Skip to main content

RBOG 2021 Nr. 31

Verwirkung von Ansprüchen gestützt auf das Opferhilfegesetz


Art. 16 aOHG, Art. 25 Abs. 1 OHG, Art. 48 OHG


1. Der Berufungskläger stellte im Jahr 2013 beim Bezirksgericht ein Gesuch um Entschädigung respektive Genugtuung nach dem OHG[1]. Er machte geltend, dass er in den Sechziger- und zu Beginn der Siebzigerjahre im Internat des Klosters Fischingen mehrfach misshandelt worden sei. Erst im Jahr 2011 sei ihm bewusst geworden, dass diese Misshandlungen der Grund seien, weshalb es ihm so schlecht gehe. Das Bezirksgericht wies das Gesuch ab. Es ging davon aus, die geltend gemachten Ansprüche seien nach dem aOHG vom 4. Oktober 1991 (in Kraft seit 1. Januar 1993) zu beurteilen. Nach Art. 16 Abs. 3 aOHG müsse das Opfer innert zwei Jahren nach Kenntnis der Straftat ein Gesuch betreffend Opferhilfe einreichen. Diese Frist habe es nicht eingehalten. Dagegen erhob das Opfer Berufung.

2. a) Der vom Opfer gegenüber dem Staat geltend gemachte Entschädigungs- und Genugtuungsanspruch ist öffentlich-rechtlicher Natur. Im Opferhilfeverfahren gilt dementsprechend der Untersuchungsgrundsatz: Die angerufene Behörde ist verpflichtet, den Sachverhalt im Rahmen der vom Opfer gestellten Begehren von Amtes wegen abzuklären[2]. An die Substantiierung opferhilferechtlicher Gesuche sind keine strengen Anforderungen zu stellen. Das Opfer trifft keine Beweislast im zivilrechtlichen Sinn[3]. Bleibt sein Sachvortrag unklar, hat die Behörde unter Umständen von sich aus das Opfer zur Substantiierung aufzufordern[4]. Ebenfalls herabgesetzt ist das Beweismass. Es genügt, wenn das Opfer die anspruchsbegründenden Tatsachen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachweisen kann[5].

b) Der Untersuchungsgrundsatz enthebt das Opfer nicht von seiner Mitwirkungspflicht. Wer ein Gesuch um Opferhilfeleistungen stellt, muss diejenigen Tatsachen darlegen, die nur ihm bekannt sind oder von ihm mit wesentlich weniger Aufwand erhoben werden können als von einer Behörde. Insbesondere muss das Opfer den anspruchsbegründenden Sachverhalt mit hinreichender Bestimmtheit darlegen und der Behörde diejenigen Angaben liefern, die es ihr erlauben, weitere Erkundigungen einzuziehen[6]. Soweit es keine näheren Angaben zur behaupteten Straftat macht, obschon das zumutbar wäre, erkennt die Rechtsprechung auf eine Verletzung der Mitwirkungspflicht[7].

c) Das aOHG vom 4. Oktober 1991 trat am 1. Januar 1993 in Kraft[8]; mit der Gesetzesnovelle vom 23. März 2007, welche am 1. Januar 2009 Rechtsverbindlichkeit erlangte[9], wurde das OHG revidiert. Die dargelegten Grundsätze gelten indessen unabhängig davon, welches Recht konkret anwendbar ist. Sie sind für die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts von Bedeutung; von diesem wiederum hängt das anwendbare Recht ab.

3. a) Nach Art. 48 lit. a OHG gilt das bisherige Recht für Ansprüche auf Entschädigung oder Genugtuung für Straftaten, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (am 1. Januar 2009) verübt wurden. Das aOHG enthielt keine Bestimmung über den zeitlichen Anwendungsbereich; allerdings statuierte die dazu erlassene Verordnung des Bundesrats[10], dass die Bestimmungen des OHG in der Fassung vom 4. Oktober 1991 für Straftaten gelten, die nach Inkrafttreten des Erlasses, mithin nach dem 1. Januar 1993, begangen wurden[11]. Sowohl das aOHG als auch das revidierte Recht vom 23. März 2007 sehen eine Verwirkungsfrist für die Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung vor[12]. Nach Art. 16 Abs. 3 aOHG musste das Opfer das Gesuch innert zwei Jahren nach der Straftat einreichen. Mit der Revision des OHG wurde diese Frist verlängert: Gemäss Art. 25 Abs. 1 OHG beträgt sie nun fünf Jahre und beginnt mit der Straftat oder der Kenntnis der Straftat zu laufen. Es handelt sich um eine Verwirkungsfrist, die weder stillstehen, noch unterbrochen noch verlängert werden kann[13].

