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RBOG 2021 Nr. 8

Gerichtliche Fragepflicht


Art. 56 ZPO


1. a) Der Beschwerdeführer erhob beim Bezirksgericht Klage unter anderem auf Zahlung von Fr. 25'000.00. Das Bezirksgericht bestätigte den Eingang der Klage und verlangte einen Gerichtskostenvorschuss. Der Beschwerdeführer wurde darauf hingewiesen, dass die von ihm eingereichte Klage die Voraussetzungen an die gesetzlichen Vorgaben nicht in allen Punkten erfülle. Das Gericht eröffnete ihm eine Frist, um justiziable Rechtsbegehren zu stellen, den Streitgegenstand zu bezeichnen sowie die verfügbaren Urkunden, welche als Beweismittel dienen sollen, einzureichen. Er habe seine verbesserte Klage und sämtliche Beilagen in je einem Exemplar für das Gericht und einem Exemplar für die beklagte Partei einzureichen. Die Eingabe gelte als nicht erfolgt, sollte er sie nicht innert der gerichtlichen Nachfrist verbessert einreichen[1].

b) Der Beschwerdeführer legte dem Bezirksgericht dar, er lebe auf dem Existenzminimum und könne daher den geforderten Kostenvorschuss nicht bezahlen. Seine geschiedene Ehefrau habe ihm Fr. 25'000.00 "entwendet" und nicht "da angelegt, wie wir abgemacht haben. Dieses Geld sollte bei der Bank X angelegt werden, sie hat es aber bei der Y angelegt".

c) Das Bezirksgericht forderte den Beschwerdeführer daraufhin auf, Auskunft über seine finanziellen Verhältnisse zu erteilen und entsprechende Unterlage einzureichen. Ferner wies es ihn darauf hin, dass die eröffnete Frist zur Verbesserung der Klage immer noch gelte. Innert Frist legte der Beschwerdeführer seine finanziellen Verhältnisse dar, zur Sache äusserte er sich nicht mehr. Das Bezirksgericht wies das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wegen Aussichtslosigkeit ab. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde.

2. a) aa) Gemäss Art. 117 ZPO hat eine Person Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Die gesuchstellende Person hat ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse darzulegen und sich zur Sache sowie über ihre Beweismittel zu äussern. Sie kann die Person der gewünschten Rechtsbeiständin oder des gewünschten Rechtsbeistands im Gesuch bezeichnen[2]. Das Gericht entscheidet über das Gesuch im summarischen Verfahren. Die Gegenpartei kann angehört werden. Sie ist immer anzuhören, wenn die unentgeltliche Rechtspflege die Leistung der Sicherheit für die Parteientschädigung umfassen soll[3].

bb) Aussichtslos sind Rechtsbegehren, deren Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet. Ob im Einzelfall genügend Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich aufgrund einer vorläufigen und summarischen Prüfung der Prozessaussichten, wobei die Verhältnisse im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs massgebend sind[4]. Zu eng wird die Aussichtslosigkeit verstanden, wenn verlangt wird, dass bereits auf Anhieb und ohne Beweisverfahren erkennbar sein muss, dass eine Partei mit ihrem Standpunkt scheitern wird. Unzulässig ist es, die Aussichtslosigkeit erst nach einem späteren Beweisverfahren zu beurteilen[5].

cc) Ob ein Begehren als aussichtslos "erscheint", ist aufgrund einer summarischen Prüfung zu beurteilen. Der summarische Charakter der Prüfung ergibt sich schon daraus, dass sie grundsätzlich zu Prozessbeginn erfolgt. Je schwieriger und je umstrittener die sich stellenden Fragen sind, umso eher ist von genügenden Gewinnaussichten auszugehen. Sind umfangreiche Abklärungen nötig, spricht dies gegen die Aussichtslosigkeit des Begehrens. Insbesondere darf bei heiklen Rechtsfragen nicht zu Ungunsten des Gesuchstellers Aussichtslosigkeit angenommen werden. Sie sind vielmehr dem Sachrichter zur Beurteilung zu überlassen. Der Entscheid über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (und dabei insbesondere über die Voraussetzung der fehlenden Aussichtslosigkeit) muss zwar mit einer gewissen Genauigkeit erfolgen, darf aber gerade nicht dazu führen, dass der Hauptprozess vorverlagert wird[6].

