beweiserhebung nach Prüfung der Anklage gemäss Art. 329 StPO. Dieser Fall liege hier vor[1].

d) Die Staatsanwaltschaft zitiert Keller zu den Voraussetzungen der Rückweisung[2] mit dem Präjudiz, die Beschwerde sei somit beispielsweise bei der Rückweisung der Anklage zulässig[3], korrekt. Es ist zu präzisieren, dass der nicht wiedergutzumachende Nachteil im Sinn der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG in Strafsachen nicht bloss tatsächlicher, sondern rechtlicher Natur sein muss und auch durch einen (für die rechtssuchende Partei günstigen) Endentscheid nachträglich nicht mehr behoben werden könnte[4]. Indessen vervollständigte Keller in der dritten Auflage des zitierten Kommentars sein Beispiel für die Zulässigkeit der Beschwerde bei der Rückweisung der Anklage, und zwar entscheidend: "Dies gilt nur gegenüber den Beschuldigten, evtl. den Strafklägern, nicht aber gegenüber der Staatsanwaltschaft, die durch die Rückweisung keinen nicht wiedergutzumachenden rechtlichen Nachteil erleidet"[5]. Dem ist beizupflichten, weil eine Rückweisung des Strafverfahrens zur weiteren Untersuchung gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung[6] für die Staatsanwaltschaft in der Regel keinen irreversiblen rechtlichen Nachteil im Sinn von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirkt; sie führt lediglich zu einer (dieses Kriterium nicht erfüllenden) Verzögerung des Verfahrens oder zu zusätzlichen Kosten[7].

e) Damit fehlt der Staatsanwaltschaft die Befugnis, den Entscheid des Bezirksgerichts über die Rückweisung der Anklage mit Beschwerde anzufechten. Auf die Beschwerde kann folglich nicht eingetreten werden.

f) aa) Im Übrigen gilt für die Anfechtung von verfahrensleitenden Entscheiden grundsätzlich, dass der Beschwerdeführer die Umstände, aus denen er den nicht wiedergutzumachenden rechtlichen Nachteil ableitet, selber darzutun hat. Das gilt im Beschwerdeverfahren nach der StPO gleich wie bei der Beschwerde an das Bundesgericht, und es gilt dies auch für die Staatsanwaltschaft[8].

bb) Die Staatsanwaltschaft erklärt nicht, inwiefern sie durch den angefochtenen Rückweisungsentscheid einen nicht wiedergutzumachenden rechtlichen Nachteil erleidet. Auf die Beschwerde könnte auch deswegen nicht eingetreten werden.

Obergericht, 2. Abteilung, 10. Juni 2021, SW.2021.37


[1] Mit dem zusätzlichen Verweis: "siehe ebenso: BSK StPO Guidon, N. 12/13 zu Art. 393 StPO; Schmid/Jositsch Praxiskommentar, N. 12 und 13 zu Art. 393 StPO"

[2] Keller, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 393 N. 27

[3] Keller, Art. 393 StPO N. 28

[4] BGE 141 IV 287; BGE vom 21. August 2017, 1B_171/2017, Erw. 2.4; vgl. Guidon, Basler Kommentar, 2.A., Art. 393 StPO N. 13

[5] Keller, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 393 N. 28

[6] BGE vom 21. August 2017, 1B_171/2017, Erw. 2.4

[7] So auch Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4.A., N. 1876

[8] Keller, 3.A., Art. 393 StPO N. 27

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