b) aa) Es stellt sich hier die Frage nach dem anwendbaren Recht, woraus sich wiederum die konkrete Verwirkungsfrist ergibt. Die Übergangsbestimmungen des OHG (dies gilt auch für das aOHG) knüpfen jeweils an eine Straftat an. Der strafrechtliche Erfolg tritt jedoch nicht unbedingt zeitgleich mit der Beeinträchtigung des Opfers ein. Bei Fahrlässigkeitsdelikten kann sich der Erfolg erst Jahrzehnte nach dem strafbaren Verhalten ereignen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist im Opferhilferecht eine "opferbezogene Perspektive" einzunehmen. Sowohl der zeitliche Anwendungsbereich des OHG als auch der Beginn der Verwirkungsfrist knüpfen demnach am Eintritt der Beeinträchtigung des Opfers an. Diese "opferbezogene Betrachtungsweise" ist das Ergebnis einer längeren Entwicklung der Rechtsprechung:

In BGE 123 II 241 erkannte das Bundesgericht, die Verwirkungsfrist nach Art. 16 Abs. 3 aOHG könne zu einem unerträglichen Rechtsverlust führen, wenn das Opfer nicht die Möglichkeit habe, seinen Anspruch durchzusetzen. Die Billigkeit gebiete es im vorliegenden Einzelfall, der Geschädigten die zweijährige Verwirkungsfrist nicht entgegenzuhalten, weil diese im ganzen Verfahren nie über ihre Rechte als Opfer informiert worden sei[14].

In BGE 126 II 348 befasste sich das Bundesgericht mit dem Beginn der Verwirkungsfrist nach Art. 16 Abs. 3 aOHG bei Straftaten, deren Schadensfolgen erst einige Zeit nach dem tatbestandsmässigen Verhalten eintreten beziehungsweise erkennbar werden. Dabei erwog das Bundesgericht, aus opferhilferechtlicher Sicht sei massgeblich, ob die Beeinträchtigung des Geschädigten in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität das legitime Bedürfnis begründe, die Hilfsangebote und Schutzrechte des OHG in Anspruch zu nehmen. Zur Frage, ob die Verwirkungsfrist auch bei solchen Delikten erst ab Eintritt des schädigenden Erfolges beginne, hielt es fest, im zu beurteilenden Fall habe die Beschwerdeführerin alles ihr nach Treu und Glauben Zumutbare unternommen, um ihre Opferrechte zu wahren. Das Bundesgericht kam zum Ergebnis, dass die am 31. Juli 1993 in Porto Seguro (Brasilien) vergewaltigte Geschädigte die Fristen des OHG gewahrt habe, indem sie am 19. Januar 1998, mithin rund fünf Monate nach einer AIDS-Diagnose, ein Opferhilfegesuch gestellt habe[15].

In BGE 134 II 308 hatte sich das Bundesgericht mit einem "Asbestopfer" zu befassen. Das Bundesgericht erwog, anders als im Strafrecht ergebe sich aus dem Regelungszweck und der gesetzlichen Umschreibung des Geltungsbereichs des OHG ein "opferbezogener Ansatz". Das Vorliegen aller objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale eines Delikts bilde Anknüpfungspunkt für die Gewährung von Opferhilfe. Die Straftat stelle den anspruchsbegründenden Sachverhalt dar. Entscheidend für die Anwendung des Opferhilferechts sei indessen, ob die Beeinträchtigung des Geschädigten in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität das legitime Bedürfnis begründe, die Hilfsangebote und Schutzrechte des Opferhilferechts in Anspruch zu nehmen. Aus dieser opferbezogenen Sichtweise heraus habe das Bundesgericht entschieden, dass ein Opfer die massgebende Schädigung beziehungsweise Verletzung erkennen können müsse, bevor es sich auf das Vorliegen einer Straftat im Sinn des OHG berufen könne. Diese Sichtweise habe auch Eingang in Art. 25 Abs. 1 des revidierten OHG gefunden, wonach ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung binnen fünf Jahren nach der Straftat oder "nach Kenntnis der Straftat" einzureichen sei, andernfalls die Ansprüche verwirkten. Der "opferbezogene Ansatz" beherrsche das gesamte Opferhilferecht; er sei massgebend sowohl für die Frage der Rechtzeitigkeit eines Gesuchs als auch für die Festlegung des zeitlichen Anwendungsbereichs des OHG. Mit dem OHG sollte den durch eine Straftat unmittelbar in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität beeinträchtigten Personen die gesetzlich vorgesehene Hilfe gewährleistet werden. Zur Erreichung dieses Ziels werde im Opferhilferecht in verschiedener Hinsicht von strafrechtlichen Grundsätzen abgewichen. So werde die Opferhilfe unabhängig davon gewährt, ob die Täterschaft ermittelt worden sei und ob sie sich schuldhaft verhalten habe. Gleichermassen könne es für die opferhilferechtliche Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung nicht darauf ankommen, ob der Strafanspruch des Staates nach strafrechtlichen Gesichtspunkten verjährt sei oder nicht[16].

