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RBOG 2021 Nr. 32

Anforderungen an die Sorgfalt bei dringlichen Dienstfahrten; Vertrauensgrundsatz bei einem Überholmanöver an einer Verzweigung


Art. 32 Abs. 1 SVG, Art. 35 SVG, Art. 90 Abs. 1 SVG, Art. 100 Ziff. 4 SVG


1. Das Bezirksgericht sprach einen Polizisten der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln schuldig, weil er auf einer Dienstfahrt mit Blaulicht und Wechselhorn ausserorts bei einer signalisierten Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h mit 84,7 km/h ein anderes Fahrzeug links überholte. Dieses Fahrzeug bog gleichzeitig nach links in die Einmündung X ab, woraufhin es zur Kollision kam. Der Polizist beantragt im Berufungsverfahren einen Freispruch.

2. a) Nach Art. 90 Abs. 1 SVG wird mit Busse bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. Es handelt sich um eine Blankettstrafnorm, die auf andere Verhaltenspflichten verweist und deren Nichtbeachtung unter Strafe stellt[1]. Dabei sind sowohl die vorsätzliche als auch die fahrlässige Tatbegehung strafbar[2]. Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt. Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist[3]. Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise somit, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Für die Zurechenbarkeit des Erfolgs genügt die blosse Vorhersehbarkeit nicht. Erforderlich ist auch dessen Vermeidbarkeit. Der Erfolg ist vermeidbar, wenn er nach einem hypothetischen Kausalverlauf bei pflichtgemässem Verhalten des Täters ausgeblieben wäre[4]. Das Element der Vermeidbarkeit spielt insbesondere im Strassenverkehrsrecht eine Rolle: Nach Lehre und Rechtsprechung ist dem Fahrer eine Reaktionszeit von bis zu einer Sekunde ("Schrecksekunde") zuzubilligen; während dieser Zeitspanne kann ihm kein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden[5].

b) Nach Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets den Umständen anzupassen. Wo das Fahrzeug den Verkehr stören könnte, ist langsam zu fahren und nötigenfalls anzuhalten, namentlich vor unübersichtlichen Stellen, vor nicht frei überblickbaren Strassenverzweigungen sowie vor Bahnübergängen. Gemäss Art. 32 Abs. 2 SVG beschränkt der Bundesrat auf allen Strassen die zulässige Höchstgeschwindigkeit.

c) Will ein Verkehrsteilnehmer überholen, hat er die Regeln von Art. 35 SVG zu beachten. Überholen gehört - vorab auf Strassen mit Gegenverkehr - zu den gefährlichsten Fahrmanövern. Die Regeln über das Überholen bezwecken durchwegs, diese Fahrmanöver entweder zu verbieten, in Situationen, in denen sie üblicherweise übergrosse Gefahren bewirken, oder sie an eine Reihe von Anforderungen zu knüpfen, bei deren Beachtung die zusätzlichen Risiken minimiert werden. Überholen ist nur gestattet, wenn es nicht überhaupt verboten ist, der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert oder gefährdet wird[6].

d) Im Einzugsbereich von Strassenverzweigungen darf nach Art. 35 Abs. 4 SVG nur überholt werden, wenn die Situation übersichtlich ist und das Vortrittsrecht anderer nicht beeinträchtigt wird. Kann der Überholende die einmündenden Strassen nicht überblicken, darf er nicht überholen. Eine Ausnahme besteht gemäss Art. 11 Abs. 4 VRV[7] dort, wo er sich entweder auf einer Strasse mit Vortrittsrecht befindet oder der Verkehr durch Polizei oder Lichtsignale geregelt wird[8].

e) Der Überholende darf den Verkehrsvorgang nicht durchführen, wenn der zu Überholende die Absicht anzeigt, nach links abzubiegen, oder wenn dieser vor einem Fussgängerstreifen anhält, um Fussgängern das Überqueren der Strasse zu ermöglichen[9]. Dem Überholenden darf dieses Überholverbot aber nur entgegengehalten werden, wenn beweismässig erstellt ist, dass der Linksabbieger seinen Pflichten ganz oder jedenfalls so nachgekommen ist, dass die Absicht für den Nachfolgenden tatsächlich ersichtlich war. Die Zeichengebung und das Einspuren müssen rechtzeitig erfolgen. Der Überholende muss Zeit zum Reagieren gehabt haben, was nicht mehr der Fall ist, wenn das Abbiegemanöver bereits zweieinhalb Sekunden nach der Zeichengebung eingeleitet wird[10].