dd) Dem Gericht ist das tatsächliche und rechtliche Klagefundament, soweit nach dem Verfahrensstand möglich und zumutbar, vollständig darzulegen[7]. Insofern gilt im Verfahren betreffend die unentgeltliche Rechtspflege ein durch die Mitwirkungspflicht eingeschränkter Untersuchungsgrundsatz. Das Gericht hat den Sachverhalt aber immerhin dort weiter abzuklären, wo Unsicherheiten und Unklarheiten bestehen, und es hat allenfalls unbeholfene Rechtsuchende auf die Angaben hinzuweisen, die es zur Beurteilung des Gesuchs benötigt[8]. Zu beachten ist überdies die richterliche Fragepflicht[9], die auch im Verfahren betreffend unentgeltliche Rechtspflege gilt[10]. Bei anwaltlich vertretenen Parteien ist das Gericht indessen nicht verpflichtet, eine Nachfrist anzusetzen, um ein unvollständiges oder unklares Gesuch zu verbessern[11].

b) Der Beschwerdeführer machte vor Vorinstanz sinngemäss geltend, seine vormalige Ehefrau schulde ihm einen Betrag. Sie habe diesen Betrag für ihn falsch angelegt: Die Parteien hätten vereinbart, das Geld bei der Bank X einzuzahlen, stattdessen habe seine damalige Ehefrau das Geld investiert ("bei Y"). Den eingereichten Akten lag eine Belastungsanzeige der Bank X bei. Das entsprechende Konto lautete auf den Beschwerdeführer. Der Belastungsanzeige folgend wurden Überweisungen getätigt, darunter eine Zahlung mit dem Betreff "Y". Diese Belastungsanzeige ist das einzige Dokument, das in einem erkennbaren Zusammenhang mit der Klage des Beschwerdeführers steht. Mit ihr ist glaubhaft gemacht, dass die vom Beschwerdeführer erwähnte Zahlung an die Y in der von ihm geltend gemachten Höhe erfolgte. Wenn die Vorinstanz aus der Belastungsanzeige folgert, der Geldbetrag befinde sich noch auf dem Konto des Beschwerdeführers, verkennt sie die Tragweite der Belastungsanzeige.

c) aa) Der Beschwerdeführer ist nicht anwaltlich vertreten und unbeholfen, was sich aus seinen (handschriftlichen) Eingaben ohne weiteres ergibt. Sein Sachvortrag lässt zahlreiche Fragen offen. Unklar ist etwa, ob der Beschwerdeführer einen Schaden im Rechtssinn erlitt oder ob die Zahlung an die Y zu einem Gegenwert führte. Belegt ist einzig die (mutmassliche) Belastung des auf ihn lautenden Kontos. Das Rechtsverhältnis zur Beklagten liegt zurzeit ebenfalls im Dunkeln. Es ist offen, wer wann und weshalb die Überweisung veranlasste. Die Vorinstanz hätte bei dieser Ausgangslage den unbeholfenen Beschwerdeführer in Anwendung der zitierten Bundesgerichtspraxis auf die Angaben hinweisen müssen, die für eine Beurteilung des Gesuchs notwendig sind. Die Fragepflicht folgt nicht nur aus dem (eingeschränkten) Untersuchungsgrundsatz, sondern überdies aus Art. 56 ZPO. Die richterliche Fragepflicht ist auf Parteivorbringen anwendbar, die unvollständig, unklar oder widersprüchlich ausfallen. Der mangelhafte Sachvortrag beschlägt geradezu den Kernbereich der richterlichen Fragepflicht[12]. Hat eine Partei eine Tatsache "mindestens andeutungsweise behauptet"[13], lebt die Fragepflicht auf. Im zu beurteilenden Fall ist der Sachvortrag des Beschwerdeführers offensichtlich unvollständig; gänzlich unverständlich ist er hingegen nicht. Die Sachverhaltsdarstellung bleibt sozusagen schemenhaft. Das Vorbringen des Beschwerdeführers war damit mangelhaft im Sinn von Art. 56 ZPO, und die Vorinstanz hätte die richterliche Fragepflicht wahrnehmen müssen.