In einem Entscheid vom 22. November 2019 bestätigte das Bundesgericht den "opferbezogenen Ansatz" und präzisierte, diese Rechtsprechung gelte auch für die Interpretation von Art. 48 OHG. Für den zeitlichen Anwendungsbereich des OHG sei somit entscheidend, wann - aus Opfersicht - die schädigende Beeinträchtigung eingetreten sei. Nicht relevant sei das tatbestandsmässige Verhalten des Täters und eine allfällige strafrechtliche Verjährung. Der "opferbezogene Ansatz" bringe es mit sich, dass die strafrechtliche Konkurrenzlehre dem Opfer entgegenhalten werden könne. Mache eine Person geltend, Opfer von Sexual- und Gewaltdelikten geworden zu sein, sei für jedes tangierte Rechtsgut zu prüfen, wann der anspruchsbegründende Sachverhalt (aus Opferperspektive) eingetreten sei[17].

bb) Der "opferbezogene Ansatz" zieht insbesondere bei Tätigkeitsdelikten die strafrechtlich relevante Vollendung des Delikts und den Eintritt des opferhilferechtlich relevanten Geschehens auseinander. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts haben die Behörden bei psychischen Spätfolgen, die von sexuellen Übergriffen herrühren, zu prüfen, wann diese Spätfolgen in vollem Ausmass aufgetreten sind. Davon hängt der zeitliche Anwendungsbereich des OHG (und der Beginn der Verwirkungsfrist) ab[18].

4. a) Die vorinstanzliche Auffassung, wonach bei Sexualdelikten der Tatbestand mit Vornahme der sexuellen Handlung vollendet sei und der Berufungskläger deshalb seit seiner Kindheit um die strafbaren Handlungen gewusst habe, widerspricht dem vom Bundesgericht in konstanter Rechtsprechung vertretenen "opferbezogenen Ansatz". Massgebend ist nicht, wann die allenfalls strafbaren Handlungen ausgeführt wurden, sondern vielmehr der Zeitpunkt, ab dem der Berufungskläger erkennen konnte (und musste), dass er an physischen und/oder psychischen Spätfolgen einer Straftat leidet, die einen opferhilferechtlichen Anspruch begründen könnten.

b) Dazu ist den Akten Folgendes zu entnehmen:

Im Rahmen seiner Eingabe an die Vorinstanz verwies der Berufungskläger auf seine Klageschrift an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau betreffend Verletzung von Aufsichtspflichten. Darin nahm er vorab auf ein Gutachten aus dem Jahr 1990 Bezug, wonach seine Arbeitsunfähigkeit (noch) 75% betrage; der Berufungskläger berichte von Problemen mit Kindheitserlebnissen, vor allem in der Beziehung zu seiner Mutter. Ferner ist der Klageschrift an das Verwaltungsgericht zu entnehmen, dass der Berufungskläger zwischen 1991 und 1995 verschiedene Ärzte konsultiert habe; neben einer reaktiven Depression seien eine schwere neurotische Verhaltensstörung sowie eine Instabilität der Wirbelsäule festgestellt worden. Überdies ergibt sich aus der Eingabe an das Verwaltungsgericht, dass dem Berufungskläger mit Verfügung der Invalidenversicherung vom April 1996 rückwirkend per Juli 1995 eine volle Rente zugesprochen worden sei. In einer im Jahr 1997 durchgeführten Rentenüberprüfung sei die Arbeitsfähigkeit schliesslich auf 33?% festgelegt worden. Ausserdem wurde in der Klageschrift festgehalten, dass der Berufungskläger 2001 eine "Antischmerzklinik" besucht habe. 2003 sei ihm sodann zwecks Bekämpfung der Schmerzen eine Morphium-Pumpe eingesetzt worden. Am 1. Sep­tem­ber 2005 hätten die Mediziner eine Chronifizierung der Leiden attestiert. Über die weitere Entwicklung in der Zeitspanne von 2005 bis zur erstmaligen Konsultation der "Opferschutzanwaltschaft X" (im Jahr 2010) ist der Eingabe an das Verwaltungsgericht indessen nichts zu entnehmen.