f) Nach dem Vertrauensgrundsatz darf auf ordnungsgemässes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vertrauen, wer sich selbst verkehrsgemäss verhält[11]. Der Vertrauensgrundsatz greift nicht, wenn Anzeichen für unrichtiges Verhalten eines Strassenbenützers vorliegen. Solche sind zu bejahen, wenn aufgrund des bisherigen Verhaltens damit gerechnet werden muss, ein Verkehrsteilnehmer werde sich in verkehrsgefährdender Weise regelwidrig verhalten. Auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage können Anzeichen für unrichtiges Verhalten abgeleitet werden, wenn nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts ihrer besonderen Gefahrenträchtigkeit risikoarmes Verhalten gefordert[12]. Der Vertrauensgrundsatz gilt auch für Überholmanöver[13].

g) Gemäss Art. 100 Ziff. 4 SVG ist der Führer eines Feuerwehr-, Sanitäts- oder Polizeifahrzeugs auf einer dringlichen Dienstfahrt wegen Missachtung der Verkehrsregeln und der besonderen Anordnungen für den Verkehr nicht strafbar, sofern er die erforderlichen Warnsignale gibt und alle Sorgfalt walten lässt, die nach den Verhältnissen erforderlich ist. Diese Bestimmung ist ein besonderer Rechtfertigungsgrund, der neben die anderen Rechtfertigungsgründe des StGB tritt[14]. Erste Voraussetzung ist eine tatbestandsmässige Verkehrsregelverletzung[15]. Weiter muss eine dringliche Dienstbarkeitsfahrt vorliegen, die es rechtfertigt, den besonderen Rechtfertigungsgrund anzuwenden[16]. Auch wenn es Art. 100 Ziff. 4 SVG nicht ausdrücklich erwähnt, muss das regelwidrige Verhalten zusätzlich verhältnismässig sein. Für unverhältnismässiges Verhalten gibt es keine Rechtfertigung. Schliesslich ist fallbezogen zu prüfen, ob die gebotene Sorgfalt eingehalten wurde[17]. Zur Konkretisierung dieses Sorgfaltsmasstabs kann auf Merkblätter des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation[18] zur Verwendung von Blaulicht und Wechselklanghorn und auf einschlägige Dienstbefehle zurückgegriffen werden[19].

3. Der Sachverhalt ist nur in Einzelpunkten umstritten. Aufgrund der beschränkten Kognition im Berufungsverfahren bei Übertretungen ist im Grundsatz von den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz auszugehen. Der Berufungskläger hatte das Fahrzeug nach den vorinstanzlichen Feststellungen auf ca. 84,7 km/h beschleunigt, als es zur Kollision kam. Gemäss dem Datenmaterial im Anhang zum unfallanalytischen Gutachten wurde eine Maximalgeschwindigkeit von 85,8 km/h gemessen. Die signalisierte Höchstgeschwindigkeit betrug 70 km/h. Somit überschritt der Berufungskläger die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Grund dafür war eine Meldung über einen Arbeitsunfall mit schwerverletzten Personen. Die Vorinstanz nahm an, dieser Funkspruch habe eine Dringlichkeitsfahrt nach Art. 100 Ziff. 4 SVG gerechtfertigt. Ihre diesbezügliche Beurteilung ist nicht zu beanstanden: Nach Dienstvorschrift 1.2.3.2 der Kantonspolizei Thurgau ist eine Dienstfahrt insbesondere dringlich, wenn Menschen an Leib und Leben bedroht sind und der Einsatzort rasch erreicht werden muss. Das Merkblatt zur Verwendung von Blaulicht und Wechselklanghorn des UVEK umschreibt die Voraussetzungen für eine Dringlichkeitsfahrt ähnlich. Vorliegend waren gemäss dem Funkspruch Menschen an Leib und Leben bedroht. Auch die weiteren Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrunds nach Art. 100 Ziff. 4 SVG waren in Bezug auf die Geschwindigkeitsübertretung erfüllt: Die Übertretung der signalisierten Geschwindigkeit um rund 15 km/h war verhältnismässig; die Verkehrssituation war übersichtlich und liess die Geschwindigkeitsübertretung zu. Demnach ist der Berufungskläger nicht strafbar für den Verstoss gegen die Höchstgeschwindigkeit.