bb) Fraglich ist, ob die Vorinstanz die richterliche Fragepflicht einlöste, indem sie justiziable Rechtsbegehren, die Bezeichnung des Streitgegenstands und die verfügbaren Urkunden verlangte. Die richterliche Fragepflicht muss adressatengerecht ausgeübt werden. Eine Partei ist klar und bestimmt auf den Mangel ihres Vorbringens hinzuweisen; nötigenfalls muss das Gericht sogar erklären, weshalb es eine bestimmte Frage stellt[14]. Das Bezirksgericht forderte den Beschwerdeführer zwar auf, seine Klage zu verbessern; es beschränkte sich aber darauf, die abstrakten Elemente[15] einer Klageschrift anzuführen. Der rechtsunkundige Beschwerdeführer konnte aus diesem Schreiben nicht folgern, inwiefern er seinen Sachvortrag zu verbessern habe. Somit hat die Vorinstanz die richterliche Fragepflicht nicht genügend wahrgenommen.

cc) Übt das Gericht im Verfahren nach Art. 119 ZPO die richterliche Fragepflicht nicht aus, führt dieser Mangel im Beschwerdeverfahren zur Rückweisung an die Vorinstanz[16]. Eine Heilung kommt im Beschwerdeverfahren nicht in Betracht, weil nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts das Novenverbot gilt[17].

Obergericht, 1. Abteilung, 10. März 2021, ZR.2021.8


[1] Art. 132 ZPO

[2] Art. 119 Abs. 2 ZPO

[3] Art. 119 Abs. 3 ZPO

[4] BGE 138 III 218, 133 III 616

[5] Rüegg/Rüegg, Basler Kommentar, 3.A., Art. 117 ZPO N. 18 f.; BGE vom 30. Mai 2012, 5A_265/2012, Erw. 2.2

[6] BGE vom 11. Oktober 2013, 5A_313/2013, Erw. 2.2; BGE vom 24. Februar 2012, 5A_842/2011, Erw. 5.3

[7] BGE 140 III 15

[8] BGE 120 Ia 181; BGE vom 22. Januar 2016, 4A_641/2015, Erw. 3.1

[9] Art. 56 ZPO

[10] Bühler, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 119 ZPO N. 107 ff.; vgl. BGE vom 19. Dezember 2016, 5A_536/2016, Erw. 4.1.2; BGE vom 8. Juli 2013, 5A_897/2013, Erw. 3.2

[11] BGE vom 13. Dezember 2018, 5A_606/2018, Erw. 5.3; BGE vom 3. September 2018, 5A_549/2018, Erw. 4.2; BGE vom 5. März 2018, 4A_44/2018, Erw. 5.3

[12] Gehri, Basler Kommentar, 3.A., Art 56 ZPO N. 7

[13] Hurni, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 56 ZPO N. 10; im gleichen Sinn: Sutter-Somm/Grieder, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 56 N. 19; Mordasini-Rohner, Gerichtliche Fragepflicht und Untersuchungsmaxime nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Diss. Basel 2013, N. 187 ff.

[14] Hurni, Art. 56 ZPO N. 36; Sutter-Somm/Grieder, Art. 56 ZPO N. 32; Mordasini-Rohner, N. 218

[15] Im Sinn von Art. 244 ZPO

[16] Bühler, Art. 119 ZPO N. 111

[17] BGE vom 27. September 2011, 5A_405/2011, Erw. 4.5.3 (nicht publiziert in BGE 137 III 470); Rüegg/Rüegg, Art. 121 ZPO N. 1a

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