Gemäss klinisch-psychologischem Kurzbericht von Magister Y vom 7. November 2011 erstattete der Berufungskläger im Herbst 2010 eine detaillierte Anzeige bei der "Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft" in X. Allerdings liegt diese Anzeige nicht bei den Akten. Der Kurzbericht vom 7. November 2011 beinhaltet ergänzend zur Anzeige aus dem Jahr 2010 Übergriffe oder Entgleisungen, welche der Berufungskläger aus Scham nicht habe anzeigen können oder wollen[19]. Der Bericht schliesst mit der Bemerkung, aus klinisch-psychologischer Sicht könne ein Kausalzusammenhang zwischen den Ereignissen und den beschriebenen Folgen hergestellt werden.

Das von Dr.med. Z am 6. November 2012 verfasste psychiatrische Gutachten befasste sich in einem ersten respektive zweiten Teil mit dem "Anlass der Begutachtung" sowie der Anamnese. Dabei ist festzustellen, dass Unterlagen und Berichte aus den Jahren 1970, 1971 und 1972 verarbeitet wurden, danach die Dokumentation aber abbricht. Mit anderen Worten erscheint die Zeitspanne zwischen 1973 und 2009 im Rahmen der Aufarbeitung der Vorgeschichte nicht; vielmehr wird diese mit einer Einvernahme vom 12. Juli 2010 fortgesetzt. Demnach - so der Gutachter - seien beim Berufungskläger Erinnerungen an das Erlebte "erwacht", als im März 2010 in einem Kloster in C Missbrauchsfälle bekannt geworden seien. Zu einem früheren Zeitpunkt, ungefähr 2006, habe der Berufungskläger bereits einmal Hassgefühle gegenüber einem Pater empfunden. Der Experte kam mit Blick auf die psychiatrische Anamnese zum Schluss, beim Berufungskläger hätten sich seit ungefähr 2009 vermehrt Flashbacks bezüglich der Ereignisse aus der Kindheit eingestellt. Ausserdem sei es zu einer depressiven Verstimmung, Angstgefühlen, Schlaflosigkeit und Vermeidungsverhalten gekommen. Der Berufungskläger sei anlässlich eines "Clearing-Gesprächs" 2011 langsam bewusst geworden, dass sein "verpfuschtes Leben", seine Ängste, seine depressiven Phasen, sein sozialer Rückzug sowie seine körperlichen Probleme direkt mit dem Aufenthalt im Kloster Fischingen zusammenhingen. Vorher sei seine Einstellung zu seinen Problemen eine andere gewesen. Im letzten Teil der Expertise liess Dr.med. Z auf die Frage, inwieweit eine Traumatisierung das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen könne, festhalten, es entspreche klinischer Erfahrung, dass bei Traumaopfern eine Diagnose erst mit Verspätung gestellt werden könne. Die kausale Verknüpfung des Traumas mit den Beschwerden erfolge vielfach viel später im Rahmen einer Therapie. Hauptverantwortlich hiefür seien vermutlich verschiedene spezifische Abwehrmechanismen und "Coping-Stile"[20] sowie Gefühle wie Scham, Schuld und Ekel. Hier dürfte dem Berufungskläger der Kausalzusammenhang - so der Experte weiter - erstmals gegen Ende 2011 in seinen Anfängen bewusst geworden sein, wobei der Berufungskläger derzeit am Anfang des Bewusstseinsprozesses stehe.