4. a) Zu beurteilen ist im Weiteren, ob sich der Berufungskläger durch das Überholmanöver bei der Verzweigung X strafbar gemacht hat.

b) Die Hauptstrasse, auf der das Überholmanöver stattfand, verläuft im relevanten Bereich auf mehreren 100 m gerade, ist richtungsgetrennt und voll ausgebaut bei einer Breite von ca. 8,8 m. Die Vorinstanz wirft dem Berufungskläger vor, sich angesichts einer unklaren Verkehrssituation fälschlicherweise für das Überholmanöver entschieden zu haben. Sie stützt diesen Vorwurf unter anderem auf die örtlichen Verhältnisse. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz sind allerdings in einzelnen Punkten zu korrigieren. Wie der Berufungskläger zu Recht vorbringt, ist die Annahme, ein bei der Ausfahrt X stehendes Fahrzeug habe kein freies Sichtfeld auf die Hauptstrasse, aktenwidrig. Das sich bei der Verzweigung befindliche Gebäude ist von der Hauptstrasse rückversetzt um einen Grünstreifen und einen Gehweg. Ein Fahrzeug, das an der Kreuzung anhält, hat freie Sicht nach links und nach rechts. Zutreffend ist zudem der Hinweis des Berufungsklägers, diese Ausfahrt sei nicht vortrittsberechtigt. Dasselbe gilt für den Autobahnzubringer, der rund 126 m weiter in Fahrtrichtung auf die Hauptstrasse führt.

c) Die Vorinstanz erwägt an sich nachvollziehbar, die Einmündung X und der später folgende Autobahnzubringer seien potenzielle Gefahrenquellen. Unter den Voraussetzungen von Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG darf indessen auch im Einzugsbereich von Kreuzungen überholt werden. Die Fahrbahn ist mit einer Breite von 8,8 m geeignet für ein Überholen[20]. Sie war im Zeitpunkt des strittigen Manövers trocken, frei und übersichtlich. Der Raum für das Überholmanöver betrug mehrere 100 m. Gemäss den Aussagen des Beifahrers des Berufungsklägers, auf die sich die Vorinstanz stützte, hatte das andere, linksabbiegende Fahrzeug einen Abstand von ca. 200 bis 300 m zum Polizeifahrzeug, als dessen Abbremsen erkennbar wurde. Vom Kollisionspunkt aus bis zur Einmündung der Autobahn waren es weitere 126 m. Für das Überholen bestand demnach genügend Raum. Somit waren die anlagetechnischen Voraussetzungen für das strittige Manöver gegeben.

d) Der Berufungskläger durfte sich darauf verlassen, dass Personen, die in die Hauptstrasse einmünden, seinen Vortritt respektieren[21]. Diesen Vortritt hatte der Berufungskläger unabhängig von Blaulicht und Wechselhorn. Selbst wenn die Einmündungen nicht einsehbar gewesen sein sollten, wie die Vorinstanz anzunehmen scheint, hätte der Berufungskläger nach Art. 11 Abs. 4 VRV als vortrittsberechtigter Verkehrsteilnehmer überholen dürfen. Ein Überholverbot nach Art. 35 Abs. 4 SVG (Überholen vor/auf Kreuzungen) bestand somit nicht.

e) Fraglich ist, ob die überhöhte Geschwindigkeit des Polizeifahrzeugs zu einer anderen Beurteilung führt. Eine regelkonform durchgeführte Dringlichkeitsfahrt schliesst die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz jedenfalls nicht aus, wenn die Geschwindigkeit des Polizeifahrzeugs den gesamten Umständen angepasst war[22]. Ein den Umständen nicht mehr angepasstes Tempo verringert die Reaktionszeit der anderen Verkehrsteilnehmer übermässig, weshalb von einer unsicheren Situation im Sinn der Rechtsprechung zum Vertrauensgrundsatz auszugehen wäre. Im zu beurteilenden Fall fuhr der Berufungskläger während der Dringlichkeitsfahrt maximal 15 km/h zu schnell. Unter Berücksichtigung der gesamten (übersichtlichen) Verkehrssituation kann nicht gesagt werden, das Tempo sei den Umständen nicht angepasst gewesen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die Verpflichtung von Dritten, dem mit Wechselhorn und Blaulicht fahrenden Fahrzeug den Vortritt zu gewähren[23]. Dank Wechselhorn und Blaulicht sind Polizeifahrzeuge auf einer Dringlichkeitsfahrt leichter wahrzunehmen. Die Geschwindigkeitsübertretung ändert aus diesen Gründen nichts an der Geltung des Vertrauensgrundsatzes.