c) aa) Somit sind den Akten bis 2010 keine Hinweise zu entnehmen, wonach der Berufungskläger sexuelle Übergriffe im Kindesalter behauptet hätte. Er führte zwar gegenüber dem Gutachter im Jahr 1990 und der IV-Eingliederungsstelle eine schwere Kindheit ins Feld, doch bezogen sich diese Ausführungen auf das Verhältnis zu seiner Mutter. Soweit ersichtlich berichtete er erstmals am 12. Juli 2010 gegenüber der Polizei detailliert von körperlichen Misshandlungen und sexuellen Übergriffen. Die Expertise von Dr.med. Z vom 6. November 2012 stufte die Zeitspanne zwischen 2009 und 2011 als eine "Phase des Erwachens" im Leben des Berufungsklägers ein; dem Berufungskläger sei das Geschehene im Jahr 2011, ausgelöst durch Vorkommnisse in C, allmählich bewusst geworden. In der Folge sei es dem Berufungskläger psychisch schlechter gegangen. Allerdings begründete der Experte diese zeitliche Verortung nicht näher[21].

bb) Somit besteht nach dem derzeitigen Aktenstand Grund zur Annahme, der Berufungskläger habe das zwischen 1962 und 1972 im Internat Erlebte erstmals am 12. Juli 2010 realisiert und als potenziell strafbares Verhalten einordnen können. Demzufolge erscheint nach dem derzeitigen Aktenstand der aus "opferbezogener Perspektive" anspruchsbegründende Tatbestand auch erst am 12. Juli 2010 als erfüllt, weil beimBerufungskläger erstmals zu diesem Zeitpunkt das legitime Bedürfnis entstand, die Hilfsangebote und Schutzrechte des Opferhilferechts in Anspruch zu nehmen[22]. Bei dieser Ausgangslage erscheint das am 1. Januar 2009 in Kraft getretene OHG als anwendbar, woraus eine Verwirkungsfrist von fünf Jahren resultierte[23], womit das Gesuch des Berufungsklägers vom 8. Januar 2013 rechtzeitig erfolgt wäre. Allerdings steht diese Einschätzung unter dem Vorbehalt weiterer Abklärungen, welche in dieser Streitsache als unabdingbar erscheinen.

5. a) Tatsächlich erscheint der Sachverhalt hier (noch) nicht in jeder Hinsicht als liquid. Klarzustellen ist jedoch vorab, dass der vorinstanzlichen Auffassung nicht zu folgen ist, wonach der Berufungskläger hätte beweisen müssen, dass er nicht bereits bei Inkrafttreten des aOHG von den Straftaten, deren Umständen und Schadensfolgen gewusst habe. So stellt sich die Frage, ob ein solcher (negativer) Beweis überhaupt zu erbringen ist. Ohnehin hätte die Vorinstanz aber in Nachachtung des Untersuchungsgrundsatzes[24], diesen Gesichtspunkt von Amtes wegen (weiter) abklären müssen. Indem die Vorinstanz jedoch dem Berufungskläger den Nachweis für den Eintritt des anspruchsbegründenden Sachverhalts überband, verletzte sie den Untersuchungsgrundsatz.

b) Es ist hier erstens unerlässlich, vom Berufungskläger eine präzise(re) Beschreibung der von ihm angeblich erlebten strafbaren Handlungen zu verlangen. Zu diesem Zweck ist der Polizeibericht vom 12. Juli 2010 beizuziehen; ausserdem drängt sich eine persönliche Befragung des Berufungsklägers auf. Nicht aktenkundig ist zweitens sein gegenwärtiger Gesundheitszustand. Das von ihm beigebrachte Gutachten datiert vom 6. November 2012, weshalb unklar ist, ob es überhaupt (noch) aussagekräftig ist. Ohne eine aktuelle Diagnose, mit entsprechender Beurteilung der Auswirkungen auf die Lebenssituation des Berufungsklägers, kann der Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung indessen nicht geprüft werden. Drittens ist der Kausalzusammenhang zwischen den geltend gemachten physischen und psychischen Leiden und dem Erlebten zu verifizieren. Das Gutachten vom 6. November 2012 bejahte zwar einen solchen Konnex, doch lagen dem Experten - dies ergibt sich aus der unvollständigen Anamnese - die IV-Akten des Berufungsklägers nicht vor, weshalb sich die Frage stellt, ob (und wenn ja inwiefern) das Ergebnis der Expertise durch diese Unterlagen relativiert wird. Insofern drängt sich der Beizug der IV-Akten auf. Viertens ist das nach derzeitigem Aktenstand auf 2009 bis 2011 datierte "Erwachen" oder "Bewusstwerden" in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht näher abzuklären. Sollte sich aufgrund der Abklärungen ergeben, dass es dem Berufungskläger bereits zu einem früheren Zeitpunkt zumutbar und möglich gewesen wäre, die opferhilferechtlichen Ansprüche geltend zu machen, wären das anwendbare Recht und die Verwirkung der Ansprüche erneut zu prüfen. Fünftens ist der Berufungskläger aufzufordern, von ihm bereits erhaltene Leistungen (der Sozialversicherung und von Dritten) offenzulegen, weil die Opferhilfe dem Grundsatz der Subsidiarität folgt[25]. Mit anderen Worten wird zu prüfen sein, ob und inwieweit drittseitig ausbezahlte Gelder auf allfällige Leistungen der Opferhilfe anzurechnen sind, mithin ob zeitliche und sachliche Kongruenz zu den geltend gemachten Ansprüchen besteht.