f) Gemäss den Feststellungen der Vorinstanz befand sich das linksabbiegende Fahrzeug in der Mitte seiner (rechten) Fahrspur; das Fahrzeug hatte somit keine erkennbare Kurskorrektur vorgenommen. Weiter ging die Vorinstanz davon aus, der linksabbiegende Fahrer habe zunächst den Blinker nicht betätigt. Einzig die Geschwindigkeitsreduktion (auf ca. 10 bis 15 km/h) habe auf ein bevorstehendes Manöver hingedeutet. Allerdings war für den heranfahrenden Berufungskläger offenbar nicht erkennbar, weshalb das vor ihm fahrende Auto die Fahrt verlangsamte. Berücksichtigt man, dass der Berufungskläger Blaulicht und Wechselhorn aktiviert hatte, könnte das Abbremsen auch als Reaktion auf die Dringlichkeitsfahrt interpretiert werden. In dem Zeitpunkt, als der Berufungskläger zum Überholmanöver ansetzte, hatte er keine konkreten Hinweise auf eine Richtungsänderung des vor ihm fahrenden Fahrzeugs. Dies wäre die erste Voraussetzung dafür, dass dem Berufungskläger das Überholverbot nach Art. 35 Abs. 5 SVG entgegenhalten werden könnte. Die zweite Voraussetzung betrifft den Zeitfaktor: Wer links abbiegen will, muss dies frühzeitig signalisieren. Andernfalls macht sich der Überholende nicht strafbar. Den vorinstanzlichen Feststellungen folgend betätigte der linksabbiegende Fahrer den Blinker erst nach dem Zeitpunkt, in dem der Berufungskläger das Überholmanöver begonnen hatte. Für diesen verblieb demnach eine Strecke von ca. 37,5 m bis zum Kollisionspunkt (bei 84,7 km/h). Die verbleibende Reaktionszeit des Berufungsklägers lag offensichtlich unter dem Schwellenwert von zweieinhalb Sekunden. Demnach zeigte der linksabbiegende Fahrer nicht deutlich und rechtzeitig den Spurenwechsel an, weshalb kein Überholverbot nach Art. 35 Abs. 5 SVG bestand.

g) Da die Zeichensetzung des linksabbiegenden Fahrzeugs nicht deutlich und rechtzeitig stattfand, stellt sich weiter die Frage, ob der "Erfolg" vermeidbar gewesen wäre. Dem Berufungskläger müsste somit für eine Verurteilung nachgewiesen werden, dass ein von ihm rechtzeitig eingeleitetes Bremsmanöver den Zusammenstoss hätte verhindern können. Das unfallanalytische Gutachten äussert sich zwar zur Vermeidbarkeit des Unfalls, dies jedoch unter der Prämisse einer Fahrt mit 70 km/h. Wäre das Polizeifahrzeug mit der signalisierten Höchstgeschwindigkeit unterwegs gewesen, wäre die Kollision räumlich und zeitlich vermeidbar gewesen. Da die Übertretung der Höchstgeschwindigkeit aber - auch nach Ansicht der Vorinstanz - durch die Dringlichkeitsfahrt gerechtfertigt war, kann dem Berufungskläger seine Geschwindigkeit nicht entgegengehalten werden. Im strafrechtlichen Sinn vermeidbar wäre die Kollision nur gewesen, wenn der Berufungskläger in dem Zeitpunkt, in dem er die Richtungsänderung des anderen Fahrzeugs erkennen konnte, mit der effektiv gefahrenen Geschwindigkeit den Unfall hätte vermeiden können. Gemäss den ausgewerteten Fahrdaten des Polizeifahrzeugs fuhr der Berufungskläger beim Reaktionspunkt (ca. 37,5 m vor der Unfallstelle) 84,7 km/h. Nach der Rechtsprechung wäre ihm eine Reaktionszeit von bis zu einer Sekunde zuzubilligen[24]. Eine Vermeidbarkeit der Kollision ist somit nicht erstellt.

h) Folglich ist festzuhalten, dass der Berufungskläger auf einer vortrittsberechtigten Hauptstrasse unterwegs war und er, trotz Geschwindigkeitsübertretung, davon ausgehen durfte, noch nicht in die Strasse eingemündete Verkehrsteilnehmer würden seinen Vortritt respektieren. Das einzige Fahrzeug auf der Hauptstrasse zeigte zunächst keine Richtungsänderung an. Für den Berufungskläger bestand weder ein anlagebedingtes Überholverbot (im Sinn von Art. 35 Abs. 4 SVG) noch ein sich aus dem Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer ergebendes Überholverbot (im Sinn von Art. 35 Abs. 5 SVG). Das Überholmanöver war folglich erlaubt. Für den Berufungskläger war der Erfolg zudem nicht vermeidbar. Er hat sich demnach nicht strafbar gemacht, als er das Überholmanöver begann. Bei dieser Ausgangslage ist daher nicht zu prüfen, ob in Bezug auf das Überholen der Rechtfertigungsgrund von Art. 100 Ziff. 4 SVG greift. Zudem kann dem Berufungskläger auch nicht vorgeworfen werden, er hätte rechts überholen müssen, nachdem sich das linksabbiegende Fahrzeug in der Mitte der eigenen Fahrspur befand. Die Berufung ist demnach begründet und der Berufungskläger ist vom Vorwurf der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln freizusprechen.

Obergericht, 1. Abteilung, 26. August 2021, SBR.2021.42


[1] Fiolka, Basler Kommentar, Basel 2014, Art. 90 SVG N. 5; Weissenberger, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2.A., Art. 90 SVG N. 2

[2] Art. 100 Ziff. 1 SVG; Fiolka, Art. 90 SVG N. 30

[3] Art. 12 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 StGB

[4] BGE 135 IV 64 f.; Niggli/Maeder, Basler Kommentar, 4.A., Art. 12 StGB N. 88 ff.

[5] BGE 115 II 285; BGE 93 IV 62; Heierli, Die Bedeutung des Vertrauensprinzips im Strassenverkehr und für das Fahrlässigkeitsdelikt, Diss. Zürich 1996, S. 66

[6] BGE 129 IV 158; vgl. Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG

[7] Verkehrsregelnverordnung, SR 741.11

[8] Maeder, Basler Kommentar, Basel 2014, Art. 35 SVG N. 71

[9] Art. 35 Abs. 5 SVG

[10] Weissenberger, Art. 35 SVG N. 41; vgl. Maeder, Art. 35 SVG N. 76 (Erfordernis der klaren und rechtzeitigen Erkennbarkeit des Abbiegens)

[11] BGE 129 IV 285

[12] BGE 125 IV 87 f.

[13] Maeder, Art. 35 SVG N. 55

[14] Keshelava/Dangubic, Basler Kommentar, Basel 2014, Art. 100 SVG N. 38; Dähler/Ruhe, in: Handbuch Strassenverkehrsrecht (Hrsg.: Dähler/Schaffhauser), Basel 2018, § 3 N. 26 f.

[15] Keshelava/Dangubic, Art. 100 SVG N. 40

[16] Weissenberger, Art. 100 SVG N. 25

[17] Keshelava/Dangubic, Art. 100 SVG N. 55 ff.; Weissenberger, Art. 100 SVG N. 25

[18] UVEK

[19] BGE vom 25. September 2014, 6B_1006/2013, Erw. 3.4

[20] Vgl. Weissenberger, Art. 35 SVG N. 18

[21] Der Vertrauensgrundsatz gilt auch für Überholmanöver.

[22] Vgl. BGE vom 15. Januar 2009, 6B_892/2009, Erw. 3.2

[23] Art. 16 Abs. 1 VRV

[24] Das unfallanalytische Gutachten geht von einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden aus.

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