c) Die Vorinstanz befasste sich nicht mit diesen Punkten, weil sie von einem verwirkten Anspruch ausging. Der Sachverhalt erweist sich deshalb in wesentlichen Teilen als unvollständig. Im Berufungsverfahren kann bei dieser Ausgangslage kein reformatorischer Entscheid erfolgen[26], zumal der Berufungskläger dadurch eine Instanz verlieren würde, was mit Art. 6 EMRK nicht zu vereinbaren wäre[27]. Das angefochtene Urteil ist vielmehr aufzuheben, und die Streitsache ist im Sinn der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Obergericht, 1. Abteilung, 16. September 2020, SBR.2020.20


[1] Opferhilfegesetz, SR 312.5

[2] Gomm, in: Opferhilfegesetz (Hrsg.: Gomm/Zehntner), 3.A., Art. 29 N. 8; BGE vom 25. Februar 2005, 1A.157/2004, Erw. 4.3

[3] BGE 129 II 52; BGE 126 II 101

[4] BGE 129 II 52 (bezüglich Versorgerschadens)

[5] BGE 144 II 410

[6] BGE 126 II 101 f.; Gomm, Art. 29 OHG N. 9

[7] BGE vom 26. April 2001, 1A.318/2000, Erw. 2d

[8] Bundesratsbeschluss vom 18. November 1992, AS 1992 S. 2470

[9] Bundesratsbeschluss vom 27. Februar 2008, AS 2008 S. 1620

[10] Opferhilfeverordnung, aOHV, SR 312.51, in Kraft bis 31. De­zem­ber 2008

[11] Art. 12 Abs. 3 aOHV; vgl. BGE vom 9. Juli 2009, 1C_498/2008, Erw. 2

[12] Mit dem aOHG setzte der Bund den damals geltenden Art. 64ter BV um und schuf überdies die Voraussetzungen für die Ratifizierung des Europäischen Übereinkommens über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (SR 0.312.5). Nach Art. 6 dieses Übereinkommens können die Signatarstaaten den Entschädigungsanspruch von Opfern befristen.

[13] BGE 123 II 243; Gomm, Art. 25 OHG N. 3

[14] BGE 123 II 246 f.

[15] BGE 126 II 355 ff.

[16] BGE 134 II 313 f. und 316

[17] BGE vom 22. November 2019, 1C_269/2019, Erw. 2.1 und 2.4

[18] BGE vom 9. Juli 2009, 1C_498/2008, Erw. 6.2 f.; bestätigt mit BGE vom 22. November 2019, 1C_269/2019, Erw. 2.3

[19] Beispielsweise wurde der Umstand erwähnt, wonach den Schülern im Internat vorzugsweise dasjenige Essen vorgesetzt worden sei, welches sie am wenigsten gemocht hätten. Übergab sich der Schüler in der Folge, wurde er gezwungen, das Erbrochene aufzuessen.

[20] = Bewältigungsstrategien

[21] Insbesondere bleibt erklärungsbedürftig, weshalb der Berufungskläger auf der einen Seite am 12. Juli 2010 bei der Polizei über die Misshandlungen und Übergriffe berichten, auf der anderen Seite - gemäss Gutachten - aber erst rund ein Jahr später den Zusammenhang zwischen seiner aktuellen Situation und dem im Internat Erlebten herstellen konnte.

[22] So die Formulierung in BGE 134 II 314

[23] Art. 25 Abs. 1 OHG

[24] Art. 29 Abs. 2 OHG

[25] Art. 4 OHG

[26] Art. 409 Abs. 1 StPO; vgl. Hug/Scheidegger, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), 2.A., Art. 409 N. 7

[27] Eugster, Basler Kommentar, 2.A., Art. 409 StPO N. 1

JavaScript errors detected

Please note, these errors can depend on your browser setup.

If this problem persists, please contact our support.